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Mit Zeugungskraft. Hengst Quaterback ist der Vater vieler Fohlen weltweit und Superstar des Gestüts.

© Schulte Doeinghaus

Brandenburg: Ein Wallach trabt voraus

350 Pferde leben auf dem Haupt- und Landgestüt in Neustadt an der Dosse. Besucher können die Tiere in Stallungen und auf Koppeln bewundern.

So könnte eine Zeitreise in die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnen. Herbstliche Kremserfahrt. Vor uns, auf halbem Weg zum Horizont, schwankt leicht die Silhouette einer Gutsanlage; die Kutsche folgt dem Trab der beiden schwarzen Friesenpferde und dem Rhythmus ihrer Hufe, die über das Kopfsteinpflaster klappern. Es ist kühl geworden in der Lindenallee. Wir sind in Plaids gewickelt, während wir über die Latifundien des Gestüts kutschiert werden.

Ab und zu dreht sich Wolfgang Zoch, der Kutscher und Gestütswärter, zu uns um, schaut nach dem Rechten, beantwortet Fragen. Mit seiner handhoch aufragenden, blauroten Schirmmütze, die ein Pferdesymbol und ein Hoheitsabzeichen schmücken, mit seinem militärisch gestutzten Schnurrbart und den lustigen Augen könnte er Engelke sein, der Hausmeier, Kutscher und Kalfaktor in Theodor Fontanes „Stechlin“.

Aber die Graffiti am Baucontainer vor dem eingerüsteten Wirtschaftsgebäude erinnern uns daran, dass wir nicht mit einer märkischen Adelsgesellschaft auf Zeitreise sind, sondern mit der Geschäftsführerin Regine Ebert, der Marketingfrau Antoinette Flemming und eben dem Gestütswärter Zoch auf einer sehr gegenwärtigen Erkundungsfahrt, und zwar durch das Brandenburgische Haupt- und Landgestüt in Neustadt (Dosse). Dort in der Graf- von-Lindenau-Halle, öffnet sich am 15. November wieder das „Schaufenster der Besten“ (Graf von Lindenau war Reisestallmeister von Friedrich Wilhelm II. und wurde 1786 vom König zum Leiter der Gestütsverwaltung ernannt). Nach Auswahl („Körung“) und Auktion hochwertiger Hengste wird es unter dem Hallendach spektakuläre Shows und Präsentationen rund um Pferdezucht und -sport geben.

An solchen Tagen ist der Auftrieb beträchtlich. Hunderte Pferdenarren nutzen den Besuch des Spektakels für ein paar Seitenblicke in die Stallungen und auf die Koppeln des Haupt- und Landgestüts, das sich als eines der größten seiner Art in ganz Europa rühmt. Dafür spricht einiges: Es breitet sich mit Wirtschaftsgebäuden, Stallungen, Äckern und Koppeln auf 450 Hektar aus, ist damit ungefähr so groß wie der Englische Garten in München – und ebenso zugänglich.

Gestütsleiterin Regine Ebert.
Gestütsleiterin Regine Ebert.

© Schulte Döinghaus

Denn im Haupt- und Landgestüt, immerhin eine hoheitliche Einrichtung des Landes Brandenburg, ist ständig „Tag des offenen Stalls“. „Hier leben 350 Pferde, und unsere Besucher sind herzlich eingeladen, sie in ihrer natürlichen Umgebung kennenzulernen“, sagt die amtierende Chefin des Gestüts, Regine Ebert. Die Offenheit hat Tradition, wie der Reiseschriftsteller Charles James Apperley 1829 im englischen „Sporting Magazine“ belegte: „Für jeden, der Pferde liebt, ist die Besichtigung eines solchen Gestüts ein hoher Genuss.“

Das Tagesprogramm kann sich jeder selbst organisieren

Besucher können eine Kremserfahrt buchen.
Besucher können eine Kremserfahrt buchen.

© Schulte Doeinghaus

Über eine weitläufige Koppel folgt ein halbes Dutzend junger Hengste unserer Kutsche – es sind sogenannte Jährlinge, wie die einjährigen Pferde auf Hippologisch heißen. Vor der Umzäunung der weitläufigen Weide biegen sie ab; das nächste Feld ist ein umgepflügtes Haferfeld, auf dem sich Scharen von Wildgänsen niedergelassen haben. Sie sind gut getarnt und völlig still, das erwartete Geschnatter bleibt aus.

Auf einer der Koppeln weiden Wallache, die ansonsten vor die Kremser gespannt werden und Besucher durch das Gestütsareal ziehen. Rund jeder fünfte Euro, den die Anlage einnimmt, kommt aus den Portemonnaies der Touristen, sagt Regine Ebert – mit zunehmender Tendenz, wie sie hofft. Besucher können hier ganze Tage verbringen, angefangen von früh um sechs bei den Fütterungen über den Trainings- und Lehrbetrieb auf den Weiden und in den Voltigieranlagen, bis spätnachmittags, wenn die Tiere in den Ställen zur Ruhe kommen.

Das Tagesprogramm kann sich jeder nach Geschmack selbst organisieren. „Alle, die im Gestüt arbeiten, lassen sich gerne über die Schulter gucken“, sagt Antoinette Flemming. Wer will, darf den Labormitarbeitern ebenso zuschauen wie den Gestütswärtern, die die Tiere versorgen und an Kutschen und Kandarren hantieren oder dem Hufschmied, der mit seiner Arbeit dafür sorgt, dass in einen typischen Stallgeruch sich nicht nur Heu, Hafer und Pferdemist mischen, sondern auch beißender Qualm, der in die Nase sticht.

Selbst beim Schulunterricht dürfen Besucher kibitzen. Die Schülerinnen und Schüler der benachbarten Prinz-von- Homburg-Gesamtschule können Reiten als reguläres und versetzungsrelevantes Unterrichtsfach belegen – und „pauken“ dafür auf dem Reitplatz vor der T-Halle. Diese moderne Halle hat zwei Reitflächen; integriert ist ein spiegelbewehrtes „gläsernes Klassenzimmer“, in dem das Fach „Reiten“ theoretisch und praktisch unterrichtet wird. Besucher, die Mäuschen spielen, stören nicht weiter. Trab, Galopp, Dressur und Sprung brauchen die ganze Konzentration bei Pferd und jungen Reitern. Man will schließlich nicht sitzen bleiben.

Wer die T-Halle rechts liegen lässt, kommt über eine dieser fast allgegenwärtigen Lindenalleen auf eine einzigartige Einrichtung namens „Gestütsfriedhof“ zu. Überragt von einem steinernen Grabkreuz, das an einen längst verstorbenen Landstallmeister erinnert, sind hier Ruhestätten von Gestütsbediensteten und ihrer Familien. Da und dort weisen Berufsbezeichnungen und Pferdemotive darauf hin, dass hier ein Privileg kultiviert wird, ein exklusiver Friedhof.

Pferdenarren können sich die Absamung ansehen

Das weitläufige Gelände nebst Gutshaus in verträumter Natur kann man auch zu Fuß entdecken.
Das weitläufige Gelände nebst Gutshaus in verträumter Natur kann man auch zu Fuß entdecken.

© Gabriele Boiselle

Ein schnurgerader Weg verbindet auf etwa einem Kilometer Haupt- und Landgestüt miteinander, gesäumt von Linden, deren Laub herbstmatt zu Boden weht. In den Gebäuden des sogenannten Landgestüts sind Ställe, Schulungs- und Trainingshallen sowie die Lindenau-Halle, an die der moderne Paradeplatz grenzt. Zum Hauptgestüt, das vom Türmchen des historischen Landstallmeisterhauses überragt wird, gehören Hengst- und Stutenställe, Reithallen, eine Hengstprüfungsanstalt, ein wissenschaftliches „Zentrum für Pferdeausbildung und Reproduktion“ und die Besamungsstation.

Besonders die Zeugungskraft des neunjährigen Hengstes „Quaterback", dem von Amts wegen ein „r“ im Namen fehlt, sorgt für gute Umsätze. Der Star des Gestüts garantiert bis zu 500 Absamungen pro Jahr, die bis zu 1500 Euro bringen, für die er ein Phantom bespringt und Sperma liefert, das in allen Teilen der Welt rossigen Stuten appliziert wird.

Wie begehrt der Stoff ist, aus dem die Züchterträume sind, weiß Rolf Garbe, der als Leiter der Station die telefonischen Bestellungen entgegennimmt und nach Deutschland und Europa (per Frischkurier) sowie nach Übersee (tiefgefroren) liefern lässt. Für Pferdenarren, die sich die Absamung ansehen wollen, ist ein Zuschauerbereich mit Schaufenster eingerichtet. Nur junge und unerfahrene Deckhengste, sagt die Tierärztin, lassen sich von den Neugierigen irritieren.

Wir klettern zurück in den Kremser. Antoinette Flemming, gelernte Biologin, schwärmt von der Gegend, von Waschbären, Bibern, Kranichen, Wildgänsen und vom schier unverbauten Naturerleben, sei es zu Fuß oder zu Pferde.

Der Kutscher schnalzt ein bisschen, spricht zu den beiden hübschen Friesen-Wallachen, die uns über Sandwege und alte Kopfsteine ziehen. Im Rhythmus ihres Trabens schwanken die Spitzen der Linden; ab und zu wirbelt Herbstlaub auf. Wieder könnte man sich in eine Zeitreise ins 19. Jahrhundert träumen – Fontane, Stechlin, Engelke –, wenn uns da nicht jener Reiter begegnete, der sein Pferd zu einer scharfen Gangart ermuntert, dabei ein Handy am Ohr hält und sich für „übermorgen, um diese Zeit“ verabredet.

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