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Peilung nehmen. Den alten Messturm des Ruden besteigen Besuchern gern, um das Inselchen aus der Vogelperspektive zu sehen.

© Stefan Sauer/picture alliance

Ostseeeiland: Reif auf der Insel

Seit neun Jahren lebt ein Ehepaar auf dem Ruden bei Rügen – ganz allein.

Der Motor des Bootes tuckert gleichmäßig, am Steuer steht Detlef Kammradt und schippert mit 7,2 Knoten auf einen Fleck am Horizont zu, der mit jeder Minute größer wird. Links ist die Insel Rügen zu sehen, rechts Usedom. „Dort hat Polanski seinen Film ,Ghostwriter‘ gedreht“, sagt Kammradt. „Da war vielleicht was los.“ Hollywoodflair auf Usedom. Kammradt fährt heute zu einer anderen Insel: dem Ruden.

Conrad Marlow, 60, steht am Ufer und wartet. Für Hollywood reicht seine Geschichte nicht. Aber in der Region ist er längst berühmt. Manch einer nennt ihn den „Inselkönig“ vom Ruden. Gut 400 mal 800 Meter groß ist sein Reich, in dessen Hafen Kammradt nun einfährt. Neben dem Inselkönig steht Ursula Toth. „Willkommen auf dem Ruden“, ruft sie den Besuchern zu, die vom Boot ans Ufer klettern. „Mein Mann und ich, wir sind die Bewohner der Insel.“

Das Paar lebt seit neun Jahren auf der Insel, und zwar ganz allein. Keine Nachbarn, kein Supermarkt, kein Kiosk. Nur Natur. Schon seit 1925 steht die Insel unter Schutz, seit drei Jahren ist sie im Eigentum der Deutschen Bundesstiftung Umwelt zur Sicherung des Nationalen Naturerbes mbH (DBU). Früher war der Ruden eine Lotseninsel, vom 17. Jahrhundert an wohnten Schiffslotsen mit ihren Familien auf dem Ruden, erst 1972 wurde die Lotsenstation geschlossen.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde im Süden der Insel ein Messturm gebaut, der dazu diente, in Peenemünde abgeschossene Raketen zu beobachten. 1961 wurden 20 Soldaten der Grenzbrigade Küste auf der Insel stationiert, um DDR-Fluchten über die Ostsee zu verhindern. Im ehemaligen Flugbeobachtungsturm ist heute ein kleines Museum mit einer Ausstellung zur Geschichte des Rudens. Jetzt im Winter ist der Turm zwar zu besteigen, doch die Ausstellung bleibt bis Ostern ausgelagert.

Nach der Wende wurde der Ruden beliebter Anlaufpunkt für Segler. Sie mochten den kleinen Hafen der Insel, der anders als die großen Marinas in der Umgebung wenig überlaufen war. Der Badestrand ist mittlerweile aus Gründen des Naturschutzes geschlossen.

Marlow und Toth schätzen an der Insel vor allem eins: die Ruhe. Sie wohnen in einem alten Lotsenhaus. Roter Backstein, grüne Holztüren, umstellt von Pappeln und Ulmen. „Wir sind schon sehr zufriedene Menschen“, sagt Marlow bei einer Tasse Kaffee, „oder, Ulla?“ Die lacht. Dass die beiden einmal auf dem Ruden landen würden, war mehr oder weniger Zufall. Früher lebten sie bei Rostock, Marlow hatte dort eine Gaststätte und war außerdem Leiter einer Jugendbildungseinrichtung. Bis zu 16 Stunden Arbeit am Tag und immer die Sorge, dass das Geld doch nicht reichen würde. Stress pur. 2002 zog sein Körper quasi die Notbremse. Intensivstation mit Anfang 50. „Da dachte ich mir: Das kann es doch noch nicht gewesen sein.“

Marlow hörte sich um. Auf der Insel Ruden gab es Arbeit als Naturschutzwart und Hafenmeister. Und so entschieden Marlow und Toth, auf eine einsame Insel zu ziehen. Wobei die im Frühling und im Sommer gar nicht so einsam ist. Täglich bringen Fahrgastschiffe und Fischkutter Besuchergruppen, die von Usedom, Rügen oder vom Festland aus einen Abstecher auf den Ruden machen, steuern Segler den Hafen der Insel an. Bei gutem Wetter kommen Freunde von Marlow und Toth mit ihren Booten vorbei, bringen frischen Kuchen oder Grillfleisch mit.

„Die meisten werden im Winter dicker“, sagt Toth und lacht. „Bei uns ist es umgekehrt. Wir nehmen im Sommer zu. Weil alle vorbeikommen und was mitbringen. Und das essen wir dann auf, schließlich haben wir keine Kühlung.“ Das Problem haben sie jetzt nicht. „Wir fahren jetzt noch einmal mit unserem Boot zum Einkaufen, das war’s dann für dieses Jahr“, sagt Ursula Toth, 63.

„Wir haben den Inselschritt angenommen“

Inselkönige. Ursula Toth und Conrad Marlow.
Inselkönige. Ursula Toth und Conrad Marlow.

© Marlow

Das Paar lebt ohne Strom. Zumindest fast. Bis 2006 wurde der Ruden vom Wasser- und Schifffahrtsamt, das mit Generatoren die Leuchtfeuer um die Insel antrieb, mit Strom versorgt. Als das Amt auf LED-Technik umstellte, war es auf dem Ruden vorbei mit dem Strom aus der Steckdose. „Der Strom war im November auf einmal weg“, sagt Marlow. „Einfach so, ohne Ankündigung.“ Seitdem müssen die beiden auf einiges verzichten, was für die meisten Menschen normal ist: Kühlschrank, Gefriertruhe, Waschmaschine, Geschirrspüler. „Aber wegziehen, nur weil es plötzlich keinen Strom mehr gab – das kam für uns nie in Frage“, sagt Marlow. „Auch wenn die meisten dicke Backen kriegen, wenn sie das hören: Es geht auch ohne. Und etwas Strom haben wir ja.“

Ein Generator sorgt dafür, dass die beiden abends Fernsehen gucken und im Internet surfen können. Sie kochen auf einem kleinen Gasherd, geheizt wird mit einem Ofen. Wenn sie warm duschen wollen, dann dauert das eine Weile, weil sie vorher erst Wasser erhitzen müssen. Auch fließendes Wasser gibt es auf dem Ruden nicht. Das Wasser, das aus den Hähnen in Küche und Bad kommt, wird aus Kanistern gepumpt, die Marlow und Toth auf dem Festland kaufen. Für die Klospülung pumpen sie Wasser aus dem Hafenbecken in zwei Tanks. 600 Liter reichen für eine Woche. „Ordentlich die Spülung drücken“, sagen sie zu jedem Gast, der ihre Toilette benutzt. „Die meisten drücken aus Gewohnheit nur kurz, um Wasser zu sparen. Das geht hier nicht.“

Es gibt viele Tricks, die die beiden mit der Zeit gelernt haben. „Man muss sich halt anpassen“, sagt Marlow, nimmt seine Pudelmütze vom Kopf und fährt sich durch die grauen Haare. „Aber wenn man das Leben und die Natur so annehmen kann, dann ist das hier nicht zu toppen.“ Stress, Hektik, Zeitdruck – nicht auf dem Ruden. „Wir haben den Inselschritt angenommen“, sagt Marlow. „Man entschleunigt hier. Und ich kenne keinen an Land, der so eine Lebensqualität hat wie wir.“

Rüber zum Festland nach Freest fahren sie einmal im Monat, wenn überhaupt. „Wir brauchen ja fast nichts“, sagt Marlow. Jeder in Freest kennt und mag das Paar von der Insel. Wer auf den Ruden fährt, packt etwas ein: eine Tageszeitung, ein Glas Honig oder frisches Brot. Der Edeka-Markt in Freest hatte früher eine Poststelle. Sie wurde geschlossen, aber die Chefin des kleinen Supermarktes sammelt noch heute die Post für Marlow und Toth. Jeden Dienstag fährt dann ein Schiff der Seenotrettung beim Ruden vorbei und bringt den beiden ihre Post.

Die Winter auf dem Ruden sind allerdings hart. Da sind Marlow und Toth zum Teil für Wochen vom Festland abgeschnitten. Jedes Jahr lagern sie deshalb im Herbst Vorräte ein, um vorbereitet zu sein. Sie haben eine Notapotheke im Haus für den Fall, dass sie krank werden. „Aber seit wir hier sind, ist keiner von uns auch nur ein Mal krank gewesen“, sagt Marlow. „Und im Notfall könnte ja der Eisbrecher kommen.“

Der Tag beginnt früh für Marlow und Toth. Oft stehen sie um sechs Uhr auf, sind bis abends auf den Beinen. „Aber wir haben ja keinen Druck“, sagt Marlow. „Wir können hier selbstbestimmt arbeiten und entscheiden, wann wir was machen.“ Jetzt im Winter kommen ohnehin keine Besucher, um die man sich kümmern müsste. Der Abend bricht herein, Marlow hievt noch schnell den Generator auf die Schubkarre und schließt die Pumpe im Hafen an, damit bloß das Wasser im Bad nicht ausgeht. Dann ist aber Feierabend.

Marlow und Toth verreisen auch gerne mal. Es ist nicht so, dass sie das ganze Jahr auf dem Ruden sind. Marlow zeigt Fotos vom Urlaub in den Emiraten, Bilder, auf denen er in der weißen Kandura, dem traditionellen arabischen Gewand, in der Wüste steht, Bilder aus Geschäften und Cafés in den Metropolen Abu Dhabi und Dubai. Kontrastprogramm zum Inselleben. „Natürlich hat es uns gefallen“, sagt Marlow, „aber wir waren dann auch froh, als wir wieder zu Hause waren.“

Nicola Meier

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