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Attraktive Fassade in Marienbad. Das Hotel Polonia erhielt seinen Namen 1950. Eröffnet hatte es, weit prächtiger im Jahre 1903, unter dem Namen New York.

© Hella Kaiser

Tschechien: Der Zauber von Marienbad

Goethe, Mahler, Tolstoi, Twain: Viele waren da. Wer heute in Marienbad kurt, wird (vielleicht) gesünder. Vor allem aber kommt er wunderbar ins Träumen.

Die Menschen haben keinen Respekt mehr. Da hakt sich eine ältere Dame einfach so bei König Edward VII. unter, ein kleiner Junge platziert eine Kastanie auf dessen Hut, und ein Mädchen kitzelt Kaiser Franz Josef I. am Kinn. Die beiden Herrscher, die da am Parkrand von Marienbad zusammenstehen, können sich nicht wehren. Sie sind aus Bronze. Tatsächlich hatten sich die beiden hier einst getroffen, vor gut 110 Jahren, am 16. August 1904. Es galt, den Geburtstag des Kaisers zu feiern.

Zu diesem Zeitpunkt kannte sich der König Großbritanniens schon bestens aus in Marienbad. 1897 war er das erste Mal in den Kurort gekommen und logierte in der Villa Luginsland. Heute steht sie als „Lil“ verwaist da, es heißt jedoch, sie solle in Kürze restauriert werden. Der König kam noch weitere acht Male in den Ort. Fasziniert schrieb er: „Ich habe ganz Indien, Ceylon, alle Bäderstädte in Europa bereist, aber nirgends hat mich die Poesie der wunderschönen Natur so wie hier in Marienbad am Herzen berührt.“ Edward ließ einen Golfplatz bauen, hatte ein Techtelmechtel mit einer Hutmacherin namens Mimi und prägte mit seinen Tweedjacken den Modegeschmack der Zeit. Marienbad blühte auf. Denn wo der König war, wollten alle anderen auch sein. Wahre Hotelpaläste im Stil der Neorenaissance entstanden, mit Türmchen und Erkerchen, mit imposanten Balkonen und üppigem Figurenschmuck. Das Schönste: Die ganze Pracht ist noch da, beinahe jedenfalls.

Die Architektur der Jahrhundertwende hat zwei Weltkriege nahezu unbeschadet überstanden. Manch ein Gebäude präsentiert sich ein wenig bröckelig, doch der Zauber ist geblieben. Hellgelb und weiß leuchten die meisten der reich geschmückten Fassaden. Nur vereinzelt konnte sich später die sozialistische Moderne breitmachen wie etwa beim Cristal Palace, dem das ehrwürdige Hotel Marienbader Mühle in den 1970er Jahren weichen musste. Dergleichen soll nicht mehr geschehen. 1992 wurde für Marienbad eine sogenannte Städtische Denkmalschutzzone ausgewiesen, in der zur Zeit 43 Gebäude gelistet sind. Auch das ehrwürdige Hotel Bohemia gehört dazu, dessen Geschichte sich in seinen früheren Namen spiegelt. Einst als Fürstenhof eröffnet, wurde es zu Broadway umgetauft und nannte sich zwischen 1949 und 1990 staatliches Erholungsheim Antonin Zápotocky.

Die Schönheit des jungen Marienbad sprach sich schnell herum

Marienbad ist ein faszinierender Ort für Flaneure. Denn man spaziert immerzu durchs Grüne. Parkanlagen, so weit das Auge reicht. Und das in einem Tal, das noch im 17. Jahrhundert unwirtlich und voller Sümpfe gewesen war. Zwar hatten die Chorherren des nahe gelegenen Stifts Tepl die zahlreichen Quellen untersuchen und sich die Heilwirkung auch belegen lassen. Doch die Anreise war beschwerlich und Unterkünfte, in einfachen Holzhäusern, rar. Karl Reitenberger, Abt des Stifts Tepl, wollte von seinem Traum Marienbad aber nicht lassen. 1818 endlich war es so weit. Ein Kurort wurde begründet, mit Brief und Siegel.

Damit genügend Gäste angelockt werden konnten, sollte die Gegend lieblicher werden. Der Landschaftsarchitekt Václav Skalnik wurde damit beauftragt, die Sümpfe trockenzulegen und großzügige Parkanlagen zu gestalten. Gartenkunst vom Feinsten gelang ihm. Er pflanzte Bäume und Büsche, legte Blumenrabatten an und schuf herrliche Sichtachsen.

Die Schönheit des jungen Marienbad sprach sich schnell herum. Auch Goethe, der zuvor öfter in Karlsbad gekurt hatte, war neugierig geworden. 1820 reiste er zum ersten Mal in den Ort – und staunte. „Mir war es, als befänd ich mich in den nordamerikanischen Wäldern, wo man in drei Jahren eine Stadt baut. Der Plan ist glücklich und erfreulich, die Ausführung ist streng, die Handwerker thätig, die Aufseher einsichtig und wach. (...) Nicht leicht habe ich etwas erfreulicheres gesehen.“

Twain schrieb aus der "Gesundheitsfabrik" für die "Chicago Daily Tribune"

Der Dichter übernachtete in der Pension „Zur Goldenen Traube“. Es ist das nahezu einzig verbliebene Haus im klassizistischen Stil und beherbergt heute das Stadtmuseum. Davor, auf dem Goetheplatz, steht ein Denkmal des Dichters. Darauf sieht man ihn ein wenig mürrisch auf einem Stuhl sitzen. Vielleicht schaut er deshalb so griesgrämig, weil es an diesem Ort nicht geklappt hatte mit dem späten Glück. Der 72-Jährige hatte sich in die 17-jährige Ulrike von Levetzow verliebt. Schriftlich hielt er zwei Jahre später um ihre Hand an, doch sie lehnte seinen Antrag ab. Nahe der Waldquelle am Marienbader Wanderweg stehen sie – seit 1967 – zumindest als Bronzefiguren in trauter Eintracht nebeneinander.

Johann Wolfgang und Ulrike – ein Paar sind sie nur in Bronze geworden.
Johann Wolfgang und Ulrike – ein Paar sind sie nur in Bronze geworden.

© Berkholz

In Wirklichkeit ist Goethe damals abgereist und soll noch auf der Fahrt zurück nach Weimar seine „Marienbader Elegie“ geschrieben haben. 23 Strophen zu je sechs Versen. Dort heißt es etwa: „Das Auge starrt auf düsterem Pfad verdrossen, es blickt zurück, die Pforte steht verschlossen.“ Der Schriftsteller Otto Erich Hartleben wetterte 1901 gegen „das scheußliche Gedicht“ und forderte: „Dieses aufgeplusterte hohle Stroh soll der Teufel holen.“ Für Stefan Zweig hingegen waren die Verse „eine der reinsten Strophen über das Gefühl der Hingabe und Liebe, die jemals die deutsche und irgendeine Sprache geschaffen“.

Marienbad wurde zum beliebten Ziel von Schriftstellern, Musikern, Künstlern. Unter ihnen Gontscharow, Tolstoi, Nietzsche, Chopin, Dvorak, Mahler – und auch Mark Twain. Der Amerikaner wollte keine Kur machen in Marienbad, er wollte sich nach eigenen Angaben „nur ein bisschen umschauen“. Was er sah, schrieb er auf und schickte es an die „Chicago Daily Tribune“. Dort erschienen am 7. Februar 1892 Twains launige Betrachtungen aus einer „Gesundheitsfabrik“. Schnell hatte der Schriftsteller erkannt: „Sie versuchen alles zu heilen – Gicht, Rheuma, Magersucht, Fettleibigkeit, Verdauungsstörungen und den ganzen Rest.“

Alles soll schnell, schnell, schnell gehen

Licht und luftig. Die Kolonnaden sind eine Eisenkonstruktion von 1889.
Licht und luftig. Die Kolonnaden sind eine Eisenkonstruktion von 1889.

© Kaiser

Das tun sie in Marienbad bis heute. Noch immer sprudeln 40 Quellen im Ort, darunter die Alexandraquelle, die Ambrosiusquelle, die Ferdinandquelle ... Und in keiner sind die gleichen Mineralien enthalten, so dass sich wohl für jedes Gebrechen ein Wässerchen finden lässt. So streng wie zu Twains Zeiten geht es indes nicht mehr zu bei den Anwendungen. Er beschrieb das Prozedere folgendermaßen: „Wenn ein Mensch Gicht hat, tun sie dies mit ihm: Er muss morgens um 5.30 Uhr aufstehen, sie geben ihm ein Ei und lassen ihn an einer Tasse Tee nippen. Um sechs muss er an seiner speziellen Quelle sein, mit seinem Becher, der ihm am Gürtel hängt. Da wird er jede Menge Gesellschaft haben. Sobald das Orchester anfängt zu spielen, muss er seinen Becher heben und das grauenvolle Wasser trinken. Das muss er ganz langsam tun. Dann soll er eine gute Stunde über die Hügel stapfen ...“ Seitenweise Hohn und Spott hatte der Amerikaner für den Kurbetrieb übrig.

Die Schnabeltassen aus Porzellan mit den bizarren Kitschmotiven werden noch immer verkauft in den Souvenirläden. Und sie stehen auch in der ehrwürdigen Trinkhalle des Ferdinandsbrunnens, in Holzregalen aufgereiht und mit Nummern versehen. So muss der Gast sein Gefäß nicht mehr am Gürtel mit sich tragen. Doch viele nehmen einfach einen Plastikbecher oder nuckeln an einer PET-Flasche. „Das geht gar nicht“, sagt Stadtführerin Anna Kotounová und seufzt: „Die Menschen heute haben keine Ahnung, wie man richtig kurt.“

Alles solle schnell, schnell, schnell gehen. „Aber man muss ganz langsam trinken und dabei wandeln“, erklärt sie. Zudem solle ein Badearzt entscheiden, welches Wasser das richtige ist und welche Mischung bevorzugt werden soll. „900 Milliliter soll man täglich trinken“, sagt Daniel Fajkus, Spa-Leiter im Falkensteiner Hotel. Während sich die Deutschen daran hielten, tränken die Russen dreimal so viel. „Sie denken, dass es dann besser hilft“, erzählt Fajkus. Aber leider sacke dadurch der Blutdruck ab, und auch Durchfall sei die Folge.

"Früher wurde für Gäste bei der Ankunft musiziert"

Die meisten Gäste in Marienbad kuren. In den Hotels sieht man sie sitzen, gehen und stehen – immer in weißen Bademänteln. „Bei den Russen hat die Kur einen höheren Stellenwert als bei Deutschen“, erzählt die Direktorin vom Hotel Falkensteiner. „Eine heute vierzigjährige Frau aus St. Petersburg kommt schon seit Jahren zur Kur, nur so könne sie den Stress im Beruf aushalten“, verrät sie. Deutsche Gäste in dem Alter interessierten sich hingegen nur für Wellness. Aber: Einfach nur im warmen Wasser plantschen, das bringe für die Gesundheit natürlich nichts.

Noch immer thronen trompetende, jubilierende Figuren auf dem Dach des grandios verschnörkelten Hotels Pazifik. „Früher wurde für Gäste bei der Ankunft musiziert“, erzählt Anna Kotounová. „Sie hatten ihre Weisen zuvor bestellt und auch bezahlt. Aber mitunter kam es zu einem Malheur. Wenn Gäste zeitgleich anreisten, war es die reinste Kakophonie.“ Das Begrüßungszeremoniell hielt sich nicht lange.

Ein Hotel in der Nähe, viel größer als das Pazifik, wartet noch auf seine Restaurierung. Ein über die zurückliegenden Jahrzehnte marode gewordener Palast, den man ganz schnell schützen müsste. Hier stand zu Goethes Zeiten das Klebelsberger Palais. Ende des 19. Jahrhunderts hatte es dem Hotel Weimar zu weichen. König Edward VII. wohnte etliche Saisons im ersten Stock, und seinetwegen senkte man sogar den Fenstersims, so dass er bequemer auf den Oberen Platz (heute Goetheplatz) blicken konnte.

Die Umgebung von Marienbad verspricht berückende Aussichten

Edward bekam seine Anwendungen im sogenannten neuen Kurbad, heute das Hotel Nove Lazne. Hier existiert noch immer seine mit schönen Fliesen verzierte Badesuite, die man für 40 Euro die Stunde mieten kann. Gerade hält ein weißer Maserati vor dem Gebäude, zwei dunkel gekleidete, beleibte Männer, gut über 50, steigen aus, dazu eine blutjunge Blondine. Sie sprechen Russisch. „Typisch“, denken wir. „Solche Menschen sind hier eher die Ausnahme“, sagt Anna Kotounová. Neureiche Russen oder Aserbaidschaner und Ukrainer finden an Marienbad kaum Gefallen.

Es gibt im Ort (anders als im nahe gelegenenKarlsbad) keine schicken Boutiquen oder exquisiten Schmuckläden, keine Restaurants, in denen Champagnerkorken knallen. Das einzige Gourmetlokal Villa Patriot wirkt äußerlich bescheiden. „Besucher aus Prag speisen hier gern, weil es gut ist und günstiger als in der tschechischen Hauptstadt“, heißt es.

Karlsbads 13. Quelle
Karlsbads 13. Quelle

© Berkholz

Marienbad ist von zahlreichen Hügeln umgeben, die berückende Aussichten versprechen. Wir fahren hinauf zum Krakonos, zum einstigen Café Rübezahl. Aber die romantische Einkehr der Jahrhundertwende gibt es nicht mehr. Rund 15 Jahre stand das imposante Gebäude leer. Ein ukrainischer Reeder hat es gekauft und gründlich restaurieren lassen. In Kürze soll es als Luxushotel eröffnen. Der alte Ballsaal, wohl perdu. Und wer wird sich später einen Kaffee auf der riesigen Terrasse leisten können? Jene Einheimischen, die mit den lustigen roten Seilbahnkabinen heraufgekommen sind und die Baustelle neugierig umrunden, wohl kaum. Der tschechische Durchschnittslohn liegt bei 900 Euro, in der Hotellerie verdient man bestenfalls 550 Euro.

Karlsbads Charme ist übertüncht worden

Marienbad liegt nur rund 45 Kilometer entfernt vom mondänen Karlsbad. Eine Stadt mit 50 000 Einwohnern. In Marienbad wohnen nur 14 000 Menschen. Auch in Karlsbad gibt es prächtige Häuser, das legendäre Hotel Pupp natürlich, Schauplatz von Bonds „Casino Royale“, und eine schier endlose Promenade entlang des Flusses Tepla.

Aber die Auslagen der Edelboutiquen und aufdringliche Werbung lassen die Schönheit der Häuser verblassen. Neben dem fetten Bogner-Schriftzug nimmt sich eine Goetheplakette bescheiden aus. Viele Tagestouristen spazieren an diesem Herbstsonntag durch Karlsbad, Asiaten knipsen um die Wette. Eine junge Russin trägt bei 18 Grad eine Pelzweste, ihr Begleiter zieht einen hechelnden Riesenmops an der Leine. Die Trinkhalle ist von realsozialistischer Scheußlichkeit, das betonmonumentale Hotel Thermal im Zentrum ein architektonisches Verbrechen der 70er Jahre.

Karlsbads Charme ist übertüncht worden. Der Besucher spaziert durch seelenlose Kulissen – und verspürt nach wenigen Stunden schon die Sehnsucht. Wir eilen zurück nach Marienbad, das so rührend stehengeblieben scheint in seiner Entwicklung. Mögen die Stühle auch billig sein im Kolonnadencafé, die Waren in den Geschäften etwas seltsam, die Reklame hartnäckig an sozialistischen Moden festhaltend – über dem Ort liegt ein Zauber. Und so schnell wird man ihn hoffentlich nicht vertreiben können.

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