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Kühn arrangiert. Der zackige Neubau des Turner Contemporary von David Chipperfield liegt neben der alten Hafenmeisterei.

© Gordon Scammell/Loop Images/laif

Englische Küste: Eine Stadt wird umarmt

Margate, im Südosten Englands, war ziemlich heruntergekommen. Nun ist das einst langweilige Seebad trendy. Große Kunst ist angekommen.

Das Museum leuchtet. Wie ein moderner Riesenschuppen (besser gesagt: drei) steht es an der Mole, zur Stadt hin verschlossen, offen zum Meer, von innen wie erleuchtet. „Curiosity“ – Neugier, Kuriosität –, so heißt die große Ausstellung, die im Moment im Turner Contemporary zu sehen ist. Wie in den alten Wunderkammern begegnen sich hier Kunst und Wissenschaft, Neu und Alt – Zeichnungen von William Turner und ein prall gestopftes altes Walross. Eine von Kritikern zu Recht gefeierte Schau, die den Besucher staunen lehrt.

So wie das Museum selbst und die kleine Stadt, in der es steht. Im April 2011 wurde der Bau von David Chipperfield mit der wunderbaren Anschrift „Rendezvous“ eröffnet, der auf die Initiative und Hartnäckigkeit eines Bürgers zurückgeht. Seitdem kamen mehr als eine Million Besucher – und bescherten dem Seebad eine Renaissance. Den „Bilbao-Effekt“ könnte man das nennen. Aber Museumsdirektorin Victoria Pomery, die ihr Amt Jahre, bevor es überhaupt ein Gebäude gab, antrat, um das Konzept mit den Bewohnern gemeinsam zu entwickeln, verweist lieber auf das Tate St. Ives in Cornwall als Vorbild.

Margate ist in. Der Reiseführer „Rough Guide“ hat den Urlaubsort am östlichsten Zipfel Englands zu einem der Ziele gekürt, die man 2013 unbedingt besuchen sollte. Vor kurzem noch der Inbegriff des altmodischen englischen Strandbads, mit seinen sonnenverbrannten Bleichgesichtern, tropfendem Softeis, Spielhallen und Eselsreiten, verstaubt, verwahrlost, ja, gefährlich, strömen die jungen Hauptstädter jetzt nach Kent, um die wechselnden Ausstellungen im Turner Contemporary zu besuchen (das keine eigene Sammlung hat), shoppen zu gehen, im preisgekrönten „Ambrette“ moderne indische Küche und überhaupt: das Leben zu genießen.

Acht Stunden brauchte William Turner noch von London nach Margate, mit dem Dampfer über die Themse. Das hat den Künstler nicht geschreckt; seit er mit elf das erste Mal zu Besuch kam, kehrte er regelmäßig zurück. Weil er das Licht so unvergleichlich fand. Schönere Himmel, so schwärmte der Maler, finde man in ganz Europa nicht. Seine Pensionswirtin hat er wohl auch sehr gemocht.

Heute setzt sich der Großstädter in St. Pancras in den Zug – und schwimmt anderthalb Stunden später im Meer, das gleich gegenüber vom Bahnhof liegt. Das lohnt sich schon für einen Tagesausflug.

Die Stadt im freien Fall in den Abgrund

„Just a Kiss Away“, so steht es auf dem Margate-T-Shirt, das man im Museumsshop kaufen kann, in der Handschrift von Tracey Emin. Das Bad Girl der britischen Kunstszene, berühmt für ihre freizügig-provozierenden Arbeiten – noch heute zeichnet sich die 50-Jährige gern liegend, mit gespreizten Beinen –, ist so etwas wie die Schutzheilige von Margate geworden, die bekannteste Botschafterin und Lobbyistin. In der Stadt begegnet man ihr auf Schritt und Tritt, im Souvenirshop, im Museum, durch das sie sogar die Queen führen durfte, im Hotel.

„I Never Stopped Loving You“, versicherte Tracey Emin mit rosa Neonschrift auf der alten Hafenmeisterei, dem heutigen Fremdenverkehrsamt. Dabei hätte die Künstlerin einigen Grund zum Liebesentzug gehabt. Emin wuchs hier auf, zu einer Zeit, als sich die Stadt im freien Fall in den Abgrund befand. Seit den 60er Jahren flogen die Briten lieber ans Mittelmeer, da war es billiger, sonniger und exotischer als daheim. Ein Hotel nach dem anderen machte dicht, darunter auch das von Emins Vaters.

In die Pensionen zogen Flüchtlinge ein, die viktorianischen Reihenhäuser wurden reihenweise zugenagelt oder in Sozialwohnungen umgewandelt. Den Pier, schon vorher marode, zerstörte in den 70er Jahren ein Sturm, „Dreamland“, der historische Vergnügungspark, verfiel, Drogen und Kriminalität nahmen zu. Mit 13 wurde Emin vergewaltigt, sie ließ selber nichts aus und die Schule Schule sein, floh nach London, studierte Kunst – und kehrte als Star regelmäßig in die Heimat zurück, an der ihr Herz hängt. „Strangeland“ hat Emin ihr poetisch-brutales Buch über ihre raue Margate-Jugend genannt, die sie zu dem gemacht hat, was sie ist.

Noch immer ist die Arbeitslosigkeit in Margate höher, der Bildungsgrad niedriger als im Landesdurchschnitt. Dafür sind die Immobilien, das Leben überhaupt bedeutend günstiger. Das lockt junge Familien und viele Kreative sowie Touristen an. Inzwischen liegen schäbig und schick nah beieinander. Hier die coole neue Pizzeria, dort das verrammelte Woolworth. Hier der hübsche Marktplatz im Altstädtchen, wo bei Sonnenschein alle Tische vor den Cafés besetzt sind, Galerien, Trödelläden, in denen man echte Entdeckungen machen kann, Vintage-Boutiquen – dort triste Ecken, das Hochhaus im Stil des New Brutalism, an dem man auf dem Fußweg vom Bahnhof ins Städtchen vorbeikommt, leer stehende Läden, finstere Gestalten.

Seit Sommer ist Margate um eine neue Attraktion reicher

Tracey Emin mit Elizabeth II.
Tracey Emin mit Elizabeth II.

© Suzanne Plunkett, Reuters

Das sollte Besucher nicht schrecken. Denn wer braucht Marbella, wenn er auf der Terrasse des Sands Hotels sitzt, bei konfiertem Rote-Bete-Salat, Wolfsbarsch mit Safrankartoffeln, Canterbury Cobble-Käse und einem kühlen Sauvignon Blanc der Sonne beim Untergehen zuguckt und dem Leuchtturm beim Blinken. Hier sitzt der Gast in der ersten Reihe (und im ersten Stock), die Bucht mit dem feinen Sandstrand liegt gleich auf der anderen Straßenseite. Sagenhafte 20 Jahre lang stand das alte Haus in der 1a-Lage leer, bis sich zwei Hotelmanager aus Kent des Gebäudes annahmen und vor ein paar Monaten das erste Designhotel der Stadt eröffneten, mit Bar, Restaurant und eigener Eisdiele.

So schick die Einrichtung ist, die Preise sind zivil, und auch wer sich kein Zimmer mit Balkon und Meerblick leisten kann oder will, ist willkommen. Der Zwei-Gänge-Lunch kostet 15 Pfund. In London würde man mindestens das Doppelte zahlen. Nebenan hat ein weiteres neues Lokal eröffnet, im Haus daneben wird noch renoviert: Dort zieht ein Tanzcafé ein.

Seit diesem Sommer ist Margate noch um eine weitere eine neue Attraktion reicher, an eben dieser Bucht, an der Museum, Hotel und Altstadt liegen: ein Deich gegen die Flut, in Form von flachen Stufen. Tagsüber sitzen hier Einheimische in der Mittagspause, ohne sich die Füße nass und sandig zu machen, nachmittags schlecken Touristen ihr Eis, abends vergnügen sich spanische Sprachschüler, verbringen Paare einen romantischen Abend.

Zoe Murphy gehört zu denen, die gern dort hocken und aufs Meer schauen. Wenn sie nicht gerade arbeitet, was sie ziemlich intensiv tut. Die Designerin ist schwer gefragt. Eine Generation jünger als Tracey Emin, ist die knapp 30-Jährige ebenfalls in Margate aufgewachsen, als Lehrerstochter etwas behüteter, aber auch sie wollte als Jugendliche nur eins: weg. „Es gab keine Arbeit, keine Kreativität.“ Doch während des Studiums merkte sie, wie sehr ihre ruppige Heimatstadt sie geprägt hat. Und dass es nicht schlecht ist, an einem Ort zu leben, wo das Meer immer rauscht und die Möwen kreischen.

So entdeckte sie ihre Liebe neu. Und die heruntergekommene Stadt, sagt die lebhafte Murphy, konnte Liebe gut gebrauchen. „Margate“, so nannte sie ihre Kommoden, die es nicht nur in der Margate Gallery zu kaufen gibt, in der man die herrlichsten Designer- und Kunsthandwerker-Andenken findet, von der Postkarte bis zur Handtasche, sondern auch im Londoner Edelkaufhaus Liberty. Es sind Kommoden wie die Stadt: von ihren früheren Eigentümern verstoßen, jetzt recycelt und neu belebt, mit frischen Farben und Margate-Straßenzügen bedruckt.

Oldtimertreffen und Creamtea

Inzwischen hat Murphy auch einen fröhlichen Stadtplan für Postkarten gemalt. Und hat viele neue Freunde. Die meisten kreativen Neuankömmlinge lassen sich allerdings nicht wie sie im Zentrum nieder, sondern in Cliftonville, dem einst mondänen Viertel auf einem Hügel, in dem früher die wohlhabenden Gäste logierten, das dann besonders tief stürzte.

Eins der wenigen großen alten Hotels, das es hier noch, das heißt wieder gibt, ist das Walpole Bay Hotel an der Fifth Avenue (!), das im kommenden Jahr 100 wird. Inhaberin Jane Bishop und ihre Familie pflegen das nostalgische Flair, mit Oldtimertreffen, Creamteas, der Fahrt im historischen Aufzug und einer Art Heimatmuseum, das sie auf einem Stockwerk mit Spenden von Anwohnern eingerichtet hat. Auch Tracey Emin ist Stammgast, hat hier seit den 90er Jahren etliche Geburtstage gefeiert.

Margate hat viele Anhänger. Jane Bishop gehört ebenso dazu wie die ehrenamtlichen Mitarbeiter im Heimatmuseen, die nur darauf warten, dem Besucher etwas über ihre Stadt erzählen zu können. Nachdem das Turner Contemporary, in dem der Eintritt übrigens frei ist, Wirklichkeit wurde, hoffen viele Bewohner, dass noch ein anderer Traum in Erfüllung geht, und „Dreamland“ als historischer Vergnügungspark wieder aufersteht. Die Chancen stehen nicht schlecht.

Schon wird Margate als das „neue Brighton“ gefeiert, was ein Versprechen, gleichzeitig auch eine Drohung ist. Denn Brighton ist schick und teuer geworden. Der Charme Margates liegt jedoch gerade im Noch-nicht-so-Geleckten, darin, dass Alt und Neu, wie in den Ausstellungen des Turner Contemporary, ko-existieren, noch Raum ist für Improvisation. So wie im „Tom Thumb“ in Cliftonville, einem daumengroßen Theater mit spannendem Programm und einer kleinen Bar, hinter der die Künstler, die das Haus mit Hilfe ihrer Familie betreiben, die Drinks mixen. Wer alten und neuen Margatern begegnen will: This is the place to go.

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