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Pizzo, nah am Wasser gebaut. Wer nach dem Stadtrundgang baden will, kann ins Meer tauchen. Auch im Spätherbst ist es noch angenehm warm.

© Vario images

Kalabrien: Sommer auf Schellack

Wer Italien wie in den 60er Jahren erleben will, fährt nach Kalabrien. zu Badebuchten, Piazzen und Tartufo-Eis.

Niemand kauft ein Bild an diesem Sonntagnachmittag. Dabei haben die Künstler, die neben ihren Werken auf der Piazza della Repubblica sitzen, so schön gemalt, was man auch in Wirklichkeit bewundern kann. Da ist der ovale Platz mit den ehrwürdigen Häusern drumherum, violette Glyzinien ranken sich an altem Gemäuer empor, bunte Blumentöpfe hängen verwegen an schiefen Balkons, und unterhalb der Aussichtsterrasse blinkt das tintenblaue Tyrrhenische Meer. Es hilft nichts. Wer nach Pizzo fährt, kümmert sich kaum um Kunst - die meisten wollen hier nur Süßes essen. Etwa zehn Eisdielen umgeben die Piazza - und jede wirbt für Tartufo-Eis.

In der Bar Ercole steht Franco hinter seinem Tresen und zeigt mit Grandezza, wie man eine Vanilleeiskugel mit bitterer Schokoladensoße füllt, sie dann mit einer Schicht Schokoladeneis umhüllt und zu guter Letzt mit Kakao bestäubt. Eine Riesenportion nach der anderen dekoriert Franco auf die Teller, und flugs werden sie von den Kellnern serviert. 4,50 Euro kostet das Naschwerk, und die Gäste finden den Preis in Ordnung . "Sie sehen ja, wie viel Arbeit drinsteckt", sagt eine Italienerin und setzt genießerisch den Löffel an.

Dass die Menschen hier in Tartufo schwelgen können, verdanken sie dem Prinz von Savoyen. Irgendwann Ende des 18. Jahrhunderts hatte man ihn eingeladen, und natürlich wollte man dem hohen Gast aus Turin etwas Besonderes bieten. Im Piemont, das wusste man, aßen sie gern Trüffel und Schokolade. Und so erfanden sie an Italiens Stiefelspitze die Köstlichkeit, die wie ein Riesentrüffel aussieht und süß wie die Sünde ist. Wird Tartufo auch in Rom, Mailand oder Turin fabriziert? "Aber nein", sagt Franco und schüttelt entsetzt den Kopf. "Originales, handgemachtes Tartufo gibt es nur in Pizzo."

Kalabrien hat eben Geschmack. Auch die milden roten Zwiebeln prägen ihn. Zweimal im Jahr, im April und im Oktober, werden sie geerntet. Zwei Wochen trocknet man sie, dann kommen sie, zu Zöpfen gebunden, in den Verkauf. "Vor einigen Jahren haben wir noch welche nach Deutschland exportiert", sagt der Produzent Francesco Schiariti. Doch nun importierten die Deutschen diese Zwiebelart nur noch aus Ägypten. Dort seien "die Roten" billiger, aber keinesfalls so mild und aromatisch wie die kalabrischen.

Zwiebelkompott passt gut zum Pecorino, jenem milden Schafskäse, den Gennaro Arena auf seinem Hof herstellt. Ein Familienbetrieb, wie so viele in Kalabrien. 270 Schafe besitzt Gennaro, und die liefern die Milch für den Käse. Stundenlang rührt der 62-Jährige mit einem langen Holzlöffel die Flüssigkeit im Bottich. Was ist drin, damit Pecorino draus wird? "Schafsmilch, etwas Salz, e basta", sagt der alte Mann lächelnd. Im kleinen Verkaufsraum kann man auch Ricotto verkosten und die köstlich-scharfe Chiliwurst N'duja.

"Höchstens einmal in der Woche fahren wir zum Supermarkt", sagt Reiseführerin Enza Giavante, "das meiste kaufen wir am Straßenrand." Dort gibt's knackfrisch, was die Bauern der Region geerntet haben. Alles genauso, wie es schon in den 60er Jahren war. Überhaupt, wer einen nostalgischen Italienfilm drehen will, findet in Kalabrien die perfekten Kulissen. Die Autos sind älter und kleiner als sonst im Land. Für die Gassen von Tropea etwa, das auf einem Felsen oberhalb des Meeres thront, ist nur der alte Fiat 500 richtig passend. Schon mit dem neuen Cinquecento muss man höllisch aufpassen, um nicht anzuecken.

Aber wer will in Tropea schon im Auto sitzen? Viel schöner ist es doch, auf dem Corso Vittorio Emanuele zu schlendern. Kein schicker Boulevard ist das, sondern ein liebenswürdiger Laufsteg, auf dem Jungs ihre nachtschwarzen Sonnenbrillen zeigen, Mädchen kurze, wippende Röcke, ältere Herrschaften Eleganz und Würde. Da ist immerwährendes Schwatzen vor kleinen, kruscheligen Läden, da wird gestikuliert - und viel gelacht. Eine herrliche Bühne des Lebens, die man von der Piazza Ercole aus stundenlang betrachten möchte. Zahlreiche Adelspaläste stehen in Tropea, doch einige von ihnen bröckeln schon bedrohlich vor sich hin. Gelder der EU, so hat es den Anschein, sind hier bisher nur spärlich eingetroffen.

Kalabrien liegt noch im Dornröschenschlaf und hat doch das, was man als "touristisches Potenzial" bezeichnet. Kein Ort ist weiter vom Meer entfernt als 50 Kilometer. Die Küste ist geprägt durch viele Sandbuchten, die im Hochsommer mit bunten Sonnenschirmen dekoriert sind. Am Capo Vaticano, einem hoch gelegenen Aussichtspunkt mit Caféterrasse, weiß man nicht, was schöner ist: unten im Liegestuhl ruhen oder oben bleiben und den Blick in die Ferne schweifen lassen. Zum Stromboli zum Beispiel, der dann und wann Feuer spuckt und dessen Ascheregen auch auf dem Festland niedergeht. "Dann nehmen wir beim Spazierengehen eben den Regenschirm", sagt Enza.

Im Landesinneren haben die Kalabrier mit dem Sila-Gebirge eine grüne Lunge mit Buchen-, Föhren- und Kastanienwäldern. Irgendwo hier liegt das Dörfchen Serrastretta. Damit die Touristen kommen, haben die Bewohner ein Handwerksmuseum eingerichtet. Dort zeigen sie - oft in alter Tracht -, wie man klöppelt oder einen Stuhl zimmert und ihm eine ordentliche Sitzfläche flicht. Ein paar Häuser weiter kann man in den 60er, 70er Jahren schwelgen. Draußen hängt eine Tafel zu Ehren von Dalida, die eigentlich Yolanda Christina Gigliotti hieß. Drinnen sind die Wände voller Plakate und Fotos der legendären Sängerin und auf Wunsch werden ihre Hits wie etwa "Am Tag, als der Regen kam", "Milord" oder "Er war gerade 18 Jahr'" gespielt. Hier wohnten ihre Großeltern, die Ende des 19. Jahrhunderts ausgewandert waren. Dalida wurde zwar in Kairo geboren, aber in Serrastretta, so meinen die Dorfbewohner stolz, sind ihre Wurzeln.

Am Rand des Dorfes hat Delfino Marcua vor drei Jahren sein Restaurant Il Vecchio Castagno eröffnet. "Ein Wagnis", gibt er zu, denn viele Touristen kommen ja nicht ins Hinterland. Aber wenn man gute regionale Küche machen wolle, dann gebe es in Italien kaum einen besseren Platz. "Rundherum wachsen so viele tolle Sachen, die wir verarbeiten können", sagt er. Wer seine Kastaniennudeln oder Auberginen mit Minze probiert, weiß, was er meint.

Wir gondeln im Kleinbus weiter zu einem Weingut. Enza sitzt neben dem Fahrer und zeigt ihm den Weg. Doch er ignoriert ihre Hinweise und nimmt eine vermeintliche Abkürzung. Auf Feldwegen kurven wir durch die Gegend, ein Gut ist nicht in Sicht. Es dauert lange, bis der Fahrer seinen Fehler einsieht. Enza nimmt's gelassen. "Er ist ein typischer Kalabrier, und die lassen sich eben nichts sagen von einer Frau", erklärt sie und würde daher "nie einen Mann von hier heiraten".

Die Reiseführerin hofft, dass bald mehr ausländische Touristen nach Kalabrien kommen. Und vielleicht erkennen dann die Gastwirte auch in Scilla, diesem malerischen Küstenort an der Meerenge von Messina, dass man die Terrassen durchaus schon im Mai öffnen kann und nicht erst im Juli, wenn die Italiener Ferien machen. Bislang fahren Ausländer, die auf dem internationalen Flughafen Lamezia Terme angekommen sind, eher in eins der wenigen großen Hotels. Dort haben sie dann, wie etwa im Rocca Nettuno Tropea, eine All-inklusive-Pauschale gebucht. Die Lage des kürzlich rundum renovierten Hotels oberhalb der Küste ist ideal. Eine Treppe mit Hunderten von Stufen führt zum Strand, aber es gibt auch einen Fahrstuhl zum Meer. Drei Restaurants sind da, Pools, Tennisplätze. Wer nach Tropea möchte, kann zu Fuß gehen. Das dauert nicht mal eine halbe Stunde.

Ursprünglicher aufgehoben ist man, einige Kilometer oberhalb der Küstenstraße, in der Tenuta Ruralia. Der Agriturismo-Betrieb mit sechs Gästezimmern ist gemütlich - und authentisch. Eine Speisekarte gibt es nicht, gegessen wird, was Inhaber Ciccio auf den Tisch bringt. Aber noch nie, so sagt er selbstbewusst, habe sich jemand über das Menü beschwert.

Beim Essen haben Kalabrier alle Zeit der Welt. Warum dann die Eile, wenn sie im Auto sitzen? Nicht mal einem knuddeligen Cinquecento sehen manche Einheimische nach, wenn er ihrer Meinung nach zu langsam fährt. Faszinierend, wie theatralisch Italiener hinter ihrem Steuer schimpfen können. Auch auf der Straße nach Pizzo wird gern überholt. Dabei ist doch Tartufo für alle da.

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