zum Hauptinhalt
Ein Platz in der Tundra. Henrik, Arne und Ole (von links) sind Rentierzüchter. Für ihre Gäste haben sie ein Süppchen überm Feuer gekocht.

© Hella Kaiser

Finnmark: Am Himmel ein rosa Streifen

Lang und kalt sind die Winter in der Finnmark. Norweger lieben die Minusgrade. Sie laufen Ski, spielen Minigolf im Schnee und sitzen im Eiskino.

Rentiere sind scheue Wesen. Doch jetzt, nach etwa zwanzig Minuten, haben sie Vertrauen gefasst. Wagen sich zu den Büscheln getrockneten Grases, etwa hundert Meter von uns entfernt. Arne, Henrik und Ole, Experten für die Vierbeiner, hatten die Leckereien vorhin gut auf dem Schnee verteilt. Nun fressen die Tiere so ruhig, als seien sie allein in der weiten, weißen Landschaft der Finnmark. Karasjok, der nächste Ort, ist rund zehn Kilometer entfernt. „Nicht näher rangehen“, warnt Arne, „sonst bekommen sie Angst und laufen weg.“ Aber wir, in dicke Thermoanzüge eingemummelt, denken sowieso nicht daran, den warmen Platz am Lagerfeuer zu verlassen. Dabei ist heute ein erstaunlich milder Februartag. Nur acht Grad minus zeigt das Thermometer.

Rund ums Feuer haben die drei Männer Schnee zu robusten Sitzbänken geschaufelt und Rentierfelle darübergelegt. Die isolieren hervorragend. Die Kälte dringt nicht durch. Rund fünfzig Rentiere haben wir nun im Blick – und jedes sieht anders aus. Eines hat dunkelgraue Flecken am Bauch, ein anderes einen schwarzen Hals und ein weißes Hinterteil, ein drittes hellbraune Punkte an den Vorderbeinen. Über dem Feuer hat Arne drei Birkenstöcke gegeneinandergestellt und ihre Spitzen oben zusammengebunden. Dort hat er eine dicke Kette eingehakt. Daran baumelt eine rußgeschwärzte Kanne, aus deren Tülle nun starker Kaffee in unsere Holzbecher fließt.

Arne, Henrik und Ole gehören zu einer Samenfamilie. Rund 60 000 Menschen dieses indigenen Volkes sind in der Finnmark zu Hause. Wie viele Familienmitglieder es gibt, wissen sie selbst nicht so genau. „Vielleicht 40 oder 50“, schätzt Henrik. Da seien so viele Cousins und Cousinen, Neffen, Nichten, Vettern und Schwägerinnen. Wie viele Rentiere die Familie besitzt, fragen wir nicht. „Darüber wollen die Samen nicht reden“, hatte Outdoorguide Liv Engholm gesagt. „Das wäre so, als fragten Sie jemanden danach, wie viel Geld er verdient. Ein Tabu.“

Am Feuer werden nicht viele Worte gemacht. Die grandiose Natur lässt alle verstummen. Über dem weißen Hochplateau verteilen sich ein paar niedrige, dürre Birken und verkrüppelte Kiefern. Darüber spannt sich ein Himmel, pastellfarben, wie zart gepudert. Hier ein lilafarbener Streifen, dort Nuancen in Orange und Rosa und ein paar eierschalenfarbene Tupfer auf hellem Grau. Selbst Großstädter beginnen jetzt zu meditieren. Zeit spielt keine Rolle mehr. Für uns nicht, und für die Samen erst recht nicht.

Hoffentlich wird sich das nie ändern

„Ein Leben mit der Uhr passt nicht zur samischen Lebensweise“, erklärt Liv Engholm, die das Treffen organisiert hat. Manchmal sei das nicht leicht, sagt sie seufzend. Da werde schon mal eine Verabredung kurzfristig verlegt, weil es „später besser passt“. Etliche Samen hätten keinen Sinn dafür, dass Urlauber Termine wünschten. „Wenn Du heute keine Zeit mehr hast, hättest Du schon gestern kommen sollen“, habe einer mal einem ungeduldigen Besucher gesagt.

Ab und zu erhebt sich Arne und wirft weitere Zweige ins Feuer. Bedächtig rührt er den Eintopf um, der bald in einem Kessel über dem Feuer brodelt. Wie wunderbar so eine heiß gelöffelte, würzige Suppe von innen wärmt. Die Rentiere sind offenbar schon satt und liegen jetzt verdauend im Schnee. Ole ist mit dem Schneemobil losgefahren, um nachzuschauen, ob nicht das eine oder andere ausgebüxt ist. Ob das Leben in den nächsten hundert Jahren noch so sein wird, fragen wir. „Ich hoffe, das wird sich nie, nie ändern“, sagt Henrik. Dabei hilft der 28-Jährige der Familie nur noch ab und zu bei den Rentieren, verdient sein Geld in einer kleinen Firma in Karasjok.

Die Finnmark im Nordosten Norwegens umfasst ein Gebiet von der Größe Dänemarks. Dort aber leben rund sechs Millionen Menschen, in der Finnmark sind es nur rund 75 000. Die meisten von ihnen, 60 000, sind Samen. Und noch immer findet ein Drittel von ihnen ein Auskommen durch die Rentierzucht. „Alles vom Tier wird verwertet“, erklärt Henrik. Das Fell, das Fleisch natürlich, aber auch sämtliche Innereien, sogar die Augen würden gegessen. Die Geweihe würden gern als Garderobenhaken genutzt.

Auch in Schweden, Finnland und Russland leben Samen, wenn auch erheblich weniger. „Aber nirgendwo haben sie so viele Rechte wie in Norwegen“, sagt Kare Balto zufrieden. Er führt uns durchs samische Parlament in Karasjok. Die meisten der im Ort lebenden 2800 Menschen sind Samen. Vor 14 Jahren bekamen sie das Parlamentsgebäude aus Holz und Glas, gekrönt von einer spitzen Kuppel. Wie ein lávvu, das typische Zelt der Samen, wirkt der Bau. Viermal im Jahr kommen die 19 gewählten Parlamentarier hier zusammen und beraten darüber, wie die Belange des indigenen Volkes in Norwegen noch besser umzusetzen sind. „Jedes Mal zur Parlamentseröffnung kommt der norwegische König“, erzählt Kare stolz.

Warme Hände, ein Schluck Tee, ein Stück Schokolade

Coole Drinks in der Bar des Eishotels Sorrisniva in Alta – von Oktober bis Ende April.
Coole Drinks in der Bar des Eishotels Sorrisniva in Alta – von Oktober bis Ende April.

© Hella Kaiser

„Früher“, erinnert sich der 57-Jährige, „hatten wir es schwer.“ Die Norweger seien ziemlich rassistisch gewesen. „In alten Schulbüchern steht, dass Samen schmutzig sind, sich nicht waschen, und man sie meiden sollte.“ Zum Glück ist das Vergangenheit. Heute steht die Vermittlung der samischen Kultur auf norwegischen Lehrplänen, täglich gibt es im Fernsehen eine viertelstündige Nachrichtensendung auf Samisch, immer mehr Bücher werden ins Samische übersetzt.

Zu besonderen Anlässen nehmen die Samen auch mal einen Rentierschlitten. Meist aber sind sie, wie alle im Winterland, mit Schneemobilen unterwegs. Einfach kreuz und quer durch die Finnmark düsen, das funktioniert allerdings nicht. Die Rentiere könnten verschreckt werden. Auf manchen Pfaden sind auch nur Hundeschlitten erlaubt. „Dann sind Sie wirklich im arktischen Element“, sagt Christel, die mit ihrem Lebensgefährten Sven die Engholm-Husky-Lodge betreibt. Sie liebt den Winter im hohen Norden, auch deshalb, weil er sich von Monat zu Monat ändere. „Die Samen haben vier unterschiedliche Wörter für ihn“, weiß sie. „Am 21. Januar kommt die Sonne zurück, und immer vor diesem Datum sinkt die Temperatur stark“, erzählt Christel.

Wenn es auch nicht mehr so kalt werde wie an einem Januartag Ende des 19. Jahrhunderts. Minus 52,6 Grad wurden damals in Karasjok gemessen. Ein Rekord. „Im März dann wird das Licht immer intensiver und fließt wie Gold über den Schnee. Im April beginnt das Eis zu schmelzen, und man kann dem Gluck, Gluck des Wassers lauschen.“ In der kalten Jahreszeit würden die kleinen Dinge wichtig, warme Hände zu haben etwa, ein Schluck Tee oder ein Stück Schokolade.

Keine Siedlung weit und breit

Den Zauber der Landschaft fassen die Samen gern in ein Joik. Das ist ein Lied, das nur aus Lauten besteht, mal fröhlich, mal melancholisch klingt. „Ich habe mal eins über zwei sehr unterschiedliche Brüder gemacht“, sagt Per Tor Turi. Einer war immer lustig und laut, der andere in sich gekehrt und verträumt. Er trägt’s uns vor und es ist, als sähen wir die beiden Brüder vor uns.

120 Kilometer sind es von Karasjok bis Kautokeino. Niemand wohnt zwischen diesen beiden Orten, keine Siedlung weit und breit. Die schmale Straße führt durch eine weiße, nahezu unberührte Landschaft. Linkerhand begleitet uns ein breites, sanft geschwungenes Band aus Schnee. Man sieht nicht, dass ein Fluss darunter ist. Ein Schneemobil gleitet darüber hin, verliert sich bald als winziger Punkt in der Ferne.

Kautokeino ist mit seinen 2900 Einwohnern etwa so groß wie Karasjok. Es gibt nur ein einziges Hotel, das Thon. Hier spielt sich, vor allem im Winter, das gesellschaftliche Leben ab. Also fast das ganze Jahr über. „Wir haben acht Monate Winter und drei Monate schlechte Wintersportbedingungen“, sagt Restaurantleiter Knut Alseth grinsend. Da lässt man sich für die Gäste eben was einfallen. Dass es einen Eisbar gibt – geschenkt. Hier haben sie einen Minigolfparcours aus gefrorenem Wasser geformt. Schnell rollt die Kugel über Bahnen und Hindernisse und landet mit etwas Glück irgendwann dort, wo sie hin soll: im Eisloch. Zwar steht man die Runde nur im Thermoanzug und mit gut gefütterten Handschuhen durch, aber all das bekommt man im Hotel geliehen.

In die Tundra verliebt

Gesamtkunstwerk. Juhls’ Silbergalerie in Kautokeino ist viel mehr als nur ein Laden.
Gesamtkunstwerk. Juhls’ Silbergalerie in Kautokeino ist viel mehr als nur ein Laden.

© Hella Kaiser

Das Tollste im Thon-Hotel ist das Eiskino. Schneekristalle glitzern auf der breiten weißen Leinwand. Fürs Publikum sind Stufen aus Schnee gebaut worden, auf denen Rentierfelle liegen. Junge Einheimische sind mit ihren Snowmobils in den Zuschauerraum gefahren und haben sich in erster Reihe aufgestellt. „Es ist das einzige Drive-in-Snowmobilkino der Welt“, sagt Knut Alseth. Und bedauert, dass hier keine Spielfilme laufen können. „Die dauern anderthalb Stunden, das hält keiner aus bei den Temperaturen.“

Kurzfilme seien okay, drei sind es meist, in insgesamt 40 Minuten. Heute, das Programm wechselt täglich, präsentieren sie das Leben der Samen. Berührende Streifen und künstlerisch so wertvoll, dass sie auf der Berlinale Furore machen würden. Wie dort wird das Ende der Aufführung beklatscht. 15 Grad minus. Die Jungs in den Snowmobils, die ihre Mützen zu Beginn cool abgenommen hatten, ziehen die Kopfbedeckungen tief über die Ohren. Wo ist Kautokeinos Jugend Ende April, wenn ihr Kino zerschmolzen ist?

Kautokeino hat noch eine Sehenswürdigkeit. Juhls‘ Silbergalerie. Das ist nicht einfach ein Laden für Silberschmuck, sondern das Lebenswerk eines Ehepaars, er Norweger, sie Deutsche. Vor fünfzig Jahren hatten sie sich in die Tundra verliebt, die erste Hütte auf weiter Flur gebaut. Über die Jahrzehnte haben sie das Anwesen vergrößert, alles ist ineinander verschachtelt, man spaziert durch die Welten indigener Völker. Regine Juhl, heute 75, hat Goldschmiedin gelernt. Und wusste nicht recht, was sie hier mit ihrem Beruf anfangen sollte.

Was mache ich denn? Tand für eitle Damen?, fragte sie sich. Und fertigte dann filigranen Schmuck, der sich an alten samischen Mustern orientiert. Die Armbänder, Ketten und Ringe sind längst Kult in Norwegen. „Schmuck war wichtig für die Samen wie für alle Nomadenvölker“, erzählt Tochter Sunniva, die jetzt die Galerie führt. „Schmuck ist klein, hat kaum Gewicht und ist kostbar. Man kann ihn immer mitnehmen und sogar damit handeln.“

Die Attraktion ist das Museum

Auch Sunniva entwirft Schmuck, passend zu den bunten Trachten der Samen. „Wenn ich aus dem Fenster in die weiße Landschaft blicke, ist mir klar, warum die Trachten so farbenfroh sind“, sagt sie. Die Kostüme werden immer noch getragen. Vor allem natürlich bei den Hochzeiten, die traditionell zu Ostern gefeiert werden. „Dann stehen die künftigen Ehepaare schon mal Schlange vor der kleinen Kirche von Kautokeino“, erzählt Sunniva. Im Durchschnitt würden 400 Gäste fürs Hochzeitsfest eingeladen, es könnten aber auch bis zu 2000 werden.

Gut zwei Stunden Fahrt bis nach Alta, der 18 000-Einwohnerstadt am Fjord. Die Attraktion ist das Museum, in dem sich alles um die in der Umgebung gefundenen Felszeichnungen dreht. Ein Weltkulturerbe. Wir eilen erst mal zur Terrasse. Welch ein atemberaubender Blick auf den Fjord. „Ist schon gut“, sagt Museumsleiterin Anita Tapio lächelnd, „das tun alle unsere Besucher zuerst.“ Rund 3000 Felszeichnungen wurden in Alta entdeckt, die ältesten sind 9000 Jahre alt. Rentiere, Fische, Menschen auf Skiern wurden in Stein geritzt, gemeißelt oder aufgemalt. Jener Alltag ist festgehalten, der die Finnmark heute noch prägt. Auch jüngere Funde und Sammlungensind zu betrachten. Ein Holzboot mit Elchkopf am Bug, samische Schamanentrommeln, Bilder von stolzen Lachsfischern.

Anita Tapio will, dass wir sehen, wie die Gegend im Sommer aussieht. Und zeigt uns einen kurzen Film. Altas Umgebung in Grün, Menschen in kurzen Hosen und ärmellosen Kleidern. „Ich freue mich schon so auf die Mitternachtssonne“, flüstert die Museumsleiterin. Sommer am Fjord? Wir gehen noch einmal auf die Terrasse, blicken auf die weiße Fjordlandschaft und den pastellfarbenen Himmel. Kann es hier denn wirklich noch schöner werden?

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false