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Alles, was die See hergibt. Auch die Jakobsmuschel zählt zu den Delikatessen, die Gourmets in der Lagunenstadt kredenzt bekommen.

© M. Schmerbeck, picture alliance

Frutti di Mare in Venedig: Nur das Beste aus dem Netz

Venedig steht nicht nur für Gondelfahrten und Karneval. Vor allem Feinschmecker stellen fest: Die Lagune liefert delikate Überraschungen.

Es gibt in Venedig tatsächlich noch Menschen, die nicht nur Karnevalsmasken verkaufen, Spaghetti alle vongole servieren oder Boote durch Kanäle steuern. Einer dieser Menschen ist Domenico auf der Insel Torcello, der, wie die meisten hier, nur beim Vornamen genannt werden will. Der braun gebrannte Lockenkopf ist Fischer im Norden der Lagune, einem 550 Quadratkilometer großen Gewirr aus Inseln, Flachwasser, Kanälen und Sandbänken rund um die Stadt. Und er ist zugleich einer der letzten zwei Dutzend Männer, die noch Moeche fangen, jene drei, vier Zentimeter kleinen Krebse, mit denen es eine eigene Bewandtnis hat: Zwei- bis dreimal im Jahr stoßen sie ihren alten Panzer ab, und es dauert einige Stunden, bis der neue sich verfestigt. Genau während dieser Zeitspanne sind sie essbar und gelten, vor allem im Ganzen fritiert, als Delikatesse.

Domenico zieht einen Drahtbehälter aus dem Wasser an seinem Bootsanleger, in dem es grün- und bräunlich durcheinanderkrabbelt und -kreucht. Es ist die Ausbeute der zurückliegenden Tage, ausgesucht aus insgesamt 50 Kilo Krebsen, die er aus seinen Reusen geholt hat. Jeden Tag kippt der Fischer seinen ganzen Fang über eine schräge, hölzerne Rinne und pickt mit sicherem Blick die Exemplare heraus, die etwas breitere Spalten zwischen ihren Panzergliedern aufweisen – ein Zeichen, dass der Wechsel bevorsteht. Der Rest wandert zurück ins Meer. Zweimal am Tag kontrolliert er die Auswahl – und all die, die ihre Rüstung abgelegt haben, kommen am Morgen sofort zum Fischmarkt nach Venedig. Immerhin 60 Euro zahlen die Händler derzeit für das Kilo. Der Feinschmecker aber legt bis zu 100 Euro dafür hin, wenn die Tiere mal besonders knapp sind.

Fische, Krebse, Muscheln, Krabben – alles, was die See hergibt, spielte in Venedig immer schon eine große Rolle. Da ist es naheliegend, die Arbeit mit den Früchten des Meeres einmal in den Mittelpunkt einer eigenen Reise zu stellen. Der Besuch bei den Lagunenfischern ist der Auftakt zu drei intensiv genutzten Tagen rund um dieses Thema.

In der Lagune werden Fische und Muscheln immer weniger

Domenicos Kollege Damiano fischt auf Venusmuscheln. Mit dem Boot zieht er einen eisernen Fangkäfig über den Grund der Lagune, dessen Kamm die im Schlick steckenden Muscheln hochwirbelt – eine bei Naturschützern höchst umstrittene Methode. Früher, schwärmt der Mann von der Insel Burano, früher waren die Fischer noch zwei, drei Wochen unterwegs. Sie schliefen auf ihren kleinen, flachen Ruderbooten und hälterten ihren Fang in Reusen. Was war das für ein Leben! Als man lernte, Fisch zu kühlen, wurden sie sogar richtig wohlhabend. Heute gibt es noch rund 150 Fischer im nördlichen Teil der Lagune, dreimal so viele arbeiten im Süden, aber die fahren meist hinaus auf die Adria und bringen Thun- und Schwertfisch mit nach Hause.

In der Lagune werden Fische und Muscheln immer weniger. Zudem schreibt die EU größere Maschen bei Netzen vor, so dass viele der kleinen Grundeln, Meeräschen und Flundern durchrutschen, die auch einen Teil des Fangs ausmachen. Es werde Zeit, sich eine Pension oder ein Stück Land zu suchen, meint Damiano. Ohne ein zweites wirtschaftliches Standbein gehe es bald nicht mehr.

Das Zentrum für alles, was mit Fisch und Meeresfrüchten zu tun hat, ist in Venedig der Fischmarkt an der Rialto-Brücke. Natürlich kann man sich in den beiden schattigen, neogotischen Hallen einfach nur von Farben und Formen berauschen lassen: dem Blassrosa der Rochenflügel, dem verrußten Weiß der Tintenfische, dem goldenen Bronze der Grundeln. Hell ausgeleuchtet wie Stars liegen mürrische Knurrhähne, staksige Seespinnen und enthäutete Haie auf Eis. Gestählt im Feuer der Blitzlichtgewitter der Touristen schneiden die Verkäufer ungerührt daumendicke Koteletts vom Thun, säubern Rotbarben, dass die Schuppen spritzen, klatschen steingraue Seezungen in Pergament – und finden immer noch Zeit für eine Zigarette und einen Witz, scharf beobachtet von ondulierten venezianischen Damen, denen der Fisch einfach nie frisch und nie billig genug sein kann.

Ein Markttag geht erst mit einem Glas Prosecco zu Ende

Man kann sich aber auch einer Führerin wie Maria Grazia Calò anvertrauen, die ein paar Straßen weiter wohnt und einige Jahre lang als Köchin im italienischen Fernsehen auftrat. Dann nimmt sich Marco, der nur die frischeste Ware aus der Lagune anbietet und die höchsten Preise verlangt, ein wenig Zeit, um zu erklären, warum er seinen Beruf als technischer Zeichner aufgab und sich nur noch dem Fisch widmet. Sein Kollege zeigt schnell, wie man einen St. Petersfisch fachgerecht filetiert. Und man erfährt, dass eine Spezialität der Insel Murano so entstand, dass die Glasbläser am Ende des Tages gern mal einen Aal in den noch heißen Ofen schoben. Und dass es in Venedig keinen Räucherfisch gibt, weil jede Art von offenem Feuer in der Stadt seit 20 Jahren strengstens verboten ist – weshalb auch nirgendwo eine Pizza aus dem Holzofen zu finden ist.

Auch das Marktvolk war einst tagaus, tagein mit seiner Arbeit verbunden. Die Männer schliefen hinter den Ständen und nahmen einen Imbiss in einer der „Bácaris“ ein, die sich ringsum angesiedelt hatten. Und immer noch geht ein Markttag für Händler wie Besucher erst mit einem Glas Prosecco und ein paar „Cicchetti“ stilgerecht zu Ende: Schnittchen mit Sardellen, Stockfischcreme oder Salami und Gorgonzola im „Arco“, fritierte Polpetti mit Fleisch oder Thunfisch und eine Portion „Mozzarella in Carozza“ in der Cantina do Spade.

Überhaupt dürfen die Teilnehmer der kulinarischen Reise, an der wir teilnehmen, so ausführlich kosten und schlemmen, wie es das Thema verlangt. Mal werden Platten mit Meeresschnecken, gratinierten Muscheln und roten Krabben im Edellokal neben dem Markusplatz aufgefahren, mal kommen Scampi-Risotto, Krakensalat und Carpaccio vom Schwertfisch in einer abgelegenen Weinschänke auf den Tisch, in die sich nur wenige Touristen verirren.

Gänsehautgefühle am laufenden Band

Und es bleibt ihnen immer noch genügend Zeit, auf eigene Faust in diesem verwunderlichen Labyrinth namens Venedig herumzustromern und immer wieder neue, berührende Bilder aufzutun: Paläste in edlem Granatapfelrot, Fassaden, von denen sienagelb der Putz bröckelt, Ruinen vom Regengrau eines trostlosen Novembertages. Venedig ist eine Stadt, die in den wärmsten Farben holländischer Meister leuchtet und gleich daneben die Tristesse eines Film-Noir-Streifens ausstrahlt. Und sie schafft Gänsehautgefühle am laufenden Band: schmachtende Liebe bei der Fahrt mit der Gondel. Erhabenheit beim Anblick des Sonnenuntergangs hinter San Giorgio Maggiore. Und gelindes Entsetzen beim Blick auf die Espressorechnung am Markusplatz.

Maria Grazia Calò und Sebastiano Molani kochen aus Leidenschaft.
Maria Grazia Calò und Sebastiano Molani kochen aus Leidenschaft.

© Franz Lerchenmüller

Es gibt so viel zu sehen, zu kosten, zu erfahren bei diesem Besuch. Und am dritten Tag dürfen die Liebhaber kulinarischer Freuden sogar selbst mit Hand anlegen. Die Wohnung besagter Maria Grazia ist riesig groß und liegt in einem unscheinbaren Haus aus dem 16. Jahrhundert. Putten und Stillleben zieren die Wände, Orientbrücken decken den Boden, und von der bemalten Balkendecke in zehn Meter Höhe hängt ein gewaltiger Lüster aus Muranoglas.

In der modernen Küche treffen die Reisenden die Hausherrin und Sebastiano Molani von der Kochschule „Peccati di gola“ – was mit Sünde der Völlerei übersetzt werden kann. Und gleich sind alle eingebunden, hacken Schokolade für eine „Zabaione Chantilly“, pieksen mit dem Zahnstocher Därme aus Scampi und lernen, dass der Teig für ausgebackene Zucchiniblüten erst im letzten Moment angerührt werden darf.

Als der Wolfsbarsch im Ofen köstlich zu duften beginnt und Sebastiano auf einer großen Platte die „Taglioni Mercato di Rialto“ in den Salon trägt, bricht es aus einem der Reisenden spontan heraus: „Jemand hat einmal aus Diätgründen zwei Wochen lang auf Süßes, Fett und Alkohol verzichtet. Als man ihn fragte, wie es war, sagte er: ,Ich habe in zwei Wochen vierzehn Tage verloren.‘ Bei uns ist das anders. Wir haben in drei Tagen 72 Stunden pralles Leben gewonnen.“

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