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Olympiasieger Gustav Thöni ist seit langem passionierter Hotelier und Wanderer.

© Bisping

Familienwandern in Italien: Hüpfen am Hang

An die Hand genommen: Wie Flachlandkinder die Südtiroler Berge erobern.

Gute zwei Stunden sind wir schon unterwegs. Erst schlängelte sich der Weg gemächlich bergan. Dann führte er beunruhigend nahe am Abgrund entlang, bis einige Höhenmeter zu klettern waren. Dabei boten an den Felsen befestigte Seile Halt. Alles kein Problem. Nun aber liegt ein sehr schmaler Pfad vor uns, der unmittelbar am Abhang verläuft. Da kommen uns drei Urlauber entgegen. Zu steil und steinig sei es hier, sagen sie, deshalb hätten sie kehrtgemacht. Mit dem Kind sollten wir auf jeden Fall umdrehen, empfehlen sie, und quetschen sich an uns vorbei.

Halb so schlimm, erklärt das Kind. Der Knabe war den Weg bereits am Vortag gegangen – mit Stephan, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Gästekindern Beine zu machen. Also wandern wir weiter. Trotz einiger banger Momente zwischen Steilhang und Abgrund erreichen wir den Wasserfall und stapfen zügig hinter dem Vorhang aus prasselndem Wasser her, um nicht nass zu werden. Dann geht es auch schon wieder talwärts, wo unser Weg an der Kapelle zu den heiligen drei Brunnen vorbeiführt. Der malerisch gelegene Wallfahrtsort verdankt seine Existenz der Marienerscheinung, die einen Holzfäller um das Jahr 1500 dazu bewog, einen Baum zu schonen und neben ihm eine Kapelle zu bauen. Ein plätschernder Bach, der sich aus drei Quellen speist, bildet hier mehrere Becken. Neben ihm rauscht der Gletscherfluss. In seinem Bett kann, wer noch Kraft hat, von Stein zu Stein springen und eiskaltes Wasser trinken.

Die Route ist trotz „einiger exponierter Stellen“ als Familienwanderweg ausgewiesen und beweist, dass in Südtirol andere Maßstäbe gelten als nördlich der Alpen. Schon in den Dolomiten hatten wir gehört, dass das dortige, 2313 Meter hohe Weißhorn der „Gipfel der Fünfjährigen“ genannt werde: weil er so leicht zu erklimmen und deshalb der erste Berg ist, den kleine Kinder aus der Umgebung hinaufstapfen. Dass sie dort tatsächlich unterwegs sind , steht außer Frage. Denn Naturerleben und Bergwandern ist in Südtirol immer ein und dasselbe.

Unser fünfjähriges Flachlandkind hatte noch keinen Gipfel bezwungen. Die zweckfreie Fortbewegung zu Fuß war vielmehr so unfassbar langweilig, dass es sich nach spätestens 400 Metern tragen lassen wollte oder wenigstens ordentlich quengeln musste. Nun war es die ganze Strecke klaglos gelaufen und hatte uns noch Mut zugesprochen. Was war geschehen?

Stephan Gander, der mit seiner Frau Petra in fünfter Generation das in Trafoi im Nationalpark Stilfserjoch gelegene Hotel Bella Vista führt, hatte das Wanderwunder bewirkt. Als Vater von vier kleinen Kindern mit Erfahrung und zudem mit pädagogischem Geschick gesegnet, kennt er nicht nur diverse Tricks zur Motivation, sondern überzeugt Wanderneulinge vor allem durch eigene Begeisterung. „Die spannenden Sachen mit dem Stephan, die mache ich“, hatte unser Sohn überraschend erklärt: Kinderpunsch am Lagerfeuer nach dem Abendessen und die Dämmerungswanderung zu einer kleinen Hütte am Gletscherbach, wo die Kinder mit Stephan den Geräuschen der Nacht lauschen, das machte Spaß.

Hinter dem Hotel beginnt ein Reich ohne Autos

Mit Stephan bringt’s Spaß. Fantasievoll macht der Hotelier Kindern Beine.
Mit Stephan bringt’s Spaß. Fantasievoll macht der Hotelier Kindern Beine.

© Bisping

Bei der Familienwanderung, die Eltern und Kinder gemeinsam unter Ganders Führung unternehmen, kommt erst gar kein Kind auf die Idee, über die Art der Fortbewegung zu klagen. Eine ganze Horde ist unterwegs, keiner muss gesittet einherschreiten, alle können sich kindgemäß bewegen – also in der Ebene rennen, am Hang hüpfen oder klettern. Steilere Abschnitte gewinnen an Reiz, wenn Stephan zeigt, wo die Hand hinkommt und an welche Stelle dann der Fuß geht. Die Eltern können dabei erleben, dass die Sprösslinge anderen oftmals besser zuhören – und Anregungen sogar folgen.

Der Weg muss Abwechslung bieten, um als Ziel zu bestehen. Tiere sind besonders geeignet, die Aufmerksamkeit zu fesseln. Kommt gerade kein glockenklingendes Grauvieh des Wegs und lässt sich keine Gämse sehen, genügt eine Pflanze wie die Feuerlilie, die Stephan den Kindern zeigt. Ihre auffällige Färbung betrachten sie mit gespanntem Interesse – denn wer hätte gedacht, dass hier Orchideen wachsen? Immer lässt sich die Tür ins Reich der Fantasie öffnen. Stephan führt die Kinder durch den Zwergenwald, in dem kleine Bäume wachsen und daher womöglich auch kleine Wesen leben….

Dass ihm die Aktivitäten mit den Kindern Freude machen, glaubt man Gander sofort. Die Kinder teilen seinen Enthusiasmus rasch. Sogar eine dreijährige Norwegerin hat so an der Hand ihrer Mutter die Wanderung geschafft, auf der wir anderntags ein Grüppchen Erwachsener umkehren sehen.

Immer befördert die Kulisse das Erlebnis. Zurück im Tal bauen die Kinder Staudämme. Ein gefragter Experte dabei ist Stephan Ganders Schwiegervater Gustav Thöni, Ski-Legende, mehrfacher Olympiasieger und Weltcup-Gewinner sowie neun Jahre lang Trainer von Alberto Tomba. Thöni läuft im Winter mit den Gästen Ski, im Sommer geht er mit den Kindern am Bach spielen. Da werden dann zum Beispiel gemeinsam Wassermühlen gebaut. Das Hotel im Fünfzig-Einwohner-Dorf Trafoi ist auch das Haus seiner Kindheit. 1951 wurde er hier geboren. Da war es schon ein Traditionsbetrieb: 1875 wurde es erbaut, fortan wechselten an dieser Schnittstelle zwischen Ötztaler Alpen, Schweiz und der Lombardei Postkutschen die Pferde.

Berg massiv. Am Fuße des Ortlers im Vinschgau liegt der Weiher Trafoi, Basisstation für ambitionierte Wanderer.
Berg massiv. Am Fuße des Ortlers im Vinschgau liegt der Weiher Trafoi, Basisstation für ambitionierte Wanderer.

© Bisping

Die Landschaft eignet sich nicht nur, um die Lust am Gehen zu lernen. Ihre Bilder machen sie auch zu einer Kulisse für Kindheitserinnerungen, die durchs ganze Leben tragen. Hinter dem Haus liegt ein Kirchlein zwischen Wiesen, auf denen im Sommer mit der Sense Heu gemacht wird. Dahinter erheben sich der gut 3900 Meter hohe Ortler, die Trafoier Eiswand und der Madatsch. Auf ihren Gipfeln liegt noch Schnee, wenn es auf den 1500 Metern Trafois sommerlich warm ist. „Wir sind hier am Ende der Welt und am Anfang vom Paradies“, sagt Thöni.

Für die Kinder beginnt das Paradies an der Tür zur Terrasse. Neben dem Garten mit Spielplatz liegt die Wiese mit der Feuerstelle und einem Tipi. Von hier führt ein Pfad zum Bach hinunter. Dort befindet sich die Hütte, an der die Dämmerungswanderung endet. Zäune gibt es nirgends, und wiewohl das Hotel Bella Vista an der Stilfser Jochstraße liegt, beginnt hinter ihm ein Reich ohne Autos, aber voller Abenteuer. Als das Licht der letzten Sonnenstrahlen am Abend die Spitze des Ortlers rosa färbt und es im Garten kühl wird, sind die Kinder noch immer unterwegs. Für viele Gästekinder ist dies das Spannendste: draußen spielen, bis es dunkel wird, und dann am Lagerfeuer Stockbrot rösten – all das macht nicht müde, es macht Lust auf mehr. Anderntags will das Kind tatsächlich wieder losziehen. Stephan muss arbeiten. Aber mit den Eltern geht es ja jetzt auch.

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