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Gesamtkunstwerk. Der Bernina-Express, Schmuckstück der Rhätischen Bahn, passt perfekt in die Schweizer Winterlandschaft.

© Swiss image

Bernina-Express: Wie herrlich die Räder knirschen

Einmal im Bernina-Express sitzen, das wünschen sich viele. Die Krönung aber ist ein Platz ganz vorn, im Lokführerstand.

Im Bahnhof von Chur ist er der Star. Und wir, mein 13-jähriger Sohn und ich, dürfen Platz nehmen im feuerroten Bernina-Express. Nicht in der zweiten oder ersten Klasse – sondern ganz vorn an der Spitze. Dort hat Lokführer Toni Gansner zwei runde Schemel neben seinen Platz gestellt. Auf dem Armaturenbrett deponieren wir einen Streckenplan, etwas Knabberzeug und, ganz wichtig, den Fotoapparat.

Toni Gansner, ein freundlicher Endvierziger, sieht blass aus an diesem Morgen. Er sei seit halb sechs auf den Beinen, erzählt er, bei der ersten Fahrt im Morgengrauen habe er einen Hirsch gerammt. Das komme im Winter leider öfter vor, wenn tiefer Schnee liege und die Tiere gern auf der Trasse unterwegs seien. Man erblicke sie erst im allerletzten Moment und könne nichts mehr machen, meint Gansner und zuckt mit den Schultern. „Als der Hirsch heute früh über die Böschung flog, verständigte ich gleich den Wildhüter, damit er das arme Tier erlöst.“

Fahrt auf der Welterbe-Strecke

Wir sind gespannt auf eine der spektakulärsten Bahnstrecken, die es gibt. Sie führt von Chur in Graubünden bis ins italienische Tirano auf der anderen Alpenseite. Seit 2008 gehört sie zum Unesco-Welterbe. Der Bernina sei weltweit die dritte Eisenbahn mit dieser Auszeichnung, erklärt eine Frauenstimme aus dem Bordlautsprecher, und während sie weiter auf die zahlreichen Höhepunkte entlang der Strecke verweist, huscht der Lokführer hinaus, um eine Wasserflasche zu holen. Diesen Augenblick nutzt der Sohn und nimmt auf dem Chefsessel Platz.

Der 13-Jährige fährt normalerweise auf einem Drahtesel. Manchmal probiert er auf einem Feldweg hinter unserem Haus die alte Vespa seines Vaters aus. Der Knabe peilt eine Karriere als Moto-Cross-Pilot an. „Lokführer wäre aber auch nicht schlecht“, meint er nun. Als Toni Gansner zurückkommt, sitzt der Sohn immer noch in seinem Sessel, aber der Lokführer kennt sich aus mit Bubenträumen und lächelt. Dann drückt er auf einige Knöpfe, und der Zug rollt los.

Der Sohn hat es sich anders vorgestellt

Rechts neben den Gleisen plätschert der Rhein, ein paar Eisschollen treiben vorüber. Mit Reif überzogene Erlen neigen sich weit über das Ufer hinaus. Links sieht man Industriegebäude, dazwischen winterkahle Felder. Hinter Tamins, wo sich Vorder- und Hinterrhein vereinen, teilt sich die Bahnlinie, bei Thusis beginnt der Aufstieg zum Albulapass und damit die eigentliche Welterbe-Strecke mit ihren kühnen Viadukten und Kehrtunnels.

Gerade wirkte der Sohn etwas gelangweilt – er gehört zur Generation der i-Bahnfahrer und war, es muss leider gesagt werden, mit einem Computerspiel beschäftigt. Auf die Ermahnung entgegnet er, „die Strecke eh“ zu kennen. „Wir haben den Bernina-Express in der Schule durchgenommen.“ Auf den Bildern im Schulbuch habe „alles viel spannender ausgesehen“.

Zudem wohnen wir in einer kleinen Alpenstadt. Der Anblick von Schluchten und Wasserfällen reißt uns nicht so leicht vom Hocker. Ein wenig enttäuscht ist der Sohn vom bisherigen Bahnerlebnis auch deshalb, weil ihm die Fotos im Schulbuch den Eindruck vermittelten, „dass wir über die Gletscher drüberfahren und nicht untendurch!“ Ganz reibungslos gestaltet sich dieses Vater-Sohn-Unternehmen also nicht.

Zu jedem Meter Strecke gibt es eine Geschichte

Achtung, Linkskurve. Vorn im Zug macht die Reise noch mehr Spaß.
Achtung, Linkskurve. Vorn im Zug macht die Reise noch mehr Spaß.

© Helmut Luther

Zum Glück haben wir inzwischen die ersten Kehrtunnel erreicht. Der Nachwuchs weiß bereits, was der Lokführer erklären wird: dass die Ingenieure im 19. Jahrhundert die Tunnel in die Felsen sprengten, um Platz und Höhe zu gewinnen. Aber es macht einen Unterschied, ob man das in einer trockenen Unterrichtsstunde lernt oder am eigenen Leib spürt.

Wie ein Fausthieb trifft es einen, wenn der Zug mit 70 Stundenkilometern plötzlich in ein enges Felsloch eintaucht. Drinnen ist es stockfinster. Toni Gansner rät dem Sohn, während der Tunneldurchfahrt seinen Fotoapparat an der Schlaufe zu halten und dabei zu beobachten, was geschieht: Der Apparat dreht sich wie ein Pendel im Kreis. Der Beweis, dass man durch einen Spiraltunnel fahre.

Der Berg ist mancherorts immer in Bewegung

„Ich könnte über jeden Meter der Bernina-Strecke eine Geschichte erzählen“, sagt der Lokführer und zeigt die mit Plastikbändern gesperrte Stelle, wo im vergangenen Sommer genau in dem Moment eine Mure abging, als ein Zug vorbeifuhr. Ein Toter und mehrere Schwerverletzte waren die Folge. „Der Berg ist hier immer in Bewegung“, meint Gansner, eine hundertprozentige Sicherheit gebe es nicht.

Unterdessen haben wir den Albulatunnel erreicht, auf 1820 Metern die Verbindung ins Oberengadin. Im Beton über dem Tunneleingang prangt die Zahl 1904, das Jahr, in dem der Tunnel erbaut wurde. Parallel zum alten Tunnel, der den Sicherheitsbestimmungen nicht mehr entspricht, entstehe gerade ein neuer, erzählt Gansner. „Der ursprüngliche Tunnel soll nach der Fertigstellung nur mehr als Notausgang dienen.“

Irgendwann geht es nur noch bergab

In Pontresina wechseln Fahrer und Lok, nun sitzen wir neben Carlo Cortesi, einem jungen Mann aus dem Puschlav, einem Südtal, das wie ein vergessener Zipfel nach Italien hinunterreicht. Mittlerweile hat sich der Schneeregen in dichtes Schneetreiben verwandelt, so dass wir von der spektakulären Hochgebirgslandschaft ringsum wenig mitbekommen. Bis zum Berninapass bleibt alles in ein diffuses Grau gehüllt, blickt man über die weite Leere, schwindelt einem, weil das Auge nirgendwo Halt findet.

Vom Ospizio Bernina auf 2253 Metern geht es nur noch bergab. Und zwar wie auf einer Bobbahn. Diesen Eindruck verstärken die unter Schneemassen begrabenen Galerien, durch die wir im Schritttempo hinunterrattern. Unverständlich für den Sohn. „Da wäre ich sogar mit deiner Vespa schneller“, flüstert er in einem Moment, in dem der Lokführer ganz mit Bremsen beschäftigt ist. Das Pfeif-, Knirsch- und Kreischkonzert der Räder wäre ein aparter Hörgenuss, müsste man nicht befürchten, gleich ins Nichts abzustürzen.

Der Sohn ist von derlei Ängsten unberührt. Nach langem Schweigen hat er mit dem Lokführer ein ergiebiges Gesprächsthema gefunden: die hervorragende Pilzsaison im vergangenen Sommer und die hohe Wildtierdichte im Val Poschiavo. Die Spuren von Fuchs, Reh und Gämse hat der 13-Jährige bereits neben der Bahntrasse ausgemacht.

Bahn fahren macht hungrig

Als Carlo Cortesi weiter unten im Tal auf eine kleine Schafherde hinter einer Einzäunung zeigt und mit einem Grinsen behauptet, das sei alles, „was M 13 von seinen Streifzügen übrig ließ“, ist der Nachwuchs begeistert. Er hat von dem Braunbären aus dem Trentino gehört, der mehrere Esel und ungezählte Schafe zerriss, bevor er sich immer häufiger in die Nähe von Dörfern wagte und schließlich im Puschlav von einem Wildhüter erlegt wurde.

Hinter einer Kehre blitzen die Gneis-Dächer von Poschiavo hervor wie silberne Dinosaurierrücken. Wir beschließen, unsere Bahnfahrt hier im Hauptort des Tales zu beenden. Die Palmen und Weinreben Tiranos locken bei diesem Sauwetter nicht, außerdem macht Bahn fahren hungrig. An der unscheinbaren Holzhütte gegenüber dem Bahnhof wären wir sicher vorbeigerannt, doch Cortesi empfahl das Lokal. Ein guter Tipp.

Im Ristorante Stazione sitzen massige Männer in Arbeitshosen mit Signalstreifen, im holzgetäfelten, ofenbeheizten Raum schwebt der Duft von Bratensauce. Der Sohn bestellt Pappardelle (breite Bandnudeln) mit Hirschragout, der Vater wählt den Klassiker des Puschlavs: Pizzoccheri, Buchweizennudeln mit Gemüse, Käse und Butter. Alles kommt in Riesenportionen.

Zurück geht es in der Zweiten Klasse

Auf unserem Plan stünde jetzt ein Spaziergang zur Via di Palaz, der Straße der Palazzi am unteren Dorfrand, wo die Villen der Zuckerbäcker aus dem 19. Jahrhundert stehen – jener Arbeitsemigranten, die es im Ausland zu Wohlstand gebracht hatten und dann ihre Alterssitze im Heimatdorf mit Stuck verzierten. Aber es schüttet mittlerweile wie aus Kübeln. Deshalb unterbleibt auch ein Besuch am Grab des Schriftstellers Wolfgang Hildesheimer. Hier in diesem winzigen Schweizer Dorf fand der vor den Nazis geflohene jüdische Schriftsteller Ruhe, und hier lebte er bis zu seinem Tod 1991.

Zurück nach Chur fahren wir wie alle Normalsterblichen in der Zweiten Klasse. Über das bestandene Abenteuer möchte der Sohn im Geografieunterricht ein Referat halten. Arbeitstitel: Der Bernina-Express, wie er wirklich ist.

Helmut Luther

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