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Besondere Schafe, hügelige Landschaft, ansehnliche Dörfchen – die Rhön. Jahrzehntelang Zonenrandgebiet, für eine Entdeckung wird’s Zeit.

© Markus Kirchgessner/laif

Bildungsakademie in Thüringen: Alle Freiheit zum Denken

In Geisa, wo einst die deutsch-deutsche Grenze verlief, wird nun über Europa und die Welt debattiert. "Freiheit und Sicherheit im 21. Jahrhundert", lautet das Leitmotiv der Bildungsstätte.

Der ältere Mann, vorbildlich in die klassisch ärmellose grau-beige Rentnerweste unter der winddichten Jacke gekleidet, führt seinen Retriever durch den Schlossgarten von Geisa. Herrchen nestelt schließlich am Karabinerhaken der Leine, währenddessen blickt das Tier so hündisch wie demütig zu ihm hoch. Die Leine löst sich, in gewaltigen Sätzen hetzt der Retriever in die Freiheit.

Mann und Hund wären nicht weiter erwähnenswert, wenn sie an diesem Vormittag draußen nicht praktisch illustrierten, was hier drinnen theoretisch ausgebreitet wird – dass Freiheit und Sicherheit sich irgendwie dialektisch bedingen, philosophisch betrachtet, metaphysisch überhöht, historisch hinterfragt undsoweiterundsofort. Dabei ist es ganz einfach: Freiheit ist, wenn sich eine Kreatur, endlich von der Leine gelassen, glücklich auf den eigenen Weg macht.

Erfahrungen dieser Art macht, wer sich ins westthüringische Städtchen Geisa, ins Grenzland der thüringisch-hessisch-bayerischen Rhön begibt. Dort ist seit wenigen Wochen ein schickes Seminarzentrum in Betrieb, die „Point-Alpha-Akademie“. Das Thema dieser Tage könnte zugleich das Leitmotiv der Akademie sein: „Freiheit und Sicherheit im 21. Jahrhundert“. Die nagelneue Bildungsstätte, betrieben vom Land Thüringen, will Lehrer, Schüler und sonstige Zeitgenossen zum Nachdenken anspornen, vorzugsweise über deutsch-deutsche Zeitgeschichte, über europäische, transatlantische und globale Sicherheit.

Dafür ist das Bildungszentrum aus unterschiedlichen Gründen prima geeignet. Erstens ist es über dem hübschen und superkatholischen Städtchen Geisa und in einem ehemaligen Jagdschloss der Fuldaer Fürstbischöfe untergebracht, das restauriert wurde und heute Übernachtungsgäste auf Adlon-Niveau zu Ibis-Preisen beherbergt, allerdings mit Vollpension auf dem Level einer Jugendherberge.

Zweitens liegt die Bildungsstätte inmitten der Rhön, umzingelt von bewaldeten Kuppen, die eigenartig unvermittelt aus der Ebene aufragen, ein bisschen an eine grüngesättigte Vulkanlandschaft erinnern und der Region den Namen „Kuppenrhön“ eingebracht haben. Die wirkt nach wie vor ein wenig verwunschen und touristisch rätselhaft, weil sie zugleich mitten in Deutschland liegt und dennoch ziemlich abgelegen ist.

Das wiederum, drittens, hat mit der jungen Vergangenheit dieser Landschaft zu tun, die 45 Jahre lang von der Zonengrenze durchschnitten war, Leben kostete, Schicksale besiegelte, Freiheit raubte, jenseits der Grenze Sperr- und diesseits Zonenrandgebiet war. Diese grenzlastige Gebietsvergangenheit wirkt bis heute nach und kann besonders gut rund um das „Haus an der Grenze“ und im Point Alpha besichtigt werden.

Vom Observationspunkt zur Bildungsstätte - über die Entwicklung des Zonengebiets.

Was Point Alpha war, weiß jeder amerikanische GI herunterzubeten, der zu Zeiten des Kalten Krieges im 11. Armored Cavalry Regiment diente. Dieser US-Militärverband verantwortete den „Observation Point Alpha“, eines der Gucklöcher der westlichen Welt durch den Eisernen Vorhang und zugleich grimmiger Vorposten im sogenannten Fulda Gap, durch die ein sowjetischer Einmarsch befürchtet wurde.

Zum Alltag der Amis in der Fuldalücke gehörte der Einsatz auf dem Beobachtungsturm unmittelbar vor und über den letzten DDR-Grenzbefestigungen. Nicht viel weiter entfernt als ein Kaugummispuck stand gegenüber der Beobachtungsturm der DDR-Grenztruppe. Tagein, tagaus richteten sich entspiegelte Ferngläser gegen entspiegelte Ferngläser – bis der Warschauer Pakt Geschichte war und aus dem „Observation Point Alpha“ eine Museumsanlage wurde, in der man sich heute für vier Euro Eintritt gruseln kann. Am Original-DDR-Streckmetallzaun nebenan, so gut wie rostfrei, darf kostenfrei gerüttelt werden.

Ein Spazierweg am „Grünen Band“ entlang der ehemaligen Demarkationslinie ist heute der Kolonnenweg unmittelbar vor dem Todesstreifen, über den einst die DDR-Grenztruppen patrouillierten. Besonders dann, wenn sich die Piste über kleine Kuppen oder Anhöhen windet, ist der Beton fest und stabil – die Trabbis der Grenzer wären sonst nach einem Regenguss im Morast stecken geblieben.

In Senken hingegen oder dort, wo Ländereien zusammengewachsen sind, kann man nur noch Reste dieser Befestigung ausmachen, die für Wanderer tückisch sein können, wenn ihre Schnürschuhe in den Aussparungen stecken bleiben.

Wenn der Beton nicht wäre, würde nur noch wenig an die Grenze erinnern – hier und da verwittern Überreste eines Abrisses am Wegesrand, gelegentlich gammelt eine verrostete Apparatur vor sich hin. Sie gehörte vermutlich zu Licht- oder Signalanlagen des Grenzregimes, das freies und beleuchtetes Schussfeld brauchte, um Flüchtlinge abschießen zu können. Nur noch selten trifft man unterwegs auf unscheinbare Fundamentreste, über die Zeitzeugen aus den benachbarten Dörfern bewegt erzählen: „Geschleifte Höfe“ seien dort gewesen, in dieser Region allein 30 landwirtschaftliche Anlagen, die komplett abgerissen, deren Bewohner enteignet und ins DDR-Landesinnere deportiert wurden.

Die „geschleiften Höfe“ mussten auch Beobachtungstürmen Platz machen, die im ostzonalen Militärjargon Führungsstelle (Füst) hießen und auf die der Wanderer alle 30 oder 40 Kilometer trifft. Einige dieser grotesken Bauwerke, etwa der Beobachtungsturm nahe Setzelbach, sind zu Eulentürmen geworden. Zu fressen haben die Käuze reichlich: Neben ein paar Hasen huschen unentwegt Feldmäuse über den Betonweg an der Führungsstelle.

Im Schatten der Füst kosten ein paar Rinder die Freiheit. Irgendwie sind sie über den Weidezaun gekommen, trotten jetzt auf dem Kolonnenweg hin und her oder staksen sicherheitssuchend auf den gleichermaßen ratlosen Wanderer zu, der lieber das Weite in Richtung Fulda sucht.

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