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Kapelle der heiligen Kinga. Der monumentale Hohlraum in der Mine wird auch für Hochzeiten gebucht.

© imago stock & people

Salzmine Wieliczka: Andacht vorm letzten Abendmahl

Die polnische Salzmine Wieliczka ist ein Labyrinth aus Stollen, Kammern und Kapellen. Mittendrin Kunst aus „weißem Gold“.

Petrus’ Gesichtszüge sind kaum noch zu erkennen, der Himmelsschlüssel droht ihm aus der Hand zu gleiten. Auch um die Mutter Gottes ist es nicht zum Besten bestellt, seltsam verloren wirkt das Kind in ihren dünn gewordenen Armen. Unaufhaltsam werden die Schätze in der Kapelle des heiligen Antonius vergehen. Machtlos sind die Restauratoren gegen den Zustrom feuchter Luft, gut 63 Meter unter der Erde. Goethe konnte die Heiligen noch in voller Schönheit bewundern.

1790 besuchte er im Rahmen seiner „Schlesischen Reise“ das Salzbergwerk Wieliczka. Und fand keine Worte für die unterirdischen Wunder. Ein paar Reisenotizen aus einem „zehnfach interessanten Land“ sind entstanden, doch nie hat sie der Dichter später in eine lesbare Form gegossen.

Als Goethe kam, existierte die sogenannte Touristenroute bereits zehn Jahre. Die Österreicher, denen Wieliczka 1772 nach der ersten Teilung Polens zugefallen war, hatten sie angelegt. Die heutige Besucherroute verläuft ein bisschen anders. Manche Kammern sind inzwischen verschlossen, andere hinzugekommen, neue Stollen haben alte, bisweilen zusammengestürzte ersetzt. 22 Kammern sind nun auf der „Touristenroute“ zu inspizieren, verbunden durch Sohlen mit einer Gesamtlänge von gut zwei Kilometern. Bis zu 300 Meter steigen die Besucher in die Tiefe. Durchwandern die schummrige Welt mehrerer Jahrhunderte, wähnen sich mitunter in Tolkiens Mittelerde. Denn Wieliczka existiert bereits seit etwa 1250, als man infolge der ständigen Vertiefung der Brunnen auf Steinsalz stieß.

Die Kapelle des heiligen Antonius ist die älteste Andachtsstätte in der Mine. 1698 soll hier der erste Gottesdienst stattgefunden haben. Nun birgt Wieliczka viele Kammern voller Kunst. Unterschiedlichste Figuren, alle sorgfältig aus Salz geformt. In 65 Metern Tiefe begegnet man Nikolaus Kopernikus, der Ende des 15. Jahrhunderts als Student der Krakauer Akademie unter Tage gewesen sein soll. 1973, zum 500. Geburtstag des Gelehrten, wurde sein Denkmal hier aus einem Salzblock geschlagen.

Salz brachte Reichtum - und dem König ein prächtiges Schloss

Doch auch den Bergleuten selbst gedenkt man in Wieliczka. Den sogenannten Büßern etwa, die durch die Gänge krochen und Fackeln an langen Stäben nach oben hielten, um das gefährliche Methangas abzubrennen. Anfangs kannte man noch keine wirksamen Verfahren der Grubenbewetterung, immer wieder kam es zu Explosionen. Auch die Kammer der „Büßer“ zeigt sich nach einem Brand im 18. Jahrhundert noch immer (schwarz) verkohlt.

In einer anderen „Höhle“ steht eine riesige Büste von Kasimir dem Großen, der wie kein anderer vom Salz profitieren konnte. Ein Drittel der Staatseinnahmen verbuchte er dank Wieliczka. Das Königsschloss Wawel im 20 Kilometer entfernten Krakau hätte ohne die Salzerlöse nie so prächtig werden können. Entsprechend zufrieden blickt Kasimir auf die Bergwerksbesucher hinab.

Alle Figuren wurden von Bergleuten geschaffen. War denn jeder Bergmann auch ein Künstler? „Nicht jeder“, sagt Marek Klimowicz, unser humorvoller Führer durchs unterirdische Labyrinth. Aber in jeder Generation habe es immer zahlreiche kreative Menschen gegeben. Dass sie nach vielen Stunden unter Tage noch Lust hatten, freiwillig im Dämmerlicht zu werkeln! „Vielleicht gerade weil sie hier so viel Zeit verbringen mussten, da wollten sie es schön haben“, vermutet Marek.

Vor allem wollten sie Plätze zum Beten. Und weil es zu gefährlich war, Heiligenstatuen aus Holz aufzustellen, „die brannten im Ernstfall wie Zunder“, sagt Marek, schufen sie eben solche aus Salz. Sage und schreibe 22 Kapellen gibt es in Wieliczka. Die prächtigste ist jene der heiligen Kinga. Kapelle? Eher mutet sie wie eine prunkvolle Kathedrale an. Entstanden ist sie 1896 nach dem Abbau eines gewaltigen Blockes von grünem Salz. Mehr als 54 Meter in der Länge misst das von Menschenhand geschaffene Wunder, bis zu 18 Meter breit und zwölf Meter hoch ist es.

Wer Abenteuer mag, kann die „Bergmannsroute“ buchen

Biblische Szenen als kunstvoller Wandschmuck – immer aus Salz.
Biblische Szenen als kunstvoller Wandschmuck – immer aus Salz.

© Hella Kaiser

Vier riesige Lüster hängen von der Decke und beleuchten Reliefs, Figuren, Altäre. Kaum zu glauben: Alles ist aus Salz. Auch die Bodenmosaiken, glänzend poliert durch die Schritte der Besucher. Biblische Szenen wie „Die Flucht nach Ägypten“, „Auf dem Weg nach Bethlehem“ oder „Die Hochzeit zu Kanaan“ sind an den Wänden graviert. Viele Werke stammen von dem Bergmann Antoni Wyrodek, der hier zwischen 1927 und 1963 gearbeitet hat und in den letzten Jahren sogar an der Staatlichen Kunstakademie in Krakau eingeschrieben war.

Meisterlich gelang ihm ein Relief des Freskos von Leonardo da Vinci „Das letzte Abendmahl“. Alle Details sind originalgetreu nachgebildet, die Perspektive perfekt. „Eigentlich ist jetzt jeder Winkel belegt“, sagt Marek. Aber die Bergleute finden doch immer noch ein freies Plätzchen. 1999 schuf einer die Figur von Papst Johannes Paul II. zum Dank dafür, dass er Kinga, die Patronin der Salzbergwerke, heilig gesprochen hatte.

Mehr als eine Million Besucher kommen pro Jahr ins Salzbergwerk, Tendenz steigend. „Manchmal wird das Schaubergwerk zum Staubergwerk“, scherzt Marek. Aber da es so weitläufig ist, können sich die Gruppen doch noch ganz gut aus dem Weg gehen. Wer es individueller und abenteuerlicher mag, kann die „Bergmannsroute“ buchen. Dazu schlüpfen die Besucher in Overalls, setzen Helme auf, bekommen Stirnlampen und ein Atemgerät für den Notfall, der zum Glück noch nie eingetreten ist. Auf dieser Route müssen sich Besucher ein wenig vorsichtiger bewegen, ab und zu den Kopf einziehen, mal eine Leiter hinaufklettern oder einen niedrigen Stollen entlangrobben.

Staunend geht es vorbei an dicken hölzernen Stützstämmen, die über die Jahrhunderte von der Wucht des Salzgesteins zerquetscht wurden. Wie viel Mut und Gottvertrauen brauchten jene, die hier das „weiße Gold“ abschürften? Jene Bergleute, die mit dem Gruß „Szczesc Boze“ (Glückauf) an uns vorübergehen, wachen über den Erhalt von Wieliczka, das 1978 auf die Liste des Unesco-Weltkulturerbes gesetzt wurde.

Seit einigen Jahren dient das Bergwerk auch als Sanatorium. In der 135 Meter tiefen Kammer „Teodor Wessel“, die sogar einen Salzsee birgt, sollen die Patienten tief ein- und ausatmen. Gymnastische Übungen, gern mit Bällen, stehen auf dem Programm, auch Laufbänder, Standräder und Stepper stehen in dunklen Nischen bereit. Die mit Natriumchlorid, Kalzium und Magnesium reich gesättigte Luft soll die Lungenfunktion verbessern.

Für Allergiker ist der Aufenthalt eine Wohltat

„Manche Menschen kommen täglich her, über einen Zeitraum von zwei bis drei Wochen“, sagt die Ärztin Malgorzata Kaupe. Solche mit Atemwegserkrankungen würden nach Wieliczka geschickt, auch Feuerwehrleute kämen zur Kur. Für Allergiker ist der Aufenthalt eine Wohltat. Die Luft ist absolut pollenfrei. Hat die Kur vielleicht auch Anti-Aging-Effekte? „Na ja“, sagt die Ärztin lächelnd und wiegt den Kopf. „Aber ich kann bestätigen, dass sich das Hautbild verbessert.“

Die meisten Patienten mieten sich in einem der beiden Hotels am Ort ein. Aber es gibt auch die Möglichkeit, unter Tage zu übernachten. Meist buchen (Jugend-)Gruppen den Schlafsaal mit zahlreichen Stockbetten. Zwei unterirdische Restaurants sind ebenso vorhanden wie ein großer Saal, der für Bälle oder Empfänge genutzt wird. „Im September 2006 trafen sich hier sogar die Nato-Chefs zur Abschlusssitzung“, erzählt Marek. Beliebt seien auch Hochzeiten in der Kinga-Kapelle, aber die müsse man natürlich sehr, sehr frühzeitig anmelden.

Seit 2001 steht übrigens auch Goethe, zu Salz erstarrt und überlebensgroß, im schummrigen Licht. In der Kammer „Weimar“ hat er seinen Platz, die Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden war. Vielleicht hatte sich der Dichter einst, wie wir es auf der „Bergmannsroute“ durften, ein Stück Salz abgeschlagen. „Im Goethehaus in Weimar gibt es schließlich eine Mineraliensammlung, die er selbst zusammengetragen hat“, sagt Marek. Die hat sich der Fremdenführer genau angesehen, obwohl er sich sonst in aller Welt am liebsten nur unter Tage umschaut. Mehr als 20 Bergwerke, so schätzt er, hat er schon besichtigt. „Alle sind auf ihre Weise interessant“, sagt er. Sein Herz aber, keine Frage, hat Marek an Wieliczka verloren.

Nach einem Tag und einer Nacht im Reich des Berges, ahnen wir, dass hier noch andere Krankheiten geheilt werden könnten. Schwermut zum Beispiel. Nie haben wir uns mehr gefreut, die Sonne wiederzusehen.

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