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Der Maler Andreas Schiller betreibt gemeinsam mit einem französischen Kollegen eine Galerie in Binz.

© Hella Kaiser

Rügen: Wo Poseidon einen Busen hat

Binz besticht Urlauber durch schneeweiße, bisweilen kuriose Bäderarchitektur. Wer hier lebt, preist die Lebensart.

Die Villen in Binz sind ja nicht einfach nur blendend weiß. Jede sieht anders aus. Hier haben sie vorwitzige Türmchen, da kühne Balkone, dort luftige Veranden. Und all diese hübschen ins Holz geschnitzten Details. Blätter, Ranken, Rosetten, Fabelwesen. Die Villa Sirene wirkt vergleichsweise schlicht, aber, sagt Ortsführer Günter Koberstein, „schauen Sie mal zum Dach hoch“. Da rekelt sich Poseidon mit seinem Dreizack. Doch, huch, wie sieht der denn aus? Zwar hat er muskulöse Oberarme, aber eben auch eine runde weibliche Brust. Folge eines Ehestreits im Jahre 1912. Während der frischgebackene Villenbesitzer einen Poseidon in Auftrag gegeben hatte, wünschte seine Gattin eine Nixe. Der Bildhauer musste nachbessern. Der Bart kam ab, der Busen dran.

Zu DDR-Zeiten drohte die prächtige Bäderarchitektur zu verfallen. Die Gebäude waren grau geworden, manche durch hässliche Vorbauten verunstaltet und meist auch ihrer Zierfiguren beraubt. Nach der Wende wurde alles peu à peu restauriert und kann sich längst wieder bestaunen lassen. „Alle drei Jahre werden die Gebäude frisch gekalkt“, erklärt Koberstein. „Das war zu DDR-Zeiten natürlich nicht so.“ Schneeweiß ist auch die Villa Salve, die etwas zurückgesetzt am ruhigen Teil der Strandpromenade liegt. 1899 als hochherrschaftliches Domizil einer Gräfin erbaut, diente sie im Sozialismus als Kindersanatorium. Aphrodite verschwand vom Dach, auch die Löwenskulpturen waren irgendwann weg.

1993 erwarb das Rügener Ehepaar Schewe die Villa und ließ sie restaurieren. Im italienischen Carrara ließ der frischgebackene Eigentümer neue Löwenfiguren nach den historischen Mustern anfertigen. „In Italien habe ich auch den Springbrunnen mit den Pferdeköpfen gesehen und einfach mitgebracht“, sagt Harald Schwewe und lächelt vergnügt. Seit 20 Jahren sprudelt der Blickfang nun an seinem Platz vor der Villa.

Das kleine Vier-Sterne-Hotel mit seinen gutbürgerlich eingerichteten Zimmern hat viele Stammgäste. Auch Kanzlerin Merkel, die ihren Wahlkreis in Vorpommern-Rügen hat, übernachtete hier schon öfter. „Ich habe sogar ihre private Handynummer“, sagt Schewe stolz, und die gebe sie weiß Gott nicht jedem.

Zahlreiche Gäste kommen nur wegen Barchef Bernd Beyer ins Haus. Eigentlich ist der Mann längst im Ruhestand, aber gelegentlich kann er das Mixen hinter dem Tresen der Villa Salve dann doch nicht lassen. Schließlich war das seit 1993 sein Arbeitsplatz. Zu Tequila Sunrise, Tom Collins oder Pink Lady plaudert Beyer so einiges aus. „Zu DDR-Zeiten hatten wir hier ja nur indische Bäder“, erzählt er. Wie bitte? „Na, nicht im Zimmer, sondern jenseits des Ganges“, erklärt er, verschmitzt lächelnd.

Natürlich freut er sich als „Botschafter Rügens“ über das mondän gewordene Binz, aber manch eine Veränderung ärgert ihn auch. Die einst so beliebte Hafenbar ist zu einem Drogeriemarkt geworden. Das Café Möwe hat als Bistro wiedereröffnet: „Da sehen Sie keinen Stuck mehr.“ Im Zentrum wuchsen Apartmenthäuser, auch einige Bädervillen wurden abgerissen und an ihrer Stelle größere, höhere Wohnblocks errichtet. Kritiker sprechen schon jetzt von „bedenklicher Verdichtung“ im Ortskern. Dabei waren die Übernachtungszahlen in den vergangenen Jahren, wenn auch nur leicht, rückläufig. Binz muss aufpassen, dass es sich nicht (aus-)verkauft. Solange noch Künstler in Binz ausharren, muss einem vielleicht nicht bang werden.

Der Ort stellt ein anspruchsvolles Publikum zufrieden

Der Fotograf Robert Denier verkauft eigene Werke.
Der Fotograf Robert Denier verkauft eigene Werke.

© Hella Kaiser

In der Margaretenstraße, die von der Promenade abzweigt, ist eine nette kreative Meile entstanden. Gleich nach der Wende haben Robert Denier und Andreas Schiller dort ein Haus besetzt und ein Kunstprojekt initiiert. Nun ist ihre Galerie ein Anziehungspunkt neben Schmuckwerkstätten, Keramikgeschäften und Glasboutiquen.

Der gebürtige Franzose Robert Denier verblüfft mit seinen großformatigen, bizarr verfremdeten Naturfotografien. Sie zeigen ein aufregendes, manchmal sogar gruseliges Rügen, nicht im Mindesten zu vergleichen mit den Postkartenidyllen in den Souvenirläden. Trotzdem: Was macht ein Franzose in Binz? Könnte er als Künstler nicht in Staint-Tropez das Savoir-vivre genießen? Denier schüttelt entsetzt den Kopf. „Mon dieu, Saint-Tropez. Da ist doch alles voller Autos.“ Hier kann er zu seiner Galerie radeln und passablen Café Crème gibt’s auch gleich nebenan. Andreas Schiller, der lange ein Atelier im Berliner Tacheles hatte, teilt sich die Galerie mit Denier. Oft verharren Besucher lächelnd vor Schillers eigentümlichen Bildern. Frösche nach Kermit-Art malt er, erotische Hunde, Miss Piggy in lauter kuriosen Varianten und serienweise Äpfel. Studiert hat der 50-Jährige auf der namhaften Burg Giebichenstein in Halle, auch der Einfluss der Leipziger Schule wird deutlich. Schillers Kunst findet Anklang in Binz, dessen Touristen am Ort eher mit gefüllten Brieftaschen unterwegs sind. „Ich glaube nicht, dass man hier mit Kitsch überleben kann“, sagt der Künstler.

Jürgen Kuse ist der letzte Fischer im Ostseebad. Sein Umsatz stimmt.
Jürgen Kuse ist der letzte Fischer im Ostseebad. Sein Umsatz stimmt.

© Hella Kaiser

Längst stellt der Ort ein anspruchsvolles Publikum zufrieden. Erstklassige Unterkünfte wie etwa das Hotel Am Meer & Spa, das puristisch bestechende Designhotel Cerês oder das Artepuri Hotel meerSinn mit ökologischer Einrichtung gibt’s auch in der Nebensaison nicht zu Schnäppchenpreisen. Natürlich lässt sich auch vortrefflich speisen im schicken Seebad. In der Strandhalle zum Beispiel, die sich über die vergangenen Jahre schon zum Kultort entwickelt hat. Das gut 100 Jahre alte Holzhaus diente früher im Sommer als Tanzsaal, im Winter wurde es zum Lager für Strandkörbe.

Im Rahmen der „Aktion Rose“ wurde der Inhaber 1953 – wie so viele Privateigentümer – enteignet. Das Gebäude erhielt eine neue Bestimmung als Kantine für Heime des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB). Ende der 90er Jahre erweckte es der westfälische Koch Toni Münsterteicher aus dem Dornröschenschlaf. Seither wird im urgemütlichen Ambiente der Strandhalle Köstliches serviert. Birne-Sellerie-Cremesuppe zum Beispiel, Binzer Fischtopf oder das Lieblingsgericht des Küchenchefs, Krüstchen von der Schweinebacke auf Linsen-Backpflaumen-Gemüse mit Specksauce.

Wer mittags nur einen Imbiss will, geht zu Jürgen Kuse, Fischräucherei in vierter Generation. Der 48-Jährige ist der einzige und letzte Fischer im Ostseebad. „1980 waren es zwanzig, 1990 nur noch sieben“, erklärt der Mann mit den stahlblauen Augen. Der frische Fang wird über Buchenholz geräuchert und schmeckt vorzüglich. Kein Wunder, dass die Gäste in Kuses Baude am Strand oft Schlange stehen.

Jetzt, Anfang Juni, kann man noch gemütlich flanieren auf der Promenade. Im Juli und August wird’s dann pickepackevoll. „Da kommt man kaum noch vorwärts“, stöhnt Kuse, „die Promenade meide ich dann.“ Günter Koberstein wird trotzdem dort sein und zu den Kreidefelsen hinüberschauen wie in diesem Moment. Eben noch glitzerten sie im Sonnenlicht, nun – eine Wolke zieht vorüber – liegen sie geheimnisvoll da. „Sie verändern sich permanent“, sagt Koberstein, „ich könnte ständig hingucken.“ Es ist wohl ein Glück, Binzer zu sein.

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