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Chemnitzer Maschinenfabriken. Ernst Ludwig Kirchner malte das Bild 1926.

© akg-images

Chemnitz: Ich wünsch mir einen Campanile

Chemnitz, im II. Weltkrieg fast komplett zerstört, hat sich viel Industriekultur bewahrt. Und: Es wird fleißig weiter restauriert.

Tatsächlich, er steht noch. Auch wenn Karl-Marx-Stadt schon seit Juni 1990 wieder Chemnitz heißt: Der Riesenkopf des Philosophen ist auf seinem Platz. 7,10 Meter hoch thront er auf einem stattlichen Sockel. „Es ist die zweitgrößte Porträtbüste der Welt“, sagt Stadtführerin Veronika Leonhardt. Nur Lenin im sibirischen Ulan überragt Marx’ Schädel noch um 60 Zentimeter. Ihren Protagonisten der Arbeiterbewegung rücken die Chemnitzer nicht raus. Auch nicht für eine überschaubare Zeit. Diverse Anfragen von Firmen hätte es gegeben, die mit dem Kopf irgendwo in der Welt Werbung machen wollten.

Die Chemnitzer sind standhaft geblieben. Hinter dem Monument, am scheußlich langen Riegel des einstigen „Rat des Bezirks“, prangen die Worte aus dem Kommunistischen Manifest „Proletarier aller Länder vereinigt euch“ – in fünf Sprachen. Da kann er wirklich nicht weg.

Als Marx 1971 an der Straße der Nationen aufgestellt wurde, besaß die Stadt noch viele Freiflächen. Im Februar und März 1945 war die Innenstadt im Bombenhagel versunken. 80 Prozent der Gebäude wurden zerstört, 15 Prozent der noch vorhandenen Bausubstanz dann zu DDR-Zeiten abgerissen.

Das sächsische Manchester

Karl-Marx-Stadt, wie Chemnitz seit 1953 hieß, sollte zu einer Musterstadt der DDR werden. Mit breiten Schneisen und Riesenplätzen für Aufmärsche und Versammlungen, mit neuen Wohnsiedlungen am Rand. In den 60er, 70er Jahren entstand so das „Fritz-Heckert-Gebiet“, Plattenbauten für 90 000 Mieter. Heute leben nur noch rund 35 000 Menschen dort. Manche der Hochhäuser wurden inzwischen abgerissen, einige zurückgebaut. Interessant sei die Anlage in jedem Fall, sagt Veronika Leonhardt. „Wir bieten inzwischen sogar Führungen dort an.“

Aber wer findet Zeit dafür beim ersten Chemnitz-Besuch? Das Zentrum birgt ja jede Menge Überraschungen. Wie ein offenes Geschichtsbuch präsentiert sich die Stadt, mit zahlreichen alten Gebäuden, manche noch marode, andere akribisch restauriert, mit eigenwilliger DDR-Architektur und fragwürdigen Ensembles aus der Nachwendezeit.

Zunächst braucht man viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie Chemnitz einmal ausgesehen hat. Veronika Leonhardt führt in eine schmale Gasse hinter das Alte Rathaus aus dem 15. Jahrhundert. „Hier ist die einzige Stelle, wo noch so etwas wie Mittelalter zu spüren ist“, sagt sie. Erheblich mehr ist geblieben von jener Epoche, die „das sächsische Manchester“ nachhaltig prägen sollte.

Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich die Stadt zum führenden Industriestandort. 1798 eröffnete die erste mechanische Baumwollspinnerei, Maschinenbaubetriebe folgten, Gießereien, Kettelmaschinenfabriken, Strumpfwirkereien. „Die Welt lief auf Chemnitzer Strümpfen“, sagt Veronika Leonhardt. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gab es keine reichere Stadt in Deutschland.

Größer geht's kaum. Karl-Marx-Denkmal in Chemnitz.
Größer geht's kaum. Karl-Marx-Denkmal in Chemnitz.

© Hella Kaiser

Etliche Fabriken wurden restauriert

Die prächtig verdienenden Unternehmer bauten sich schöne Villen auf dem Kaßberg – heute als größtes Gründerzeit- und Jugendstilviertel Europas gepriesen – , aber sie schmückten auch ihre Fabriken. Die Eigentümer der ehemaligen Strumpfmaschinenfabrik Schubert & Salzer ließen sich 1927 nicht nur einen simplen Uhrenturm am Werksgelände errichten. Sie wünschten – und bekamen einen Campanile im Art-Deco-Stil. Noch heute ist sie weithin sichtbares Wahrzeichen von Chemnitz.

Etliche Fabriken wurden in jüngster Zeit aufwendig restauriert und bieten Platz für lichtdurchflutete Büros, schicke Lofts, Wohnungen und Lokale. In ein einstiges Batteriewerk ist eine Jugendherberge eingezogen, cooler kann man nicht logieren. Eine alte Fahrzeuglampenfabrik steht leer und bröckelt, wie die Union-Werke, vor sich hin.

Dass das solide Backsteingebäude einer Gießerei von 1895 – bis 1982 von der Autoindustrie genutzt – noch existiert, ist fast ein Wunder. Fort mit dem alten Zeug, wünschten vor allem westdeutsche Investoren. Die für das Jahr 2000 vorgesehene Sprengung konnte beinahe in letzter Minute verhindert werden. 2003 zog das Sächsische Industriemuseum in den Gebäudekomplex. Nach langer Renovierung ist es nun wieder geöffnet. Hingehen!

Die Stuttgarter sind neidisch auf das Schocken Kaufhaus

Nach der Wende wuchsen neue Bauten im Zentrum, wenige sind gelungen.
Nach der Wende wuchsen neue Bauten im Zentrum, wenige sind gelungen.

© Hella Kaiser

Das Kaufhaus Tietz, 1912/13 mit drei Lichthöfen erbaut, wurde im Zweiten Weltkrieg zur Ruine. Zu DDR-Zeiten wurde der Bau in Teilen rekonstruiert und bis zur Wende als „Centrum Warenhaus“ genutzt. Heute dient es als sogenanntes Kulturkaufhaus und bietet nicht nur Galerien, sondern auch dem Museum für Naturkunde Platz.

Vor der Wende strömten Bürger aus dem weiten Umkreis zum Einkaufen nach Chemnitz. Denn es gab nicht nur das Tietz, sondern auch das Kaufhaus Schocken, 1930 entworfen von Erich Mendelsohn. „Manchmal stehen Besucher aus Stuttgart ein wenig neidisch davor“, erzählt Veronika Leonhardt. Die Stadt in Baden-Württemberg hatte auch ein Schocken Kaufhaus. Es wurde 1960, internationalen Protesten zum Trotz, abgerissen. In Chemnitz entschied man sich für die behutsame Restaurierung des schwungvollen Baus mit den grandiosen Fensterbändern. Heute beherbergt das Schocken das Staatliche Museum für Archäologie. „Besuchen Sie es in jedem Fall, allein wegen der Innenarchitektur“, rät Veronika Leonhardt.

Eher erschütternd ist, was sich zentral rund um den Neumarkt getan hat. Lediglich das von Hans Kollhoff geplante und im Jahre 2000 eröffnete Einkaufscenter „Galerie Roter Turm“ ist gelungen. Aus 100 000 gelblichen Terracotta-Ziegeln mit Bögen, Zinnen und Arkaden errichtet, nimmt das Gebäude einen spannenden Dialog mit dem gegenüberstehenden Neuen Rathaus (von 1911) auf. Doch wenige Jahre später entstanden in unmittelbarer Nähe die Galeria Kaufhof aus Stahl und Glas sowie der wellenförmige Glasbau des Peek & Cloppenburg-Kaufhauses. Aufdringliche Neo-Moderne, die schmerzt.

Das Schwimmbad im Bauhausstil, errichtet 1935, ist noch heute in Betrieb.
Das Schwimmbad im Bauhausstil, errichtet 1935, ist noch heute in Betrieb.

© Berkholz

Erst schwimmen, dann essen gehen

Der Tourist flieht zur Kunst. Und muss jetzt viel Zeit mitbringen. Die Kunstsammlungen Chemnitz besitzen 70 000 Objekte, darunter viele Werke der klassischen Moderne. Karl Schmidt-Rottluff – er nannte sich nach seinem Geburtsort Rottluff, heute ein Ortsteil von Chemnitz – hatte die erste Ausstellung 1909 noch miteröffnet. Heute kann das Museum auch Ernst Ludwig Kirchners Werk „Chemnitzer Fabriken“ (1926) zeigen, eine Dauerleihgabe der Deutschen Bank. Zu den Kunstsammlungen gehört seit einigen Jahren auch das Museum Gunzenhauser. Untergekommen ist es in einem restaurierten Bankgebäude. Allein 290 Werke von Otto Dix gehören zum Bestand.

Wer nicht nur etwas für die Sinne, sondern auch für den Körper tun möchte, muss (!) in Chemnitz schwimmen gehen. Das Bad im Bauhausstil ist ein Juwel. 1927 war der Bau begonnen worden, konnte wegen der Weltwirtschaftskrise allerdings erst 1935 eröffnen. Zwei Schwimmbecken, eins mit einer 50-Meter-Bahn, befinden sich unter Kassettendecken aus Milchglas. Das Bad wurde zu DDR-Zeiten das erste Mal renoviert und dann noch einmal nach der Wende. Im Foyer hängt die originale Wanduhr mit zwei Schwimmern, in den großzügigen Umkleiden stehen geschwungene Bänke aus Nussbaum.

Schwimmen macht hungrig. Wo gehen wir abends essen? Noch einmal ins Janssen, so schön gelegen in der restaurierten Hase-Fabrik? Veronika Leonhardt empfiehlt alternativ das Viertel unterhalb des Schlossbergs. Ein lauschiger Pfad entlang dem Schlossteich führt zu gemütlichen Fachwerkschenken. So nah am quirligen Zentrum und doch verträumt wie in einem Dorf. Chemnitz hat viel Lebensqualität. „Früher waren die Einwohner eher skeptisch und krittelten, heute sind sie stolz auf ihre Stadt", sagt Veronika Leonhardt. Sie haben allen Grund dazu.

Tipps für Chemnitz

ANREISE

Mit dem Zug von Berlin (ICE bis Leipzig, dort umsteigen in einen Regionalexpress) dauert die Fahrt bis Chemnitz rund zweieinhalb Stunden. Eine Stunde länger ist nonstop und ab 15 Euro der Bus unterwegs (meinfernbus.de).

ÜBERNACHTEN

Modern: Biendo-Hotel, Straße der Nationen 12 (direkt im Zentrum), Telefon: 0371/27237302, Internet: biendo-hotel.de, Doppelzimmer mit Frühstück 69,90 Euro, Einzelzimmer 55 Euro.

Bauhaustil: Günneweg Hotel Chemnitzer Hof, Theaterplatz 4, Telefon: 0371/6840, Doppelzimmer mit Frühstück ab 116,85 Euro, Einzelzimmer ab 78,85 Euro

EINKEHR

Janssen, modernes Ambiente in einer restaurierten ehemaligen Strumpfwirkerei von 1894, ausgezeichnete Küche, schöne Terrassenplätze, ruhig und direkt an der Chemnitz gelegen zwischen Schlossteich und Brückenstraße, Telefonnummer: 0371/4590950, Internet: janssen-restaurant.de

Café ankh, tolle Location in restaurierter einstiger Fabrik, täglich ab 17 Uhr, sonntags ab 10 Uhr geöffnet, Schönherrstraße 8, Telefon: 0371/4586949, Internet: cafeankh.de

Beschaulich und gut speist man in den idyllischen Fachwerkhäusern, immer auch mit Terrassenplätzen am Schlossberg, etwa in der Gaststätte Kellerhaus (sächsische Küche).

SCHWIMMBAD

Mühlenstraße 27, Telefon: 0371/488 52 48

MUSEEN

Sächsisches Industriemuseum Chemnitz, Zwickauer Straße 119, Telefon: 0371/3626140, Internet: saechsisches-industriemuseum.de, geöffnet: täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr,

Kunstsammlungen Chemnitz, Museum am Theaterplatz, Museum Gunzenhauser, Falkeplatz, täglich (außer montags) geöffnet von 11 bis 18 Uhr,

Staatliches Museum für Archäologie Chemnitz, Stefan-Heym-Platz 1, Telefon: 0371/9119990, Internet: smac.sachsen.de

AUSKUNFT

Chemnitz Tourismus, Markt 1, Telefon: 0371/690680, chemnitz-tourismus.de; Start der Stadtführungen

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