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Thüringen: Ab durch die grüne Mitte

Kulturinteressierte Langstreckenradler sind begeistert von der "Thüringer Städtekette".

„Nächster Halt Altenburg!“ Eilig packen wir zusammen, montieren die Satteltaschen und schieben die Räder in Richtung Ausstieg. Doch nun wird der Regionalexpress immer langsamer. Entsetzt schauen wir uns an: Ein Motorschaden so kurz vor dem Ziel? Der Schaffner winkt ab: „Keine Angst. Alles ganz normal. Das Gleisbett ist hier in einem so erbärmlichen Zustand, dass wir nur im Schneckentempo drüber dürfen.“

Wie symbolisch dieser Auftakt war, erkennen wir wenig später in den Straßen der Stadt: Der Sanierungsbedarf ist enorm, immer wieder passieren wir Häuser, die uns mit leeren Fensteraugen anstarren. Der zaghafte Aufschwung, der von Eisenach bis Jena zu spüren ist, hat den Osten Thüringens nicht erreicht und wird ihn wohl auch nicht mehr erreichen. Altenburg ist auf das Abstellgleis der Geschichte geraten.

Wer den opulenten Marktplatz sieht, mag dies freilich kaum glauben. Er ist mehrere hunderte Meter lang und wird von prächtigen Bürgerhäusern aus allen Jahrhunderten gesäumt. Derart intakte Bauensembles kann man im Europa des 21. Jahrhunderts lange suchen. Wo um Himmels willen sind aber die Touristen, die an einem so schönen Ort ihr Geld lassen? Wir gehen mit gutem Beispiel voran, setzen uns ins Straßencafé und genießen die Szenerie. Hier ließe es sich ein paar Stunden aushalten, denn durch seine Größe und die Südhanglage hat der Platz überhaupt nichts Beengendes. Speis’ und Trank sind zudem sensationell günstig.

Irgendwann steigen wir dann doch in den Sattel, durchqueren bezaubernd urtümliche Altstadtquartiere und rollen stadtauswärts. Den zur B 7 zeigenden Radwegweiser lassen wir jedoch links liegen: Lieber auf Sträßchen am Fluss entlang als auf einem neu gebauten Radweg direkt neben den Lkw! UnsereVariante führt in die Bilderbuch-Landschaft hinunter, die für Deutschlands „grüne Mitte“ so typisch ist: Pferde weiden auf einer weitläufigen Koppel, ein Bussard zieht bedächtig seine Kreise, Schmetterlinge tanzen in der warmen Luft – kein Auto weit und breit. Genau so muss eine Radreise beginnen.

Vor uns liegen die 240 Kilometer der „Thüringer Städtekette“, jenes neuen Radfernwegs, der die wichtigsten Städte und Städtchen des Freistaats miteinander verbindet. Einem namhaften Fluss folgt man dabei allerdings nicht. Heute geht es an Pleiße und Sprotte entlang, morgen werden wir Rauda, Zeitzbach und Roda kennenlernen, bevor wir schließlich am letzten Tag an der Hörsel aufwärtsfahren. Die Namen dieser Flüsschen sind auch deshalb so unbekannt, weil Thüringen sich bislang vornehmlich als Wanderrevier vermarktet hat. Welch großes Kapital in den radlerfreundlichen Niederungen liegt, dämmerte den Verantwortlichen erst vor zwei Jahren. Eine Marketingstudie hatte nämlich zutage gebracht, dass jeder fünfte Thüringen-Gast in seinem Urlaub aufs Rad steigt. Rasch wurden nun die bereits vorhandenen Radwege zu einem flächendeckenden Netz verbunden und sogar ein hauptamtlicher Landesradwegewart angestellt. Das einzige Problem: Kaum jemand weiß von den bezaubernden Velorouten, die nun durchgehend markiert sind. Entsprechend tief musste die Tourismusorganisation in die Taschen greifen: Die aktuelle Marketingoffensive „Fahr Rad 2010 – natürlich in Thüringen“ verschlingt nicht weniger als eine Viertelmillion Euro.

Dem Ferienradler eine regelrechte Kulturroute anzubieten, ist klug: Thüringen muss ja den Ruf loswerden, dass es zwischen Werra und Saale immer nur auf und ab geht. Eine bequeme Fernverbindung durch die flacheren Gefilde des Landes kommt da gerade recht.

Zu einer richtigen Radreise gehört natürlich, dass man zwischendurch auch mal vom geplanten Streckenverlauf abweicht. Kurz vor der Landeshauptstadt ist es uns in den ausgeräumten Landschaften des Thüringer Beckens dann doch etwas zu langweilig geworden. Und zu ungemütlich: Ließ sich im Wilden Osten Thüringens auf den Sträßchen noch unbehelligt nebeneinanderradeln, so muss man hier allzu oft das tun, was Langstreckenradler am meisten hassen – sich die Fahrbahn mit motorisierten Verkehrsteilnehmern teilen. So folgen wir von Erfurt einfach dem Gera-Radweg nach Süden und finden die beschaulichen Pfade durch den Auwald, die wir schon zu vermissen begonnen hatten. Wie erfrischend es doch ist, sich der Natur einmal nicht von einem toten Asphaltstreifen aus zu nähern. Es dämmert schon, als wir zur Elgersburg hinaufschnaufen, einem geschmackvoll restaurierten Schlossensemble aus dem 12. Jahrhundert, in dem heute ein Restaurant untergebracht ist.

Wer schon mal hier ist, will sich den Blick von der Hohen Warte natürlich nicht entgehen lassen. Leider liegen ein paar mühsame Höhenmeter dazwischen. Oben sind die Strapazen aber schnell vergessen: Im Osten und Süden dämmern die höchsten Gipfel des Thüringer Waldes im Gegenlicht, nach Norden fällt der Blick in die sanft gewellte Landschaft, in der sich Weimar versteckt, jenes kleine Residenzstädtchen, das im frühen 19. Jahrhundert zum geistigen Zentrum Deutschlands aufgestiegen war. Am Horizont reckt sich das Kyffhäuser-Denkmal in den Himmel. Dahinter beginnt bereits Sachsen-Anhalt. So überschaubar klein ist Thüringen ...

Auf einer Variante des Geraradwegs geht es nach Arnstadt zurück, wo Johann Sebastian Bach lange Jahre als Organist tätig war. Im historischen Stadtzentrum zweigt die nagelneue Bach-Erlebnis- Route ab. Sie führt am Burgentrio der Drei Gleichen vorbei nach Wechmar, wo das Stammhaus der Familie Bach besichtigt werden kann. Dort stehen wieder die grünweißen Wegweiser der Thüringer Städtekette, denen wir nun bereitwillig nach Gotha folgen.

Wirkt das Stadtbild in Bahnhofsnähe noch etwas desolat, so tauchen wir bald in eine erstaunlich weitläufige Parklandschaft ein – den ältesten englischen Garten des Kontinents. Nun geht es am opulenten herzöglichen Museum und der Orangerie vorbei und es ist einmal mehr Staunen angesagt: Breit ausgegossen liegt Friedenstein vor uns, die größte frühbarocke Schlossanlage Deutschlands. Nicht weniger faszinierend ist die kopfsteingepflasterte Altstadt, die sich an der Rückseite des monumentalen Schlosskarrés anschließt. Eine restriktive Stadtentwicklungspolitik hat Spekulationsobjekte erfolgreich verhindert. Selbst die Plätze, an denen Gebäude neueren Datums stehen, bieten eine Aufenthaltsqualität, von der Berlin nur träumen kann.

Klar, dass Gotha an Altenburg erinnert: Hier wie dort herrscht die gleiche Asymmetrie zwischen der städtebaulichen Attraktivität und den Touristenzahlen! Von atmosphärischer Stimmigkeit allein lässt sich offensichtlich auch hier nicht leben – die Jungen finden keine Arbeit und gehen ins 30 Kilometer entfernte Erfurt. Mehr als 10 000 Menschen, ein Fünftel der Einwohnerschaft, haben dem einstigen Fürstensitz bereits den Rücken gekehrt.

Nicht nur die Schönheit der Szenerie, auch das kühle Bier hat unseren Radelehrgeiz getrübt. Im Grunde hat sich der Kreis ja auch geschlossen! Statt noch nach Eisenach weiterzufahren, suchen wir uns ein Zimmer, duschen und sind wenig später wieder dort, wo wir schon in den letzten Tagen immer nur schwer wegzubewegen waren – auf einem jener still in sich ruhenden Marktplätze, an denen man weder von Autos und Touristenscharen genervt noch von überteuerten Kaffeepreisen vertrieben wird.

Gerhard Fitzthum

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