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So stellte man sich im 19. Jahrhundert das Mittelalter vor: Der Dominikanermönch Johann Tetzel (1460 - 1519) beim Ablasshandel auf einem Holzstich von 1880.

© Imago

Von Wittenberg nach Jüterbog: Pilgerweg zum Ablasshändler

Der Luther-Tetzel-Weg führt durch die Geschichte der Reformation. Auf den Spuren der Gläubigen, die einst von Luther fortstrebten, um sich bei Tetzel von ihren Sünden loszukaufen.

„Außerordentlich“ sei der Zulauf zu Johann Tetzel und seinen Ablassbriefen gewesen, heißt es in einer alten brandenburgischen Chronik. Sogar den Weg von vier Meilen nach Jüterbog hätten die Wittenberger Bürger nicht gescheut, „um so zu wunderherrlichen Gnadenmitteln zu gelangen“. Vier Meilen – das war vor 500 Jahren eine Tagesreise zu Fuß; heute entspricht die Entfernung zwischen Wittenberg an der Elbe und Jüterbog in etwa der Marathonstrecke von rund 43 Kilometern oder einer gemütlichen Tagesreise mit dem Fahrrad.

Luther-Tetzel-Weg heißt die gut markierte Route, und sie erinnert an die beiden Gegenspieler des Oktobers 1517. Tetzel, ein so übler Zeitgenosse wie genialer Prediger, lockte die Gläubigen in Scharen nach Jüterbog, wo er ihnen dermaßen erfolgreich Ablässe verkloppte, dass es in seinem berühmten Geldkasten nur so klirrte.

Wir erinnern uns: „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt!“ Krämer und Handwerker hatten einen halben Gulden für die Vergebung ihrer einfachen Sünden zu bezahlen. Acht Dukaten konnte ein Mord kosten, die Todsünde Vielweiberei immerhin sechs Dukaten. Der damit strapazierte Tetzelkasten ist heute in der wunderbaren Nikolaikirche in Jüterbog zu besichtigen.

Controller der Fugger wachten über Tetzels Einnahmen

Während Johann Tetzel im brandenburgischen Jüterbog ein Vermögen zusammenschwadronierte (über das mitgereiste Controller des Handels- und Geldhauses Fugger wachten), kamen dem Professor und Prediger Martin Luther im sächsischen Wittenberg die Buß- und Beichtfertigen abhanden, weil sich alle Welt auf nach Jüterbog machte.

Überragend – die Stadtkirche der Lutherstadt Wittenberg. Hier predigte der Theologe und Reformator.
Überragend – die Stadtkirche der Lutherstadt Wittenberg. Hier predigte der Theologe und Reformator.

© Jan Woitas/picture alliance/dpa

Eifersüchtig schnaubte Luther wider den Seelenausbeuter Tetzel, veröffentlichte schließlich seine Thesen in Wittenberg. Die Reformation nahm ihren Lauf, und Koofmich Tetzel bald Reißaus. So wurde Jüterbog, dialektisch gewendet, zum eigentlichen Geburtsort der Reformation, deren 500. Geburtstag im nächsten Jahr aufwändigst zelebriert wird, zumal in der Lutherstadt Wittenberg.

Den Weg der mittelalterlichen Pilger von hier nach Jüterbog müssen wir uns gefährlich und steinig vorstellen, womöglich vielfach verschüttet und in den Waldungen versperrt durch umgefallene Bäume. Reisende werden in ständiger Angst vor wilden Tieren und Räubern gewesen sein, die nach ihren Ablassgroschen trachteten. Wahrscheinlich sind viele von ihnen jedes Mal auf die Knie gefallen, wenn sich über milden Anhöhen allmählich die Kirchturmspitze eines sicheren Dorfes reckte, die Schritt für Schritt scheinbar immer höher wurde und näher kam. Den Ablasspilgern mag das wie die Mystifikation eines göttlich erhobenen Zeigefingers vorgekommen sein.

Winzige Dörfer scharen sich um ihre uralte Feldsteinkirchen

Auch heute kann die sinnliche Täuschung vom Sinken und Aufsteigen der Kirchturmspitzen wieder erleben, wer zwischen der Lutherstadt Wittenberg und Jüterbog zu Fuß oder per Fahrrad unterwegs ist. Hinter sehr, sehr milden Anhöhen scharen sich in den Senken teils winzige Dörfer rund um ihre uralten Feldsteinkirchen, deren Spitzen von Ferne zu flirren scheinen, im Wechselspiel von Sonne, Licht und Wolken.

Östlich von Wittenberg, auf einer 20 Hektar großen Weidefläche der örtlichen Kirchgemeinde, grasen, wiederkäuen und verdauen ein paar Rinder. Das wäre nicht bemerkenswert, wenn sie es nicht zwischen allerlei Skulpturen täten. Dort drüben, das könnte eine in die Pampa verlegte Wegkapelle sein, der Heilige ersetzt durch einen kokettierenden Löwen. Und hier – ein Schleifband aus Stahl, dessen Rostfarbe sich kernig gegen den Himmel und über das Weidegrün abhebt.

Während wir unsere Räder an eine stabile Liegende lehnen, die ihr Kleines umklammert, machen wir dort hinten an der Weggabelung Skulpturen aus, die Kunst sein könnten. Vielleicht aber auch nur ein zusammengekrachter Hochsitz überm verwitternden Baumstumpf.

Ein klobiges Gottestrumm ist St. Marien in Zahna

Einen kleinen Abschnitt teilt sich der Pilgerweg mit dem Fläming-Skate.
Einen kleinen Abschnitt teilt sich der Pilgerweg mit dem Fläming-Skate.

© Karlheinz Schindler/dpa

In Zahna baut sich St. Marien vor uns auf, ein dusteres und massiges Kirchengebäude, das auf Bruchsteinen ruht und mit Backsteinen vollendet und immer wieder ausgebessert wurden. Weil Seitenschiffe und Kirchtürme im 15. Jahrhundert zerstört und nie wieder hergerichtet wurden, wirkt St. Marien, Baujahr 978 (!), wie ein klobiges Gottestrumm. Dazu passt eine großartig verrostete Blechtafel an der Rückfront des Gotteshauses, die zu frevelhaftem Tun geradezu einlädt: „Ballspielen und Lärmen auf dem Kirchplatz ist verboten.“ Auf geht’s, Kinder!

Ausgangs der Ortschaft Zahna führt der Weg an einem klassizistischen Stiftsgebäude vorbei. Hier, im ehemaligen „Hospital zum Heiligen Geist“, können ortsansässige bedürftige Alte auch heute noch Zuschüsse aus einer alten Stiftung beantragen, die einst von sächsischen Herzögen eingerichtet wurde. Ein paar Häuser weiter ragt eine Satellitenschüssel über dem Musterexemplar einer Villa im Schweizerstil. Im sächsisch-brandenburgischen Grenzgebiet muss es im 19. Jahrhundert ein paar verrückte Wohlhabende gegeben haben, die ihre Fantasien in einer Architektur auslebten, welche sie für alpenländisch hielten.

Ungefähr zur gleichen Zeit montierte man gerne barockisierende Hauben auf romanische Kirchturmstümpfe, etwa wenn in die alten Türme der Blitz gefahren war. Auf dem Gottesacker in Naundorf umkreisen wir eine Feldsteinkirche mit halb runder Apsis, deren Schiff ein fachwerkverstärktes Ziegeldach schützt, assistiert vom barocken Turm – alles in allem ein überraschend wohlgeratenes Ensemble.

Ab Naundorf ist die Piste glatt asphaltiert

Etwas ungewöhnlich dagegen wirkt drüben am Straßenrand die Straußenherde. Die urzeitlichen Vögel lassen sich nicht aus der Ruhe bringen. Wie auf Kasernenhofkommando wenden sie neugierigen Fotografen Hälse und Schnäbel zu, absolut synchron getaktet, wie es scheint.

Ab der Ortschaft Naundorf (bei Seyda) ist die Piste bis zum Ziel Jüterbog so exzellent und glatt asphaltiert, dass sie zum Dorado für Skater geworden ist. Teilweise bildet der Pilgerweg zugleich den Radweg Berlin–Leipzig sowie den berühmten Fläming-Skate.

Markant ist die Nikolaikirche in Jüterbog wegen ihrer verschiedenen Türme.
Markant ist die Nikolaikirche in Jüterbog wegen ihrer verschiedenen Türme.

© Thilo Rückeis

Eine Holländerturmmühle ist am Ortsausgang von Naundorf zu bestaunen. Im Lauf der Jahrzehnte sind ihr die Flügel abhanden gekommen, nachdem es nichts mehr zu windmahlen gab. Ihre modernen Nachfolger spitzeln sich zu wahren Energiekolonnen nördlich über die kahlen Höhenzüge des Flämings, wo sich offenbar genügend Wind zu Strom und Geld machen lässt.

In Seehausen, ungefähr auf halber Strecke nach Jüterbog, haben engagierte Dorfbewohner eine kleine Kulturscheune eingerichtet, die für Familienfeste oder Veranstaltungen gemietet werden kann. Über den Zusammenhalt des 350-Einwohner-Dorfes spricht das Bekanntmachungsbrett Bände. Man backt gemeinsam Brot, feiert Karneval und Osterfeuer und trifft sich einmal im Monat zum Stammtisch, über dessen Fortgang – deutscher geht’s nimmer! – sogar ein Protokoll berichtet.

Ein hölzerner Storch zeigt die Geburt von Baby Arthur an

Das jüngste Stammtischprotokoll konnte von der aktuellen Sehenswürdigkeit des Dorfes freilich noch nicht berichten. Ein Storch nistet wieder auf dem Sakristei-Schornstein der örtlichen Dorfkirche, putzt das Gefieder, zupft am Nest, schaut sich um. Das Weibchen dürfte nicht weit sein.

Einen hölzernen Storch haben sie im Nachbarort Gölsdorf vor ein Haus postiert, in dem seit ein paar Wochen das Baby Arthur (neun Pfund, 57 Zentimeter) lebt – ein schöner, alter Brauch. Die Dorfschänke „Gastwirtschaft von Ernst Miething“ ist einen Steinwurf von der Dorfkirche mit seltenem Fachwerkturm entfernt. Das Wirtshaus verführt gerade zu albernen Wortspielen rund ums „Meeting“, wozu eventuell ein zusätzlich aufheiterndes sächsisches Köstritzer gereicht wird.

Weil die Bahnunterführung gerade komplett neu gebaut wird, ist es ein bisschen kompliziert, nach und aus Dennewitz herein- und herauszukommen. Unterm martialischen Denkmal vor der Kirche, das an eine wichtige Schlacht 1813 in den Befreiungskriegen erinnert, beratschlagen ratlose Herren, wie und wo sie nun demnächst eine Oldtimerrallye organisieren sollen. Sie sollten sich am Schlachtruf des siegreichen Grafen Bülow von Dennewitz orientieren: „Man drop, dat geiht fört Vaderland.“

Tipps für den Luther-Tetzel-Weg

Wölfe wie diese zwei Prachtexemplare aus einem Gehege im Wildpark Schorfheide leben auch im Naturpark Dübener Heide. Das zeigen Bilder aus Fotofallen.
Wölfe wie diese zwei Prachtexemplare aus einem Gehege im Wildpark Schorfheide leben auch im Naturpark Dübener Heide. Das zeigen Bilder aus Fotofallen.

© Patrick Pleul/dpa

BAHNVERBINDUNG

Ab Berlin Hauptbahnhof, Südkreuz und Lichterfelde Ost fahren IC- beziehungsweise Regionalzüge stündlich nach Lutherstadt Wittenberg und (über Jüterbog) zurück. Hin- und Rückfahrt rund 20 Euro. Fahrradtageskarte im Nahverkehr fünf Euro.

MARKIERUNG

Die Route ist bis auf eine Baustelle gut ausgeschildert. Diese Hürde tut sich hinter Dennewitz auf, wo es zurzeit keine Unterführung unter der Bahnstrecke in Richtung Oehna gibt. Erst an der Stelle, wo sich etwa eineinhalb Kilometer südlich mehrere Wege mit dieser Bahnstrecke gabeln, führt eine Straße über die Bahn und über Rohrbeck nach Jüterbog.

ORIENTIERUNG

Kompass-Fahrradkarte 3045 (Lutherstadt Wittenberg, Naturpark Dübener Heide); Maßstab 1:70.000, Preis 7,99 Euro.

ESSEN UND TRINKEN

Zwischen Wittenberg und Jüterbog empfiehlt sich mitgebrachte Wegzehrung. Die sehr vereinzelten Gasthäuser haben teils komplizierte Öffnungszeiten.

AUSKUNFT
luther-tetzel-weg.de

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