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"Prager See": Zuflucht bei Emma

Im Hotel am Prager Wildsee war nicht nur eine legendäre Tiroler Wirtin zu Hause. Hier ereignete sich 1945 auch die wundersame Rettung von SS-Geiseln.

Es wird erzählt, dass Postkarten, auf denen lediglich „Frau Emma – Europa“ stand, die damals berühmteste Wirtin Tirols stets erreichten. Heute, 105 Jahre nach dem Tod von Emmerentia Hellenstainer, geborene Hausbacher, erinnert man sich in und um Tirol noch immer an sie – als eine überaus kochtalentierte, herzenswarme und humorvolle Persönlichkeit. Schließlich hat Frau Emma ein gastronomisches Vermächtnis hinterlassen, das eine nähere Betrachtung wert ist. Doch nicht nur die Karriere dieser Frau ist beachtlich: Das Hotel am Pragser Wildsee in den Dolomiten, wo sie die letzten Sommer bis zu ihrem Tod verbrachte, sollte 1945 Schauplatz eines dramatischen und dabei wundersamen Ereignisses werden.

Emma wurde in eine Hoteliersfamilie hineingeboren – ihre Mutter führte den „Grauen Bären“ im tirolerischen St. Johann. Zeitig im Leben musste sie im Betrieb als Kellnerin aushelfen, doch eine gute Ausbildung wurde ebenfalls als notwendig erachtet. Emma kam zu den Schwestern der Ursulinen nach Innsbruck. Ihre Lehrzeit als Köchin verbrachte sie schließlich in Salzburg, wo sie auch ihr erstes Kochbuch schrieb.

Bald schon wurde die Couragierte gleichsam ins kalte Wasser geworfen. Die Mutter war in den Besitz des „Bräugasthofes“ in Toblach gekommen – den die 20-jährige Emma übernehmen musste. Mit Talent und viel Arbeit brachte sie den heruntergekommenen Betrieb wieder auf Vordermann, obwohl die damals an eher einfallslose Kost gewohnten Tiroler mit der variantenreichen Küche zunächst fremdelten. Sie heiratete schließlich den Niederdorfer Postmeistersohn Joseph Hellenstainer. Und wie es so geht: Joseph erbte das Gasthaus „Schwarzer Adler“ in Niederdorf, wo Frau Emma 1842 das Regiment übernahm, während Joseph sich um sein Fuhrunternehmen kümmerte.

Der Ruhm der guten Bewirtung im Gasthaus mehrte sich, und bald verkehrte der Wiener Hochadel mit Kaiser Franz Joseph I. und Kaiserin Sisi an der Spitze im „Schwarzen Adler“. Daneben stellten sich Gäste aus aller Welt ein: Engländer wanderten auf Gipfel, Italiener suchten die Kühle der Bergwelt, Österreicher und Deutsche lockte die Küche. Und alle kehrten immer wieder – vornehmlich wegen Frau Emma.

Auch die Kinder, die Emma mit dem 1858 verstorbenen Joseph hatte, blieben im Gastgewerbe: Sohn Eduard erbaute 1890 das „Hotel Pragser Wildsee“. Sohn Hermann eröffnete 1907 in Meran das „Hotel Emma“. Die vier Töchter heirateten in namhafte Südtiroler Gastronomiebetriebe ein. Noch heute führen zwei Ururenkelinnen weltweit bekannte Häuser – eins in Bozen („Hotel Greif“), eins in Brixen. Elisabeth Heiss leitet in der Bischofsstadt den Gasthof „Elephant“. Hier sind längst wieder die Enkel von Stammgästen zu Stammgästen geworden; nicht wenige – bis zu deren Tod 2002 – wegen der Wirtin Marianne Heiss. Einheimische wie Urlauber liebten deren Art des umsichtigen Umgangs mit ihren Gästen; nunmehr nimmt sich Mariannes Tochter Elisabeth nicht minder zurückhaltend, aufmerksam und stets besorgt der Besucher an.

Das weniger bekannte Haus am Pragser Wildsee managt heute die Cousine einer Ururenkelin von Frau Emma: Die promovierte Betriebswirtin Caroline Heiss hält gemeinsam mit ihrer Mutter Heidi das Familienerbe hoch. Wo kaiserliche Familien wochenlang residierten, werden die Erinnerungen an schillernde Südtiroler Geschichte gepflegt und der Nachlass herausragender Wirtinnen bewusst in Erinnerung gehalten.

Das 160-Betten-Haus am Pragser Wildsee hat jedoch auch eine politische Dimension, die, wie Frau Emmas Ruf, weit über die Regionalgrenzen hinausreicht. Doch es wissen vermutlich nur sehr wenige der Touristen, die heute nahe Brixen die Rienz entlangreisen, dass in diesem Hotel mit dem unübertroffenen Blick auf Berge und See kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs eine Wirtin mit gewaltigem Mut 133 Geiseln der SS half, zu überleben.

Die beherzte Frau war Emma Heiss- Hellenstainer (1888–1959), eine Enkelin von Frau Emma: Sie beherbergte und versorgte von den Nazis verschleppte Gefangene. Die große Gruppe prominenter Sonder- und Sippenhäftlinge waren im April 1945 aus den Konzentrationslagern Buchenwald und Flossenbürg im KZ Dachau zusammengezogen und von hier aus von einem Sonderkommando der SS über Innsbruck nach Niederdorf im Hochpustertal gebracht worden. Man wollte sie dem möglichen Zugriff der vorrückenden alliierten Befreier entziehen, sie möglicherweise als Faustpfand für etwaige Verhandlungen benutzen.

Soldaten der Deutschen Wehrmacht jedoch befreiten die Geiseln aus den Fängen der SS und brachten sie in das nahe Hotel am Pragser Wildsee. Nun, standesgemäß kamen sie dort zwar nicht unter, doch sie befanden sich in relativer Sicherheit. Das Haus war damals im Winter nicht bewirtschaftet, entsprechend unwirtlich die Gegebenheiten: Es gab keine Heizung, kein Wasser, kaum Vorräte. Doch Emma Heiss-Hellenstainer, die Großmutter der heutigen Juniorchefin, tat alles in ihrer Macht Stehende, die unerwarteten, verängstigten Gäste zu versorgen. Sie konnte dabei auch auf die Hilfe der Menschen im Hochpustertal zählen, die warme Kleidung und Lebensmittel brachten. Anfang Mai 1945 schließlich übernahmen die Amerikaner die Schützlinge, brachten sie zu Verhören nach Neapel und Capri, bevor sie in ihr Leben zurückkehren konnten.

„Ständig befanden sie sich auf ihrem strapaziösen Transport über die Alpen im Ungewissen“, berichtet der Journalist und Historiker Hans-Günter Richardi (69), der 31 Jahre bei der „Süddeutschen Zeitung“ gearbeitet und das Geschehen um die Geretteten aus 17 Nationen erstmals sorgfältig recherchiert und dokumentiert hat. „Nach den im Alleingang beschlossenen Plänen von SS-Obergruppenführer Ernst Kaltenbrunner, dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD“, sagt Richardi, „sollten sie als Geiseln für Verhandlungen mit den Westalliierten zur Verfügung stehen.“

Lückenlos ist Richardis Liste der Faustpfand-Geiseln. Darauf findet sich der frühere französische Ministerpräsident Léon Blum ebenso wie Österreichs ehemaliger Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg, beide mit ihren Frauen, Angehörige von Claus Schenk Graf von Stauffenberg (darunter eine geborene Freiin von und zu Guttenberg), mehrere Goerdelers und die Prinzen Friedrich Leopold von Preußen und Philipp von Hessen, Amélie und Fritz Thyssen, Pastor Martin Niemöller, der Banker Hjalmar Schacht und die Kabarettistin und spätere Ordensfrau Isa Vermehren.

Am Schauplatz der dramatischen Vorgänge sind noch heute Zimmer so eingerichtet, wie sie die Häftlinge vor 64 Jahren vorfanden: Nummer 125/126 waren Thyssens zugewiesen worden, der Preußenprinz bewohnte Zimmer 202 und der Wiener Bürgermeister Richard Schmitz die Nummer 321.

Ja, das Haus ist nicht dem Modernisierungswahn zum Opfer gefallen, dem so viele Hoteliers in der Vergangenheit erlegen waren. Das macht das „Hotel Pragser Wildsee“ auf ganz eigene Art sympathisch. Gewiss, Hoteliersfrau Heiss ist sich der Tatsache bewusst, dass ihr Haus etwas altmodisch anmutet. Knarrende Holzdielen, Waschtische mit separaten Hähnen für warmes und kaltes Wasser und Betten, die so alt wie das Haus selbst sein dürften. Doch Heiss, die am See aufgewachsen ist, fühlt sich verantwortlich für das Familienerbe. Und da passt es nicht, nach Hotelsternen zu greifen, Dinge umzukrempeln oder gar den fraglos wertvollen Besitz zu verkaufen. Bodenständigkeit ist oberste Prämisse. Das wissen auch Stammgäste zu schätzen, die sonst unter Sechs-Sterne-Plus logieren.

Auskunft: Hotel Pragser Wildsee – Lago di Braies, I-39030 Prags / Hochpustertal; Telefon: 00 39 / 04 74 / 74 86 02; www.lagodibraies.com; Doppelzimmer ab 45 Euro pro Nase mit Halbpension.

Angelika Boese

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