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Alles bereit fürs Menü. Gehobene Küche, auch ausgezeichnet mit Sternen, Hauben oder Punkten, findet man immer häufiger in der Region.

© Bernd Wüstneck/dpa/picture-alliance

Deutschland: Kutterscholle gab’s gestern

Ehrgeizige Köche erobern Mecklenburg-Vorpommern. Eine kulinarische Tour – auch abseits der Küste.

Möglicherweise hat René Bobzin einen Nerv getroffen. Der etablierte Küchenchef, seit über einem Jahrzehnt unterwegs auf Sternekurs in den östlichen Bundesländern, ist ausgestiegen in Bansin und kocht nun in der braven „Bauernstube Morgenitz“ im Usedomer Hinterland, Fischgerichte vor allem, sehr einfach, aber mit der gleichen Sorgfalt, die er früher auf seine Gourmetteller verwendet hat. Sein Vorbild war dabei vermutlich Tillmann Hahn, der ehemalige Küchenchef im Grand Hotel Heiligendamm, der es im eigenen Gasthaus in Kühlungsborn auch längst ruhiger angehen lässt – und mit dem „Bib Gourmand“ statt des Sterns ein mindestens ebenso gutes Auskommen hat, nur eben entspannter lebt und arbeitet.

Beide stehen für einen Trend, der in ganz Deutschland spürbar ist, und sie füllen eine Lücke, die vor allem Kenner der Szene in Mecklenburg-Vorpommern immer wieder beklagen: Es gibt zwar vor allem in den Touristenhochburgen eine Reihe von Topbetrieben, die es seit Kurzem auf immerhin zehn Michelin-Sterne bringen, mehr als in jedem anderen Bundesland im Osten. Und dann gibt es eine Masse von Restaurants, die sich einfallslos mit Convenience-Produkten durchschlagen und für jeden irgendetwas auf die Karte geschrieben haben. Aber überall fehlt die handwerklich saubere, regionale Küche, die der Gast auch mal mittags ansteuert, weil sie ihm keine ellenlangen Gourmetmenüs mit teuren Weinen auferlegt – aber dennoch Besonderes bietet.

Erst sehr langsam dämmert nämlich auch die Erkenntnis, dass erfahrene Esser nicht ausgerechnet nach Mecklenburg oder an die Ostsee fahren, um dort Thunfisch-Tataki mit Soja-Marshmallow und Wasabi-Mayonnaise zu essen, wie es das auch in Singapur oder Friedrichshain gibt. Regional – das bedeutet im Kontext der modernen Küche natürlich nicht mehr, Großmutters Rezepte zu exhumieren oder immer weiter Kutterscholle mit Speck und Kartoffelsalat zu braten, sondern läuft auf eine Neubesinnung hinaus, in der Traditionen, regionale Produkte und neue kreative Techniken eine Einheit bilden sollten.

Ralf Haug vom „Freustil“ in Binz/Rügen war der erste Koch dort droben, der sich neugierig an die neue skandinavische Küche herangepirscht hat, die ja die Blaupause für die Modernisierung der norddeutschen liefern könnte. Das heißt auch, dass die traditionellen Luxusprodukte weit in den Hintergrund treten und Gemüsen und Kräutern in vielfältigen Kompositionen Platz machen. Die Jakobsmuschel vertritt mit Steak Tatar und Algen den Polarkreis, der Blumenkohl mit Liebstöckel und Trauben die deutsche Landwirtschaft. Und zum Apfelkompott gibt es Ahorneis und „falsche Rinde“.

Die Szene auf Usedom steckt fest, mehr Bewegung ist auf Rügen zu spüren

Aber diese Aufbruchsstimmung ist nur gelegentlich zu spüren. Denn fast alle anderen guten Köche bevorzugen eine persönliche Stilistik, die sich überwiegend an den bekannten Mustern der Luxusgastronomie orientiert – und die natürlich sehr gut sein kann. Die beste Küche Usedoms findet sich zweifellos bei Tom Wickboldt, dessen nach ihm selbst benanntes Restaurant im Heringsdorfer Hotel Esplanade seit Ende 2013 den Stern trägt. Er hat sich seitdem deutlich weiterentwickelt, kocht Taubenbrust mit Entenstopfleber auf Thymianbiskuit, marinierte Gelbschwanzmakrele mit Bergpfeffer und Avocado oder Kalb mit Wachtelei in drei Variationen, darunter eine mit Blätterteig überbackene Consommé wie einst bei Bocuse. So etwas könnte zwar überall auf der Welt entstehen, aber so groß ist die Zahl der Alternativen ja nicht, dass wir uns daran stoßen sollten.

Die Szene auf Usedom steckt allerdings seit Jahren fest. Mehr Bewegung ist auf Rügen zu spüren, denn der frische Michelin-Stern für Oliver Pfahler in Rugards Strandhotel in Binz hat ein wenig Aufbruchsstimmung gebracht – es ist hier eben anscheinend doch möglich, in bestehenden Hotels erstklassige Gastronomie zu etablieren. Pfahler serviert im frisch überarbeiteten „Rugards Gourmet“ nun Langustinen mit Artischocken und Pinienkernen oder Jakobsmuscheln mit Kalbskopf und Wachtelei oder Perlhuhn mit Mais und fermentiertem Knoblauch – eine moderne, relativ puristische, aber regional nicht ortbare Stilistik.

Die Küche pendelt gekonnt zwischen Ost- und Südsee

Eine traditioneller orientierte, bodenständigere Küche pflegt Axel Diembeck im stilvollen Gutshaus Kubbelkow, das ruhig abseits der großen Strände liegt. Er jongliert zwar ebenfalls mit Sesam und Wakame-Algen zum Thunfisch, lässt aber auch den weniger weltläufigen, mit Felchen und Renke verwandten Ostseeschnäpel gelten, den er zum Beispiel mit gebackenem Kürbis anrichtet.

Einige der schönsten Landschaften und Strände Mecklenburg-Vorpommerns finden sich auf der Halbinsel Darß-Zingst-Fischland. Dort kocht auch Pierre Nippkow – in der „Ostseelounge“ unter dem Dach des Strandhotels Fischland in Dierhagen. Zur schönen Panoramaterrasse gibt es eine hochmoderne, feinziselierte Küche, die gekonnt zwischen Ost- und Südsee pendelt, ausgefeilt bis ins letzte Detail, fantasiereich angerichtet. Da kann es passieren, dass zum Aperitif vor dem Gast eine komplette Küstenfischerszenerie inklusive Angelhaken angerichtet wird. Die Küche sucht bei den ersten Gängen eher die asiatisch inspirierte Ferne, nähert sich dann aber langsam dem mecklenburgischen Boden an.

Wer es einfacher und deftiger mag, der kommt vermutlich bei Ralf Schulze im „Schimmel’s“ in Wustrow auf seine Kosten. Dort gibt es Linsensuppe mit Blutwurst oder Cordon bleu vom Kalb: 20.Jahrhundert, aber solide gemacht.

Weiter gen Westen: Thunfisch mit Jasminblüten im "Butt"

In westlicher Richtung passiert erst einmal nichts mehr, und zwar exakt bis Warnemünde, wo die Köche sämtliche Methoden kennen, Fisch und Meeresfrüchte sofort nach dem Auftauen restlos zu ruinieren. Die große Ausnahme ist die Residenz „Hohe Düne“, wo Matthias Stolze die Pionierarbeit seines Vorgängers Tillmann Hahn fortsetzt und im kleinen Restaurant „Der Butt“ komplex gestrickte Gerichte serviert – wobei der Schwerpunkt natürlich auf Fisch liegt. Der Thunfisch mit japanischen Ume-Früchten und Jasminblüten repräsentiert die große Welt, das Kalb mit Doldenblütlern die mecklenburgischen Weiden.

Rostock nebenan möchte eine Großstadt sein, kriegt aber kulinarisch nichts geregelt, und so müssen wir an die Strände von Kühlungsborn und, natürlich, Heiligendamm, um weitere gute Restaurants zu finden. Ronny Siewert, Küchenchef im „Friedrich Franz“, dem Luxusrestaurant in Heiligendamm, gilt schon seit Jahren als bester Koch des Bundeslandes; einige Kollegen wie Haug oder Nippkow sind inzwischen stilistisch einen Schritt weiter, aber die Feinheit und Raffinesse seiner Gerichte ist dort oben nach wie vor so unübertroffen wie die Preise. Der Kauf der insolventen Anlage durch den Hannoveraner Unternehmer Paul Morzynski hat zudem wieder Ruhe ins Haus gebracht – ein teures Urlaubsziel eigener Prägung.

Er hat’s angerichtet. Sebastian Völz vom Hansa-Haus in Kühlungsborn.
Er hat’s angerichtet. Sebastian Völz vom Hansa-Haus in Kühlungsborn.

© S. Lingott

Nur ein paar Schritte durch den Wald sind es bis zum rustikalen Jagdhaus Heiligendamm, wo Alexander Ramm eine einfache, gute Küche mit Bodenhaftung bietet. Die interessanteste Entwicklung macht gegenwärtig aber Kühlungsborn durch. Denn neben dem gelassenen Tillmann Hahn, der in seinem Gasthaus in der Villa Astoria in Kühlungsborn zu überschaubaren Preisen Pasta, Salate und Fisch unverkrampft saisonal zubereitet, ist nun doch wieder ein Ehrgeiz-Koch aufgetaucht. Sebastian Völz führt im neuen Hotel Hansa-Haus, das mal ein Ferienheim des Bezirks Reinickendorf war, ein Restaurant mit dem angestrengten Namen „Neuzeit@gewagt“. Der ehemalige Adlon-Mann will sich und den Restaurantführern was beweisen und legt beachtlich vor: Karpfen mit Sellerie im Bier-Steinpilz-Sud oder Schnäpel mit rotem Curry und grünen Tomaten.

Der älteste Michelin-Stern des Landes blinkt in Krakow

Drinnen im Land Meckpomm – das ist eine ganz andere Sache. Die Suche nach gutem Essen an einem der unzähligen Seen ist praktisch immer vergeblich, und selbst die Küchen der verstreuten Schlosshotels – außer vielleicht Burg Schlitz – kann man vergessen. Die Ausnahmen sind bekannt. „Ich weiß ein Haus am See“ in Krakow trägt verdient den mit Abstand ältesten Michelin-Stern des Landes, im „Kleinen Meer“ in Waren/Müritz ist nach langer Denkpause wieder Ehrgeiz spürbar, und im „Lisette“ in Groß Nemerow stimmen die regionalen Bioprodukte, die allerdings noch etwas bieder zusammengefügt werden.

Ihnen weit voraus ist Daniel Schmidthaler, der die „Alte Schule“ in Fürstenhagen, entlegen in der Feldberger Seenlandschaft, zu einem Gourmet-Ziel mit Michelin-Stern und 17 Gault-Millau-Punkten gemacht hat. Hier isst man im alten Klassenzimmer, auf der Terrasse, im neuen Wintergarten oder einfach auf der Wiese unter der Kirche die gegenwärtig spannendste Küche zwischen Berlin und Ostsee: Hecht oder Flussbarsch werden auf heißen Baumscheiben gegart, die Taubenbrust kommt mit fermentiertem Honig, und das „Erdapfelgulasch“ wird mit Paprika-Eis gekrönt. Prognose: Wenn mal ein doppelter Stern ins Land fällt, dann hierher.

Muntere Kreation im "Gasthof Tenzo" in Triepkendorf.
Muntere Kreation im "Gasthof Tenzo" in Triepkendorf.

© promo

Von Fürstenhagen ist es nicht weit bis zum munteren "Gasthof Tenzo“ in Triepkendorf, wo es schlicht und familiär zugeht. Aber auch Neustrelitz ist in Reichweite, wo abenteuerlustige Esser keinesfalls das „Forsthaus Strelitz“ verpassen sollten. Wenzel Pankratz flirtet hier eigenwillig mit dem Zeitgeist, präpariert tiefgründige Suppen aus Gemüse, fermentiert, weckt ein und macht eigentlich nichts, was mit dem üblichen Bild von einem Forsthaus-Restaurant auch nur das Geringste zu tun hätte, abgesehen von den christlichen Preisen. „Hecht, Kartoffel, Fassbutter“ oder „Rehniere, Bohne, Gin“ heißen hier die Gänge – das Gasthaus wirkt fast wie ein Ableger der Neuköllner Hipsterszene. Nur natürlich mit viel schönerer Umgebung.

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