zum Hauptinhalt
Chefkoch Franz Mulser mit buntem Salat.

© Stefanie Bisping

Südtirol: Der Wert des Steinröschens

Die Natur der Seiser Alm wird streng geschützt. Manche Blume darf aber auch auf den Teller. Die Südtiroler erfinden immer neue Rezepte.

„Die Natur ist ein Paradiesgarten.“ Walter Sattler weiß, wovon er spricht. Hinter ihm erheben sich die Zacken von Schlern und Langkofelgruppe, zu seinen Füßen erstreckt sich eine blühende Almwiese. Hohes Gras bewegt sich im Wind.

Hier verbergen sich die kleinen Wunder der großartigen Landschaft Südtirols: Knöllchen-Knöterich, der im Herbst fertige Pflänzchen abwirft; Klappertopf, dessen Samen beim Darüberstreichen tatsächlich klappern; und Schafgarbe, deren ätherisches Öl gut zu riechen ist, wenn man ihre Blüten zwischen den Fingern reibt.

Der Hotelier und Wanderführer Sattler möchte, dass Flachlandbewohner nicht einfach eine kunterbunte Wiese sehen, sondern Frauenmantel, Wiesenknopf und Knabenkraut unterscheiden können. Sie erfahren, dass Enzian und Steinröschen im Frühjahr blühen, blaue Glockenblumen, Ochsenauge und Margeriten im Sommer.

Nichts darf hier mehr gebaut werden

Wie die meisten Gastwirte auf der Seiser Alm stammt Walter Sattler aus der Landwirtschaft. Was auf einer Almwiese wächst, musste er nie nachlesen. Er lernte es als Kind. Wie das Wissen um die Jahreszeiten. In Kastelruth geboren, ist er seit 1975 auf der Alm zu Hause, wo er gemeinsam mit seiner Frau Irmgard das auf 1910 Metern gelegene Hotel Icaro von ihren Eltern übernahm.

Im Jahr zuvor war der westliche Teil der Alm als Naturpark Schlern unter Schutz gestellt worden; später kam noch ein Teil des Rosengarten-Gebiets hinzu und bescherte dem Park einen Doppelnamen. Nichts darf hier mehr gebaut werden, Autos sind unerwünscht. Übernachtungsgäste dürfen ihre Wagen nur zur An- und Abreise sowie abends nutzen, Tagesbesucher kommen mit Bus oder Gondelbahn.

Eine Million Menschen besucht die Alm jedes Jahr

Mit mehr als 50 Quadratkilometern ist die Seiser Alm südlich von St. Ulrich eine der größten in Europa. Nur 162 Menschen leben ganzjährig in der in bis zu 2000 Metern Höhe gelegenen Hügellandschaft; einige von ihnen sind Bauern mit Viehwirtschaft, die meisten Gastwirte. 2000 Gästebetten, 60 Kilometer Loipen und ebenso viele Kilometer Abfahrtspisten zeugen von der touristischen Bedeutung der Alm. Eine Million Menschen besucht sie jedes Jahr.

Trotzdem ist Abgeschiedenheit prägend für das Dasein hier oben geblieben. Alles Lebenswichtige befindet sich im Tal, einzig Bergrettung und Pistendienst sind notfalls schnell zur Stelle.

Was auf der Wiese blüht, wird in der „Gostner Schwaige“ auf Tellern hübsch drapiert und mit Schinken und Almkäse als Brotzeit serviert. Inhaber und Küchenchef Franz Mulser empfiehlt Wanderern zur Stärkung einen Salat aus Dahlie, Gewürztagetes, Stiefmütterchen, Kapuzinerkresse, Geranie, Malve und süßer Stevia. Dazu wird Brot mit 15 verschiedenen Kräutern serviert. Ein alpines Geschmackserlebnis verspricht das Zirbelkiefer-Pesto auf Butter, das aus den Frühtrieben der Kiefer und den Nüssen ihrer Herbstzapfen hergestellt wird.

Auf der Karte steht Tafelspitzsülze vom Milchkalb mit Blumensalat

Unten in Kastelruth wird an Feiertagen noch Tracht getragen.
Unten in Kastelruth wird an Feiertagen noch Tracht getragen.

© imago / Südtitolfoto

Die Idee, mit den Produkten der Natur zu kochen, hat Mulser sehr konsequent zu Ende gedacht. Wer abends bei ihm einkehrt, kann ganze Menüs mit Blumen und Kräutern bestellen. Etwa die Heusuppe aus 25 verschiedenen Wildkräutern, Tafelspitzsülze vom Milchkalb mit Blumensalat und zum Abschluss karamellisierten Kaiserschmarrn mit Marillen – und roten Rosen. „Die Kräuter für die Suppe sammeln wir auf der eingezäunten Wiese, da drüben, hinter den Fichten.“ Sorgsam kontrolliert er, dass sich dort kein hochgiftiger Eisenhut einschleicht. Alle Gerichte hat er selbst kreiert.

Der 1979 in Seis am Schlern geborene Mulser absolvierte eine Ausbildung zum Koch und Käser in Kastelruth, bevor er in Österreich, im Münchener Restaurant Tantris und auf Mallorca in hochdekorierten Küchen am Herd stand. Immer träumte er vom eigenen Restaurant. 2001 ließ er die Sterne-Gastronomie hinter sich, baute die auf 1930 Meter gelegene Almhütte um und mutete seinen Gästen fortan in der „Gostner Schwaige“ eine Hüttenwirtschaft ohne traditionelle Hüttengerichte zu.

„Viele wollten es nicht akzeptieren. Manche waren misstrauisch, andere belächelten uns. Aber heute sind wir froh, dass wir es anders machen als andere.“ Der ehemalige italienische Präsident Giorgio Napolitano und diverse deutsche Fußballnationalspieler teilten diese Freude schon, und auch die Restaurantkritiker haben Mulser längst in seinem Versteck auf der Alm aufgespürt.

Seit 1525 steht die Mühle zwischen saftigen Wiesen

Dort ist er annähernd autark. In der knapp drei (!) Quadratmeter großen Küche komponiert Mulser seine Kreationen. Die Erträge des elterlichen Hofs, den seine Frau Petra und er vor einigen Jahren übernahmen, nutzt er fürs Restaurant. „Ich wollte Selbstversorger sein. Außer Wild müssen wir kein Fleisch zukaufen, und auch Milch, Butter, Sauerrahm, Grau- und Almkäse machen wir selbst.“ Ebenso wie Brot. „Das Brot vom Bäcker ist auch gut, aber irgendwann habe ich gedacht, ich mache es lieber selbst. Es ist ja kein Zauberwerk.“

Zumindest nicht, wenn man über unerschöpfliche Energie verfügt wie viele Menschen auf der Alm. Ihre Kreativitätsreserven erschöpfen sich nicht in der Darbietung von Volksmusik, wiewohl in Kastelruth, dem Städtchen mit 6600 Einwohnern, zu dessen Gemeindegebiet auch die Seiser Alm zählt, noch immer die prominenten „Spatzen“ beheimatet sind.

Noch in den 1970er Jahren gab es rund um Kastelruth ein Dutzend Getreidemühlen. „Früher wurde im Tal Getreide angebaut, Heu auf der Alm gemacht“, erinnert sich Max Plunger. „Heute wird auch im Tal geheut. Getreide gibt es hier unten nicht mehr, und die Almen wachsen zu und verlieren so an Wert.“ Plunger baut auf seinem Land alte Getreidesorten an und mahlt Roggen, Weizen und Buchweizen in seiner Mühle, die seit 1525 am Frötschbach in St. Vigil zwischen saftigen Wiesen steht.

Roggen und Buchweizen müssen von Hand geschnitten werden

„Die alten Sorten sind oft nicht für den Mähdrescher geeignet, aber ich will das wertvolle Saatgut nicht verlieren.“ Schon Plungers Vater dachte nicht daran, auf neumodische Verfahren umzustellen oder auf Heu umzusteigen. Als er 1994 starb, macht der Sohn, heute 66 Jahre alt, weiter.

„Wir sind eine eigensinnige Familie. Aber so sind alte Getreidesorten erhalten geblieben.“ Obwohl es auch Rückschläge gab. Einmal musste er sich Saat vom Nachbarn leihen, darunter war Schurweizen, der heute ohne die typischen langen Grannen gezüchtet wird. Jetzt erst, 20 Jahre später, hat sich die Ursorte regeneriert.

Mühsam ist es außerdem: Roggen und Buchweizen müssen von Hand geschnitten werden. Doch wenn Plunger die Leinenschürze seines Großvaters überzieht und die uralte Holzkonstruktion aus Zahnrädern, Federn und Bolzen sich knirschend in Bewegung setzt, machen Wanderer Umwege, um das Schauspiel mitzuerleben.

Über eine Holzrinne erreicht das Wasser des Bachs das Mühlrad und setzt es in Bewegung. Zwei gewaltige Mühlsteine verarbeiten das Getreide zu Mehl, das etwas dunkler ist das aus den weißen Papiertüten im Supermarkt. „Und gesünder“, sagt Plunger. Zwanzig bis dreißig Mal im Jahr mahlt er, so vorsichtig wie möglich, um das Mühlrad aus Lärchenholz zu schonen.

Zwar gibt es in Brixen noch einen Schreiner, der Mühlen und Räder baut. Doch Ersatzteile sind teuer. Plunger freut sich, wenn er sieht, wie alte Mühlen in der Gegend nach 30 Jahren Stillstand wieder angeworfen werden. „Die haben alle zugemacht, weil es nicht mehr rentabel war“, sagt er. Doch langsam begriffen die Menschen, dass es sich lohne, altes Kulturgut zu erhalten.

800 verschiedene Heilpflanzen und Kräuter wachsen im Garten von Martha Mulser

Viel Platz unterm blauen Himmel. Im Winter wuseln auf den Wiesen Skifahrer herum. Im Sommer können Wanderer ungestört ausschreiten und rasten.
Viel Platz unterm blauen Himmel. Im Winter wuseln auf den Wiesen Skifahrer herum. Im Sommer können Wanderer ungestört ausschreiten und rasten.

© imago/imagebroker/Handl

Im Nachbarsprengel St. Oswald kam Martha Mulser auf der Flucht vor dem Alltag zum naturnahen Pflanzenbau. Vier kleine Kinder hielten sie auf Trab. Mit gerade 20 Jahren war sie zu Mann und Schwiegereltern auf den Pflegerhof gezogen. Im familiären Getümmel wurde ihr klar: Sie brauchte einen Ort für sich allein. „Mein kleiner Kräutergarten wurde mein Refugium.“

1982 legte sie ihn am Hang hinterm Haus an, gleich unterhalb der alten Burgruine. 800 verschiedene Heilpflanzen und Kräuter wachsen hier, darunter allein 50 Salbei-, 40 Minze- und 20 Basilikumsorten. Im kurzen Alpensommer bilden sie eine üppige, duftende Blütenflut, die nun einen preisgekrönten Biogarten bildet.

Schon als Kind war die heute 57-Jährige, die auf einem Bauernhof aufwuchs, am liebsten im Garten. Großmutter und Vater gaben ihr Kräuterwissen an sie weiter. Als Martha Mulser ihren eigenen Garten anlegte, hatte sie die Vision eines Stücks Natur voller Mischkulturen. Das bedeutet mehr Arbeit bei der Ernte, wenn man von Reihe zu Reihe springen muss, hat aber auch Vorteile: wenig Krankheiten und Schädlinge.

2014 wurde sie mit dem „Premio de Terra“ für innovative Landwirte ausgezeichnet

1985 begann sie, Heilkräuter und Tees auf Bauernmärkten zu verkaufen, bald darauf gehörte Martha Mulser zu den Gründungsmitgliedern des Bundes alternativer Anbauer, die sich zum ökologischen Obst- und Gemüsebau verpflichteten. Als ihr Mann 1994 starb, erwies sich der Garten als Segen: Er bot Ablenkung, Trauerbewältigung und Existenzsicherung zugleich.

2014 wurde sie mit dem „Premio de Terra“ als eine der sechs innovativsten Landwirtinnen Italiens ausgezeichnet. Trotzdem möchte sie die Verantwortung für Garten und Hofladen bald an ihre Tochter abgeben, eine gelernte Gärtnerin. Martha Mulser freut sich auf die Zeit, in der sie den Garten nur noch genießen wird. So wie jetzt sonntags, wenn kein Mensch da ist. „Oder ganz früh am Morgen. Dann gehe ich durch den Garten, zupfe hier und klaube da. Das ist Balsam für die Seele.“

Tipps für Südtirol: Ohne Auto zur "Gostner Schwaige"

ANREISE

Gut 850 Autobahnkilometer sind es von Berlin nach Kastelruth zur Seiser Alm. Nur Übernachtungsgäste dürfen mit dem Auto hinauffahren. Sie erhalten gegen Vorlage der Reservierung bei der Forstbehörde in in St. Valentin die Genehmigung. Sonst ist die Zufahrt von 9 bis 17 Uhr für Privatwagen gesperrt. Mit der Bahn gelangt man immerhin in gut zehn Stunden über München und Brixen bis Klausen. Von dort gibt’s einen Bus zu Seiser Alm.

ÜBERNACHTEN

Hotel Icaro: 22 Zimmer, klimaneutral, sehr gute Küche, Alpenromantik mit zeitgenössischem Design. Doppelzimmer/Halbpension ab 110 Euro pro Person; Telefonnummer: 00 39 / 04 71 / 72 99 00, Internet: hotelicaro.com, wanderhotels.com

SCHLEMMEN

Blumig, kräuterreich, preislich moderat: Gostner Schwaige bei Wirt Franz Mulser (Via Saltria, Seiser Alm, Telefonnummer: 00 39 /03 47 / 836 81 54). Geöffnet täglich von Juni bis Oktober. Abends nur nach Anmeldung.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false