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Endloses Weiß auf dem Finnmark Plateau. Kein Baum, kein Strauch, nichts. Nur der Kompass weist den Weg. Wer hier unterwegs ist, muss Monotonie ertragen können.

© Marc Vorsatz

Nördliches Norwegen: Noch vier Tage bis zum Kamin

Lang ist der Winter in der Finnmark. Wer ihn in seiner weißen Strenge erleben will, wagt eine Expedition mit Huskys – und schläft im ungeheizten Zelt.

In der Inquisition nannte man so etwas die Präsentation der Folterwerkzeuge: Das Operationsbesteck, verstaut in einem Aktenkoffer, hinterlässt seine Wirkung auf uns Expeditionsteilnehmer. Not-OPs müsse er an Ort und Stelle selbst durchführen, unsere kleine Gruppe werde eine Woche lang vom Mobilnetz abgeschnitten sein, erklärt Thomas Nilson. Wir sollen insbesondere auf Erfrierungen an Nase, Ohren und Fingern achten, das ginge schneller, als uns lieb sei. Trotzdem alles kein Grund zur übertriebenen Sorge, wenn wir uns an die Regeln hielten.

Nilson muss es wissen. Schließlich wäre das nicht sein erster Eingriff – er hat bereits den offenen Beinbruch einer Expeditionsteilnehmerin versorgt. Kein Problem, Lapplands Eiswüste sei steriler als jeder Operationssaal in Oslo. Der Ex-Offizier der Norwegischen Armee, der Kampfeinsätze in Afghanistan leitete und die US-Navy-Seals in der Arktis trainierte, meint es ernst.

Und nun geht’s los. Trotz aller Warnungen. Erst schmerzten die Finger nur, jetzt kann ich sie nicht mehr spüren. Zu lange in eisiger Nacht verbissen auf Polarlichter gewartet, zu lange mit zu dünnen Handschuhen versucht, die Schönheit der Arktis aufs Foto zu bekommen. Dabei fing vier Tage zuvor doch alles so gemütlich an.

Stunde um Stunde scheint der Schlitten schwerer zu werden

Die beiden Guides Thomas Nilson und Liv Engholm sitzen mit den Teilnehmern in einer behaglichen Blockhütte in Alta im äußersten Norden von Norwegen. Das Städtchen liegt exakt auf halber Strecke zwischen Berlin und dem Nordpol. Es duftet nach deftigem Rentiergulasch. Beim gemeinsamen Essen lernen sich Profi- und Hobbyabenteurer kennen. Auch Nemi und Biigha, die treuen „American Huskies“, dürfen kurz zur Begrüßung ins warme Haus – eine wichtige vertrauensbildende Maßnahme. Schließlich wollen wir zusammen die Überquerung des menschenleeren Finnmark Plateaus in Norwegisch-Lappland auf Skiern wagen.

Den Huskies macht die Kälte nichts aus.
Den Huskies macht die Kälte nichts aus.

© Marc Vorsatz

Tag zwei: ausgiebig frühstücken, Lebensmittel einkaufen, die fünf Hightech-Schlitten beladen, Gurtzeug anlegen, Skier anschnallen und los. Stunde um Stunde scheint jeder der 35-Kilo-Schlitten schwerer zu werden. Wer das Tempo der Gruppe nicht mehr halten kann, bekommt Unterstützung von Biigha oder Nemi. Dann werden die Huskys mit eingespannt, was ihnen größte Freude zu bereiten scheint. Sie strotzen nur so vor Energie.

Mit Einbruch der Dunkelheit erreichen wir die Jotka Lodge. Unser Guide meint, nun wäre es langsam an der Zeit, sich an die arktischen Nächte im Zelt zu gewöhnen, und reißt die Fenster sperrangelweit auf. Wir Urlauber schlüpfen blitzartig in unsere Mumienschlafsäcke. Langsam bekommen wir eine Ahnung davon, was die Kälte bedeutet.

"Hunters television" heißt der Lappland-Kanal

Tag drei: Wir verlassen das letzte Refugium menschlicher Zivilisation und folgen der historischen Postroute von Alta in Richtung Samenhauptstadt Karasjok. Ab jetzt gibt es nicht einmal mehr Wege, es geht nur noch bergauf. Der Baumbestand wird spärlicher, die Bäume selbst mickriger und die Schlitten immer schwerer. Ziel ist das Finnmark Plateau, wo sich lediglich Moose und Flechten unter meterdickem Schnee verstecken. Der Anstieg ist anstrengend, ohne Nemi und Biigha wäre er eine Tortur. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit schlagen wir erstmals unsere Zelte auf. Jeder Handgriff fällt schwer, wir sind müde und ausgelaugt.

Beim Bäumefällen wird uns langsam wieder warm. 40 bis 50 Jahre seien die nur mannshohen und armdicken Birken schon alt. So langsam wachsen die Bäume im hohen Norden. Der gesamte Bestand gehört dem Staat Norwegen, und das Abholzen für den Eigenbedarf ist allen Outdoor-Aktivisten ausdrücklich gestattet.

Zum ersten und letzten Mal auf unserer Tour sehen wir fern. Es gibt allerdings nur ein Programm: „Hunters television“ heißt dieser Lappland-Kanal. Das Programm ist etwas eintönig, aber trotzdem schön. Stundenlang schauen alle ins wärmende Feuer und können sich gar nicht sattsehen.

Die Atemluft gefriert an den Innenwänden der Zelte

In Eis und Nacht.
In Eis und Nacht.

© Marc Vorsatz

Der Morgen des vierten Tages beginnt mit Sonne. Die Temperatur klettert von minus 23 Grad auf minus 18. Immerhin. Liv lockt mit frisch gebrühtem Kaffee und heißem Müsli. Tut das gut! Dann heißt es, die völlig vereisten Zelte abbauen. Die Atemluft kondensiert nachts an den Innenwänden.

Nach fünf Stunden sanfter Steigung sind wir endlich angekommen auf dem Finnmark Plateau – und in der Eiswüste. Kein Baum, kein Strauch, kein Tier, nichts. Nur noch endloses Weiß unter stahlblauem Himmel. Und Stille. Absolute, fast beunruhigende Stille. Wir laufen und laufen, Stunde um Stunde. Nichts verändert sich. Unten weiß, oben blau, kein Ziel in Sicht. Nur der Kompass weist den Weg. Wir kämpfen gegen Kälte, Müdigkeit und eine schwer fassbare Monotonie.

Der samische Rentierzüchter Piera-Johvna Utsi.
Der samische Rentierzüchter Piera-Johvna Utsi.

© Marc Vorsatz

Nach dem Abendessen warten alle mit den Kameras auf die Polarlichter und knipsen schon mal in die einsame Nacht. Der Mond taucht die Eiswüste in sein fahles Licht. Trotzdem kein Vergnügen bei frostigen 27 Grad unter null mit dünnen Handschuhen. Mit dicken Fäustlingen lässt sich leider keine Kamera bedienen.

Finger und Zehen tun schon weh, die Batterien geben nach und nach auf. Ein Paar Ersatzakkus wird immer eng am Körper getragen. Wir sollten jetzt wirklich aufpassen, warnt unser Guide. Vergebens. Erst taten meine Finger nur richtig weh, dann spüre ich sie plötzlich nicht mehr. Das ging schnell! Thomas versorgt sie mit einer fettigen Salbe, sagt, ich müsse sofort in den Schlafsack und sie unter den Achseln wärmen. Also keine Polarlichter heute Nacht. Im Zelt ist es auch nur genau ein Grad wärmer als draußen.

Jeder marschiert gegen die Monotonie der Hochebene an

Tag fünf beginnt mit einer Visite. Diagnose: leichte Frostbeulen an vier Fingern. Es hätte schlimmer kommen können, mahnt Thomas. Nach dem Frühstück gehen die Männer auf dem Giellanjávrrit-See Eisangeln. Um ehrlich zu sein, wir Städter hätten nicht einmal erkannt, dass wir an einem großen See gezeltet hatten. Wie ein dicker, weißer Mantel legt sich der Schnee über die Landschaft, überdeckt jedes Detail.

Nur der Berg Vuorji durchbricht die flache Ebene. Dabei campieren wir einsamen Abenteurer Nacht für Nacht an einem anderen See, benötigen wir doch täglich Wasser zum Trinken, für Kaffee, Tee, heiße Schokolade und die wenig schmackhaften Trockengerichte.

Aus der fangfrischen Fischmahlzeit wird nichts. Kein einziger arktischer Saibling scheint sich für unsere Köder zu interessieren. Dann marschiert ein jeder wieder gegen die Monotonie der Hochebene an. Es ist ein Kampf, der Gleichmut, Ausdauer und Willensstärke verlangt. Nur Biigha und Nemi sind in ihrem Element.

Plötzlich brechen die beiden Huskys aus und jagen ein paar schneeweiße Vögel

Tag sechs. Am Nachmittag wird die Landschaft endlich wieder etwas abwechslungsreicher. Ein schmales Tal zerfurcht die Ebene. Poastajohka, der Postfluss, hat sich über Jahrtausende tief in den Stein geschnitten. Der Abstieg ist wirklich hart. Die Schlitten schieben uns mit ihrem Gewicht abwärts. Beim steilen Aufstieg danach geraten selbst Liv, Thomas und die Hunde an ihre Grenzen.

Am siebten Tag dann endlich Erleichterung. Langsam, aber sicher geht’s bergab. Die ersten vereinzelten Bäumchen schlagen sich wacker im Schnee. Plötzlich brechen die beiden Huskys seitlich aus und jagen ein paar schneeweiße Vögel in die Flucht. Wir hatten sie gar nicht gesehen. Zurück im Leben. Die ersten Wildtiere nach einer Woche. In der Ferne steigt Rauch aus einem uralten Wohnwagen. Piera Johvna Utsi freut sich über den unerwarteten Besuch. 1200 Rentiere besitzt der 71-jährige Same. Irgendwo hinter den sanften Hügeln sei seine Herde. Zufüttern müsse er im Winter und die Tiere immer wieder zusammentreiben.

Tag acht. Es geht nur noch sanft bergab durch sattgrüne, dichte Nadelwälder. Am Abend hat uns die Zivilisation wieder. Wie komfortabel die beheizten Blockhütten der Husky Lodge von Livs Eltern doch sind! Am offenen Kamin lassen wir unser arktisches Abenteuer Revue passieren. Ein bisschen Stolz ist schon dabei. Und die Finger sind auch noch dran.

Tipps für die Finnmark

Durch die Eiswüste
Durch die Eiswüste

© Marc Vorsatz

ANREISE
Flug mit SAS ab Berlin via Oslo und Tromsø nach Alta, Ticketpreis ab 350 Euro.

GEFÜHRTE EXPEDITION
Die hier beschriebene Tour organisiert Finnmark Plateau Ski-Expedition. Strecke: von Alta nach Karasjok mit Huskys und Schlitten sowie Skiern. Die Tour dauert neun Tage, die Teilnehmer wohnen in Hütten und unbeheizten Zelten. Preis inklusive Vollpension und Ausrüstung: rund 1800 Euro zuzüglich Flug. Telefon: 00 47/908/555 56 (Norwegisch, Englisch).

Komfortabler (beheizte Zelte, Blockhütte) ist das Angebot „Huskyabenteuer Finnmark“. Die fünftägige Tour mit Hundeschlitten, Guide, Winterkleidung, eigenem Hundeschlittengespann, Vollpension und Flüge kostet ab 2429 Euro pro Person (bei zwei Teilnehmern. Buchbar ist sie bei Huskytrack, Sperberstraße 25, 16556 Borgsdorf, Telefon: 033 03/29 73 111)

REISEFÜHRER
Aaron und Michael Möbius: Norwegen, mit 19 detaillierten Tourenvorschlägen. DuMont Reiseverlag, Ostfildern, März 2014, 24,99 Euro

AUSKUNFT

Innovation Norway, Hamburg, Telefon: 01 80/50 01 48 (0,14 Euro/Minute).

Marc Vorsatz

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