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Helle Nächte. Eine ganz eigene Magie liegt im Juli über den Seen Finnlands. Leider mögen auch Mücken diese Gegend.

© Stefanie Bisping

Finnischer Sommer: Krebse um Mitternacht

Im Sommer zieht es die Finnen aufs Land. Am liebsten in ein Haus am See.

Vorsichtig zieht Pasi Heinonen den Korb aus dem Wasser. Dunkelgraue Flusskrebse krabbeln in dem Drahtgestell. Fast liebevoll nimmt Heinonen zwei der Tiere in die Hand, zeigt sie den Besuchern. Dann setzt er die Krabbler in den See zurück. Sie haben Glück, denn der Krebszüchter hat es eilig, er will die Sauna anheizen. Wie man das in Finnland öfter macht.

Heinonen hat 1995 den bei Vilppula im Westen Finnlands gelegenen Hof Koivulahden Rapukartano übernommen, damals Standort einer kleinen Milchwirtschaft. Zu klein für das große Dickicht von EU-Vorschriften, wie er bald feststellte. Er verkaufte die Kühe und verlegte sich auf Krebse. Heute ist seine Krebsfarm eine der größten der Region. Und weil er noch mehr Ideen hatte, richtete er 2006 im Haupthaus des Hofs sieben Gästezimmer ein. Im vergangenen Jahr baute er mit „Merta“, was auf Finnisch Krebsfalle bedeutet, ein weiteres Gästehaus. Nur eineinhalb Kilometer von seinem Hof entfernt wurde Heinonen geboren; sein ganzes Leben hat er in Vilppula verbracht. Wegzugehen kam für ihn nie infrage: „Ohne den Frieden der Natur und ohne den See vor meiner Tür könnte ich nicht leben“, erklärt der 48-Jährige.

Im Sommer erreicht auch Finnlands Stadtbevölkerung diese Gemütslage. Am Wochenende liegen die Straßen Tamperes, der nach Helsinki und Espoo drittgrößten Stadt des Landes, dann so verlassen, als liefe im Fernsehen gerade das Endspiel der Fußball-WM. Kein Lärm lichttrunkener Nachtschwärmer zerreißt die Stille. Es ist schlicht niemand da. Stadtflucht ist ein reales Phänomen des finnischen Sommers. Am ruhigsten wird es in der Johannisnacht, der hellsten des Jahres. Dann strebt alles aufs Land, und selbst Helsinki erlebt eine stille Nacht. Jeder hat einen Verwandten, der ein Blockhaus in der Wildnis besitzt, und wenn tatsächlich weder die Großmutter noch der Cousin eines haben, dann mietet man sich eine Hütte. Auch die Nächte, in denen es zwischen Mitternacht und Morgen nicht nur dämmert, sondern ein wenig dunkelt, verbringt der Finne nach Möglichkeit in der Natur. Und das bedeutet: in einem Holzhaus mit Sauna am See.

Der Papiermillionär von Mänttä

Der Weg in die Wildnis führt durch Nadel- und Birkenwälder, die durch Elchschutzzäune von der Landstraße getrennt sind. Immer wieder führt eine Abzweigung zu einzelnen, weit abseits gelegenen Holzhäusern. Es sind die Außenbezirke der Kleinstadt Mänttä-Vilppula, 85 Kilometer nordöstlich von Tampere, die aus zweien hervorging: dem ländlichen Vilppula und dem industriell geprägten Mänttä, das sich im 19. Jahrhundert als Standort einer Papierfabrik einen Namen machte. Heute ist Mänttä trotz seiner übersichtlichen Größe – 11 000 Menschen leben hier und in Vilppula – Museumsstadt und Schauplatz der allsommerlichen Kunstwochen, einem der wichtigsten Festivals Finnlands für zeitgenössische Kunst. Und obwohl es hier noch immer zwei Fabriken gibt, die Toilettenpapier und Metall herstellen, liegt Mänttä wie ein von der Gegenwart kaum berührtes Dorf in der endlosen Abendsonne.

Ende des 19. Jahrhunderts war der Bedarf an Papier so grenzenlos wie die Wälder Finnlands, das durch seinen Holzreichtum zur modernen Industrienation aufstieg. Der als Selfmademan und frühindustrieller Magnat zu zwiespältigem Ruhm gekommene Sägewerkbesitzer und Fabrikgründer Gustaf Adolf Serlachius (1830–1901) verwandelte das Dorf Mänttä in eine prosperierende Stadt. Menschen aus dem ganzen Südwesten suchten hier Arbeit und Auskommen. Obwohl ihm im persönlichen Leben kein Glück beschieden war – seine fünf Kinder fanden durch Alkohol, Syphilis, Selbstmord oder Kombinationen daraus ein Ende –, er zudem als außerordentlich zänkisch und unangenehm galt, wurde der Papiermillionär zum Kunstliebhaber und Förderer finnischer Künstler.

Sein Neffe und Erbe Gösta Serlachius erweiterte die Sammlung und hinterließ sie seinerseits einer eigens dafür gegründeten Stiftung. Seit kurzem ist sie nicht mehr in Göstas schmucke, in den dreißiger Jahren erbaute Villa am See Melasjärvi gezwängt. Dem ehrwürdigen Herrenhaus wurde eine postmoderne, stellenweise bis elf Meter hohe Konstruktion aus Holz und Glas an die Seite gestellt. Hier haben auch die Warhols und Liechtensteins aus dem Besitz des Gösta-Museums einen guten Platz gefunden.

Zum Schlafen ist der Winter da

In Mänttä selbst ist die Luft schwer vom Duft der Rosen, die sich durch hohe Dosen Tageslicht zügellos entwickeln. Vor der Kirche steht die Dorfjugend, trinkt Bier und kurvt mit frisierten Mofas geräuschvoll um den Platz. Nachtsonne und Blütenduft wirken wie Rauschmittel. Auch so erklären sich Mittsommerbräuche wie jener, in der hellsten Nacht des Jahres nackt über ein Feld zu laufen. Dabei begegne man dem künftigen Ehepartner – oder aber der Polizei. Alternativ legt man sich sieben verschiedene Blumen unters Kopfkissen, auf dass der oder die Zukünftige sich im Traum zeigen möge. Dieser Brauch widerspricht allerdings dem Grundsatz finnischer Sommernächte: aufbleiben und Licht genießen.

Zum Schlafen ist der Winter da. Im Sommer soll man schwimmen, fischen, Kanu fahren und Beeren pflücken. Das macht wach und wagemutig, wie Jyri Peltola feststellte, als er vor zehn Jahren in der Nähe von Mänttä die Insel Latosaari erwarb. Damals arbeitete er als Ingenieur häufig im Ausland. „Da begriff ich erst, wie schön unsere Natur in Finnland ist.“ Jyris Eltern leben 600 Meter von hier.

„Es gab nichts auf der Insel außer Bäumen“, sagt er. Vor zweieinhalb Jahren beschloss er, das zu ändern, und begann mit dem Bau eines Luxus-Blockhauses. „Es war das Furchterregendste, was ich je gemacht habe“, erklärt er. „Der Papierkram war unglaublich.“ Permanent wohnen darf er nicht in dem Haus mit weißen Böden, schwarzen Treppen, offenem Kamin, Wohnküche mit Glasfront zum See und vier Schlafzimmern; das würde eine neuerliche bürokratische Großlage bedeuten. Also vermietet er das Haus an andere Natursüchtige.

Monet hyttysiä täällä – viele Mücken hier

Es ist zwar keine typische, wohl aber eine äußerst dekorative Kulisse für finnische Sommernächte. Über einen hölzernen Steg erreicht der Zivilisationsflüchtling die Insel und lässt auf diesem Weg binnen weniger Minuten den Alltag vollständig hinter sich. Alles spielt sich hier im Miniaturkosmos von Sauna und See ab; zwischen Schwitzbad und Sprung ins Wasser tritt man an die Feuerstelle vor dem Haus, um der Natur auch in jenen Aufwärmphasen nahe zu bleiben, die das Klima hier zu jeder Jahreszeit erforderlich macht. Nicht lange nach Mitternacht färbt sich der Horizont rot, die Vögel stimmen einen frenetischen Morgengesang an. Er dauert an, bis die Zeit für Kaffee und dunkles, süßes Brot mit Butter kommt.

Vögel sind nicht die einzigen Tiere am See. Monet hyttysiä täällä – viele Mücken hier, heißt es sommers in Finnland oft. Auch sie nehmen das Jedermannsrecht in Anspruch, das jedem Finnen Zugang zur Natur gewährt. Am Wasser fühlen sich die Viecher wohl, und das bedeckt in Form der Finnischen Seenplatte große Teile des Südens. Die wettkampfliebenden Einheimischen tragen daher nicht nur Weltmeisterschaften im Schlammfußball oder Ehefrauenschleppen aus, sondern auch im Erschlagen von Mücken.

In dieser Sommernacht halten sich die Flugbewegungen im Rahmen. Denn trotz der ausdauernden Abendsonne wird die Nacht kalt. So kalt, dass nur wenige Mücken die Energie aufbringen, überhaupt aufzustehen. Umso besser für jene, die aufbleiben.

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