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Possierliche Flieger. Papageientaucher standen doch tatsächlich bis vor einer Zeit noch auf dem Speisezettel der Bewohner von Grímsey.

© imago/blickwinkel

Grímsey: Clowns der Lüfte

Auf dem isländischen Inselchen Grímsey sind abertausende Vögel zu beobachten. Touristen kommen jedoch vornehmlich, um am Polarkreis zu stehen.

Zweieinhalb Tonnen Fisch. Kein schlechter Fang. Die isländische Schiffseignerin Rannveig Vilhjálmsdóttir könnte zufrieden sein. Vom Kai des Hafens der kleinen Insel Grímsey beobachtet sie, wie ihre Männer Kisten mit Seewolf, Rotbarsch, Kabeljau und Schellfisch von Bord hieven. „Besser als nichts“, grummelt die Unternehmerin, der drei moderne Kutter gehören.

Das 41 Kilometer von der Nordküste Islands entfernte Grímsey liegt in einer der fischreichsten Zonen des Nordatlantiks. Nur knapp 100 Menschen wohnen auf dem gut fünf Quadratkilometer großen, überwiegend mit Gras bewachsenen Vulkanfelsen. Die Familien sind zumeist miteinander verwandt oder verschwägert. Fast alle leben vom Fisch. Und das offenbar sehr gut. Die Bewohner verfügen angeblich über das höchste Pro-Kopf-Einkommen Islands. Kein Wunder, dass Grímsey auch schon mal als die „Insel der Millionäre“ bezeichnet wird. Rannveig Vilhjálmsdóttir kann darüber herzlich lachen. Ob es stimmt, das will die Mittdreißigerin, deren Handy pausenlos klingelt, nicht verraten.

Immer mehr Touristen besuchen das sturmumtoste, karge Inselchen. In den Sommermonaten sind sie tagsüber in der Überzahl, abgesehen von zigtausend Seevögeln, die in den steilen Felsen entlang der Küste brüten. Sehenswürdigkeiten gibt es nicht auf dem Eiland, das der Legende nach von bösen Trollen erschaffen wurde und seit der Wikingerzeit besiedelt ist. Dass dennoch Gäste aus aller Welt hierher finden, hat vor allem einen Grund: Grímsey liegt auf dem Polarkreis, der die Insel im Norden durchschneidet. Nur ein mehrere hundert Meter langer Zipfel ragt in die arktische Zone hinein. Das hat die Hauptinsel Island nicht zu bieten.

Sie lieben Touristen

Die Bewohner machen damit also ein gutes Geschäft, verkaufen „Polarkreiszertifikate“ und entsprechende T-Shirts. Auch Lian aus Hongkong hat beides erstanden, jetzt braucht sie noch ein Gruppenfoto. Gemeinsam mit ihren Freunden posiert sie vor einem Schild, das die Entfernungen nach New York (4445 km) und Sydney (16 317 km) anzeigt. Es ist das meist fotografierte Motiv der Insel.

Yeah, am Polarkreis angekommen!
Yeah, am Polarkreis angekommen!

© Ulrich Willenberg

Rannveig Vilhjálmsdóttir ist gerne behilflich und schießt einige Bilder von der chinesischen Reisegruppe. „Wir lieben Touristen“, sagt sie. Vor allem, wenn sie Geld dalassen. Zum Beispiel in ihrem Gästehaus „Básar“ einige Meter südlich des magischen Polarkreises. Die ganzjährig geöffnete Pension, die sie in Kooperation mit vier Frauen betreibt, liegt direkt am Flughafen.

Der wird mehrmals die Woche von der Stadt Akureyri aus angeflogen – sofern das Wetter es zulässt. Auf dem Rollfeld haben sich wieder einmal Hunderte von Küstenseeschwalben niedergelassen. Und so müssen die Vögel erst einmal verscheucht werden, bevor die kleine Maschine landen kann.

Die Schwalben attackieren

Von Akureyri sind es nur 100 Kilometer Luftlinie bis nach Grímsey. Ein Katzensprung. Die Seeschwalben haben dagegen einen Langstreckenflug von bis zu 20 000 Kilometern vom Südpolarmeer hinter sich, wenn sie im

Frühjahr erschöpft auf der Insel landen. Und das, nur um ein bis drei gefleckte Eier auszubrüten und im Spätsommer wieder zurückzufliegen ans andere Ende der Welt. In Island gelten die nur vier Zentimeter kleinen Eier als Delikatesse. Der Inselladen bietet sie für 200 Kronen zum Verkauf an. „Wir essen sie gerne gekocht mit Zucker drauf“, erzählt Rannveig Vilhjálmsdóttir.

Die Küstenseeschwalben wissen sich allerdings zu wehren. Da sie nicht zwischen Touristen und Eierdieben unterscheiden können, attackieren sie alles, was sich in der Nähe ihrer Nester bewegt. Szenen wie aus Hitchcocks Horrorfilm „Die Vögel“ spielen sich denn auch auf Grímsey ab. Im Steilflug stürzen die eleganten Schwalben pfeilschnell herab und hacken mit ihren langen, spitzen Schnäbeln in ungeschützte Köpfe.

Auch Kinder greifen die Vögel an. Ein kleines Mädchen fängt an zu weinen und hält schützend die Arme über seinen Kopf. Ein Junge, der gerade ein Ei aus einem Nest gemopst hat, fuchtelt zur Abwehr mit einem Spielzeuggewehr in der Luft herum. Im Gästehaus „Básar“ sind sie auf diese Situationen eingestellt – und verteilen zum Schutz durchsichtige Regenschirme an Touristen.

"Ich drehte ihnen den Hals um"

Gut beschirmt. Grímsey-Besucher schützen sich vor Attacken der Seeschwalben.
Gut beschirmt. Grímsey-Besucher schützen sich vor Attacken der Seeschwalben.

© Ulrich Willenberg

Friedlich sind dagegen die Papageitaucher, die in Grasnaben am Rand der 100 Meter hohen Steilküste brüten. Neugierig hocken sie vor ihrem Bau und blicken mit ihren bunten Clownsgesichtern in die Objektive der entzückten Touristen. Dass sie so zutraulich sind, wurde in der Vergangenheit manchen der possierlichen Tiere zum Verhängnis. Denn viele Isländer hatten Papageitaucher zum Fressen gern. Immer im Juli machten die Bewohner von Grímsey Jagd auf die drolligen Vögel, die sich mit Netzen leicht einfangen ließen. Nicht zuletzt, weil das bei den Besuchern gar nicht gut ankam, unterlassen es die Insulaner seit einiger Zeit.

Doch auch Rannveig Vilhjálmsdóttir war immer mit dabei. „Ich drehte ihnen dann den Hals um“, sagt sie lachend und macht dazu die entsprechende Handbewegung. Lian aus Hongkong reagiert entsetzt. „Aber die sind doch soooo süß“, ruft sie aus. Rannveig hat allerdings ein eher unsentimentales Verhältnis zu Tieren. „Für uns sind sie eigentlich wie Fliegen“, sagt sie abfällig.

Tatsächlich sind die Papageitaucher so zahlreich, dass ihr Bestand nicht gefährdet ist. Anders dagegen die seltenen Krabbentaucher, die keinesfalls gejagt werden dürfen. Sie sind in Island nur auf Grímsey zu finden, wo noch etwa 30 weitere Seevogelarten in den Felswänden brüten. Nicht zuletzt deshalb ist die Insel besonders auch bei Hobbyornithologen beliebt.

Im Winter wird es ungemütlich

Die meisten Besucher, die morgens mit der Fähre von Dalvík kommen oder von Akureyri einfliegen, bleiben nur einige Stunden. Mehr Zeit bedarf es auch nicht, um das baumlose Eiland zu Fuß zu umrunden. Nachmittags fährt das Schiff zurück aufs „Festland“, wie die Menschen auf Grímsey die Hauptinsel nennen.

Im Herbst und Winter wenn Stürme über den Nordatlantik toben, ist das kleine Eiland ein eher ungemütlicher Ort. Hell wird es dann nur für einige Stunden, und oft versinkt die Insel tagelang im dichten Nebel. Viele Isländer werden schwermütig in dieser Zeit. Für Rannveig ist das kein Thema: „Es gibt immer was zu tun“, heißt ihr Rezept gegen die winterliche Seelenfinsternis.

Wird es einem Insulaner mal langweilig, promeniert er schon mal auf der drei Kilometer langen Straße vom Dorf zum Flugplatz. Wie gerade eben der Besitzer eines PS-starken amerikanischen Boliden. Hallenschwimmbad und Bibliothek sorgen ebenso für Abwechslung wie die örtlichen Männer- und Frauenclubs.

Es gibt keinen Pfarrer, und keinen Polizisten

Die beliebteste Freizeitbeschäftigung auf Grímsey ist jedoch das Schachspielen. Der amerikanische Gelehrte Daniel Willard Fiske, der die Insel 1879 besuchte, schenkte damals jeder Familie ein Brett mit Figuren. „Heute lernen die Kinder Schach im Unterricht“, erzählt die vierfache Mutter Rannveig. Neun Jungen und Mädchen sind es zurzeit, die in der Inselschule unterrichtet werden.

Auf geistlichen Beistand müssen die Menschen auf Grímsey die meiste Zeit des Jahres verzichten. Es gibt zwar eine Kirche, deren Altar die Kopie eines Werkes von Leonardo da Vinci ziert, aber keinen ortsansässigen Pfarrer. Der letzte war ein früherer Profifußballer aus Schottland. Doch das ist bereits mehr als 50 Jahre her. Jetzt kommt ein Pfarrer nur zu besonderen Festtagen.

Einen Polizisten gibt es nicht auf der Insel, die seit April 2009 zur Stadt Akureyri gehört. Das ist auch nicht nötig, denn die soziale Kontrolle ist groß. „Jeder kennt jeden“, sagt Rannveig. Sie erinnert sich nur an ein Ereignis, das die Polizei vom „Festland“ anrücken ließ. In einem verlassenen Haus am Rande des Dorfes war offenbar ein Brand gelegt worden. Wer war’s? Der Fall blieb ungelöst.

Tipps für Island

ANREISE

Die isländische Wow Airlines fliegt in knapp vier Stunden nonstop von Berlin-Schönefeld nach Reykjavik (Ende Juli ab 400 Euro). Weiter mit Mietwagen, Bus oder Flugzeug nach Akureyri beziehungsweise Dalvík. Von Dalvík mit dem Schiff montags, mittwochs, freitags um 9 Uhr nach Grímsey (samskip.is). Die Überfahrt dauert etwa drei Stunden. Um 16 Uhr fährt das Schiff zurück.

UNTERKUNFT

Gästehaus Gullsól (Telefon: 003 54 / 467 / 31 90), am Hafen gelegen, acht Zimmer.

Pension Basár (Telefon: 003 54 / 467 / 31 03), am Flugplatz. Doppelzimmer: 16 000 Kronen, etwa 110 Euro. Beide Häuser sind ganzjährig geöffnet.

AUSFLÜGE

Vermutlich werden Islandurlauber vorwiegend auf der Hauptinsel bleiben wollen. Die schöne Stadt Akureyri im Norden ist in jedem Fall einen Aufenthalt wert. Und von hier kann man auch nach Grímsey fliegen (airiceland.is).

Der Veranstalter Dertour hat in Akureyi mehrere Unterkünfte im Programm. Zu empfehlen: Übernachtung auf der Farm Petursborg nördlich der Stadt mit herrlichem Blick auf den Fjord. Die Nacht im Doppelzimmer kostet pro Person ab 56 Euro.

PAUSCHALEN

Rundreisen in Island bieten eine ganze Reihe von Veranstaltern an, individuell mit Leihwagen und gebuchten Hotels oder auch mit einer Reisegruppe im Bus. Beratung im Reisebüro.

AUSKUNFT

Isländisches Fremdenverkehrsamt in Berlin, Telefon: 030 / 50 50 42 00, Internet: visiticeland.com oder grimsey.is

Ulrich Willenberg

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