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Nordrhein-Westfalen: Gute Nachbarn im Pott

Auf der „Route der Wohnkultur“ durch das Ruhrgebiet gewinnt man verblüffende Einblicke – und trifft zufriedene Mieter.

Wer von der Straße aus auf das Haus von Holger Rieck blickt, der sieht einen Vorgarten, zehn kleine Fenster an der hellen Hausvorderfront und je einen Eingang links und rechts. Der ehemalige Zechenarbeiter wohnt in einem sogenannten Zwei-Paar-Haus – ein zweigeschossiges, in der Mitte geteiltes Haus, das für beide Mietparteien je 80 Quadratmeter Platz bietet. So relativ bescheiden wohnte und wohnt man im Ruhrgebiet. Dass jedoch auch durchaus feudalere Anwesen im „Kohlenpott“ zu finden sind, erfährt der Besucher auf der „Route der Wohnkultur“ außerdem. Sie ist ein Projekt im Rahmen der Kulturhauptstadt Europas Ruhr 2010.

Von dem schmalen Hausflur der Riecks geht es die steile Treppe hoch in die drei oberen Räume, in den Keller und ins knapp 20 Quadratmeter große Wohnzimmer. Von dort aus gelangt man auf die Terrasse und blickt in den Garten. Zwischen den Gärten gibt es keine Zäune. „Das ist nicht nötig. Wir haben eine gute Nachbarschaft und setzen uns im Sommer gern draußen zusammen. Es gibt nur eins, was mich stört: dass ich mir als Mieter nicht einen Treppenlift einbauen lassen kann, um die Stufen auch noch im Alter zu schaffen“, sagt Rieck, der hier seit 21 Jahren lebt.

Hier – das ist die Siedlung Fürst Hardenberg im Norden von Dortmund, 90 Jahre alt und eine der am besten erhaltenen Arbeitersiedlungen im Ruhrgebiet. 400 Wohnungen gehören dazu. Die Straßen sind sauber, die Häusertypen ähneln sich, zum Kohlenpott-Klischee fehlen nur noch Tauben im Hinterhof. Es ist ein überschaubarer Mikrokosmos am Rande der Großstadt. Hier werden nur selten Wohnungen frei, und wenn, dann sind sie ganz schnell wieder vergeben Obwohl man Wand an Wand mit den Nachbarn lebt, die Räume eher klein und nicht allzu hoch sind und das Stadtzentrum mit seinen Einkaufsmöglichkeiten sechs Kilometer entfernt ist.

Der 66-jährige Peter Beuchel hat in dieser Siedlung seine Frau kennengelernt, hier haben Eltern und Schwiegereltern gewohnt, und heute lebt die Tochter um die Ecke. „Jeder kennt jeden, das ist wie auf dem Dorf. Außerdem haben wir doch so viel Platz wie nie: Als die Kinder noch klein waren, haben hier oft fünf Personen und mehr gelebt, heute sind es meist nur noch ein bis zwei Bewohner“, sagt der Schriftsetzer im Ruhestand.

Bislang hat sich kaum ein Tourist hierher verirrt – das ändert sich dieser Tage. Die Siedlung Fürst Hardenberg gehört zu einem von 58 Zielen auf der „Route der Wohnkultur“. Bis Oktober können Besucher zwischen Hamm und Duisburg erkunden, wie Menschen im Ruhrgebiet wohnen (www.routederwohnkultur.de). Am 19. September sind alle 58 Häuser geöffnet. Bustouren gibt es zudem das ganze Jahr über zu ausgewählten Objekten in einzelnen Städten.

Peter Beuchel freut sich über das wachsende Interesse. Er ist stolz auf seine Siedlung, die erste in Dortmund mit Toiletten in der Wohnung – sonst gab es nur Außenklos. Die Anlagen mit den großzügigen Gärten galten als Gegenentwurf zu den einst engen Mietskasernen der Industriereviere.

Doch es werden nicht nur gut erhaltene Arbeitersiedlungen präsentiert, sondern auch Gründerzeitviertel, Fabrikantenvillen oder Neubauten. Im Duisburger Innenhafen entstand in den vergangenen Jahren nach Plänen des Londoner Büros von Sir Norman Foster ein neues Stadtquartier mit luxuriösen Wohnungen. Ein System aus raumhohen Glasschiebetürmen und beweglichen Wänden ermöglicht die individuelle räumliche Gestaltung. Von großzügigen Balkons und Loggien hat man einen unverbaubaren Blick auf Park und Grachten.

Hier leben keine ehemaligen Kumpel, sondern zum Beispiel der 38-jährige Ingenieur Carsten Cox, der sich umgeben von Wasser wie im Urlaub fühlt. „Im obersten Stockwerk zu wohnen ist phänomenal. Wenn ich auf der Terrasse stehe und der Stahl angestochen wird, färbt sich der ganze Himmel orangerot – das ist toll“, schwärmt er.

Zu den neueren Bauten zählt auch das Projekt „Wohnungsbau von Frauen für Frauen“ in Bergkamen. Auf einer Fläche von 3600 Quadratmetern entstanden 28 Wohnungen, bei denen die Mieterinnen nach ihren Wünschen gefragt wurden. Das Ergebnis: Die Zimmer sind gleich groß, die Wohnküchen variabel, es gibt viel Abstellfläche. „Die Räume sind unheimlich hell, durch den Schallschutz ist es ein sehr ruhiges Wohnen, die Kinderzimmer sind größer als üblich und der Spielplatz ist direkt neben dem Haus. Außerdem haben die Mieter einen guten Kontakt untereinander. Freunde fragen oft, ob hier was frei wird, aber es zieht nur selten jemand aus“, sagt Christa Liebig, die mit zwei Töchtern in einer Viereinhalb-Zimmer-Wohnung lebt. „Früher war das ein spezielles Frauenprojekt, aber heute leben hier auch Ehepaare und Familien. Ich bin die einzige Alleinerziehende“, sagt die 45-Jährige.

Ganz anders sieht es in der Hustadt aus. Die Ende der 60er Jahre gebaute Siedlung mit bis zu 13-stöckigen Hochhäusern und insgesamt 1200 Wohnungen in der Nähe der Bochumer Universität hat wie andere Großsiedlungen mit Leerstand und sozialen Problemen zu kämpfen. Seit drei Jahren werden große Wohnungen so umgebaut, dass sie für Wohngemeinschaften, zum Beispiel für Studenten attraktiv sind. Mit einem Durchbruch durch ein Wohngebäude wurde das burgähnliche Innere der Hustadt geöffnet, dunkle Ecken beseitigt, neue Wege geschaffen und ein zentral gelegener Platz als Treffpunkt aufgewertet.

Ayse Kaymaz ist mit Mann und den drei kleinen Söhnen vor einigen Monaten hierher gezogen: „An vielen Stellen im Viertel dürfen keine Autos fahren, das ist gut, weil man dann keine Angst um die Kinder beim Spielen haben muss. Außerdem gibt es eine nette Nachbarschaft, man klingelt und kann bei Bedarf zum Beispiel nach Eiern oder etwas Mehl fragen. Hier ist die Atmosphäre besser als dort, wo wir zuletzt lebten“, freut sich die junge Frau.

Hattingen galt lange durch seine Stahl- und Walzwerke als Stadt der Schwerindustrie. Doch statt der einfachen Arbeitersiedlungen findet man im Zentrum mehr als 150 mittelalterliche Fachwerkhäuser – einmalig im Ruhrgebiet. Die einst heruntergekommene Altstadt wurde seit den 60er Jahren saniert. Heute befinden sich zahlreiche Cafés im Erdgeschoss, die Gäste aus nah und fern bewirten, während die Wohnungen darüber wegen ihres besonderen Flairs begehrt sind.

Ein 256 Seiten starker Katalog mit einer genauen Beschreibung der 58 Ziele und zahlreichen Fotos ist auf Deutsch und Englisch erschienen. Büro Stadtidee, Ruhr 2010 (Herausgeber): Route der Wohnkultur – Wohnen in der Metropole Ruhr, The Housing Culture Trail – Living in Ruhr Metropolis. Preis: 24,95 Euro.

Joachim Göres

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