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Florenz

© laif

Florenz: Allein mit Michelangelo

Im Winter gehört Florenz den Einheimischen. Fremde erleben ungestört den Zauber des Alltags – und müssen nirgends anstehen.

Florenz im Sommer zu erleben ist ein Fehler, den Einheimische tunlichst vermeiden. Sobald der Asphalt am Arno zu köcheln beginnt, verschwinden sie ans Meer oder in den Schatten eines toskanischen Hügels. Zurück bleibt eine Stadt ohne Freude: Restaurants und Läden überfüllt oder geschlossen, die Parkplätze rar, die Luft schlecht. Durch die Hitze der Altstadt schleppen sich erschöpfte Touristen, bevor sie die Piazzale Michelangelo erklimmen, um blicklos auf die schöne Stadt zu starren. Die Besucher sorgen dafür, dass die Schlangen vor den Uffizien und der Galleria dell’Accademia kaum kürzer sind als in den letzten Maitagen. Dabei ist die Lösung einfach: Florenz im Winter.

Das Klima bleibt mild. Man erkennt, dass die Stadt, deren historisches Zentrum angeblich mehr Kunstschätze pro Quadratmeter birgt als jeder andere Ort der Welt, tatsächlich bewohnt ist. Man geht ins Museum, als sei dies Osnabrück: Rasch ist eine Eintrittskarte erstanden, schon schlendert man durch leere Säle und bleibt vor Michelangelos „David“ stehen. Den Ehrfurcht gebietenden Anblick des nachdenklichen Jünglings teilt man mit wenigen anderen Besuchern.

Die Einheimischen gehen mit langen Mänteln gegen eine imaginäre Kälte vor. Vermutlich dient ihnen die Jahreszeit jedoch lediglich als Vorwand, die elegante Wintergarderobe aus der Via degli Strozzi auszuführen – auch wenn es dann im Straßencafé unter den Heizpilzen ziemlich warm wird. Verdichtet sich die Luftfeuchtigkeit zu feinem Sprühregen, spannen sie unverzüglich Schirme auf.

Nicht nur, wer die Hälfte aller Kunstschätze Italiens in Ruhe sehen, Platz in Geschäften und Restaurants haben möchte, muss Florenz im Winter besuchen. Auch wer mit Kindern reist, die im Überlebenskampf des italienischen Straßenverkehrs noch nicht bestehen können, ist mit der kühlen Jahreszeit am besten bedient. Denn oftmals entsteht der Eindruck, man gehe mit dem im Wagen festgezurrten Kind in ein Gemälde hinein: auf einem Bürgersteig, der sich mit zunehmender Entfernung stetig verjüngt. Nur dass dies kein perspektivischer Trick ist, sondern Realität. Bald schon ist das Trottoir so schmal, dass die Flucht auf die Straße der einzige Ausweg ist. Hinzu kommen Schlaglöcher, etwa so tief wie in Indonesien. Nicht auszudenken, wie man vorankommen wollte, wären diese Gehsteige auch noch voller Menschen.

Jetzt, da die Florentiner ungestört ihren Alltagsbeschäftigungen nachgehen, fühlt sich der Besucher schnell als Einheimischer. Es ist einfach, sich diesem Leben anzupassen: durch Beobachtung und Imitation und in Übung der Sprache, die angeblich nirgends so rein gesprochen wird wie hier. Auf der Piazza Massimo d’Azeglio sitzen Menschen auf Bänken und lesen Zeitung unter Bäumen, deren Laub noch immer verfärbt ist. Rentner füttern Tauben, Eltern setzen Kinder auf die Pferde eines nostalgischen Karussells. Ein paar Sträßchen weiter herrscht auf dem Markt von Sant’Ambrogio an der Piazza Ghiberti maßvolles Gedränge. Wundervoller Käse, getrüffelter Schinken und köstliche Salami werden hier verkauft, orange leuchtende Kürbisse und vielerlei Olivenöle in Flaschen mit handbeschrifteten Etiketten. Überall herrscht Plauderlaune: Auf dem Markt wird gescherzt, im Papierwarengeschäft erzählt die Geschäftsführerin aus Florida vom Winter in Miami, vor dem Hotel amüsiert sich der Doorman aus Québec über das Kälteempfinden der Florentiner.

Durch Fenster und offene Türen schaut man in Werkstätten, in denen Fahrräder repariert und Kunsthandwerk hergestellt werden. In den Seitenstraßen der Altstadt haben Restaurants und Cafés die Plätze im Freien auch in der kalten Jahreszeit nicht aufgegeben. Unter dem Schutz fester Planen nippen die Menschen an Espressotassen und Weingläsern, volle Einkaufstaschen neben sich. Eingekauft wird natürlich immer; schließlich liegt eine merkantile Verlockung neben der anderen. Wo sonst fände man wohl ein Familienunternehmen, das seit dem 19. Jahrhundert in Handarbeit Hüte fertigt? Und zwar so erfolgreich, dass es außer dem winzigen Geschäft in der Via de la Spada, unweit wuchtiger Namen wie Armani, Dolce & Gabbana und Emilio Pucci, nur eine Filiale gibt: in Paris. Zu kaufen sind die Hüte, Kappen und Handschuhe von Grevi natürlich auch in anderen Geschäften. Etwa bei „Britta in Bicicletta“ jenseits des Flusses. Dort hat sich die Designerin Federica Ghisi ihren Traum von einer Boutique für Kinder erfüllt – voller eigener Entwürfe, seltener Labels und eben Mützen aus dem Hause Grevi.

An diesem ruhigen Wintermorgen freut sich die Inhaberin über Gesellschaft. Sie versorgt ihre Kunden mit Tipps für das echte Florenz und seufzt über die anonymen Filialen überall gleicher Ketten, Systemgastronomie und Fast-Food-Pasta: „Unsere Stadt bietet so viel, doch es wird immer schwieriger, das zu erkennen.“ Federica schwärmt von hausgemachten Sandwiches des Feinkostladens Ino und den bodenständigen Kochkünsten des Florentiner Chefs Fabio Picchi. Er wirkt in der Küche seines Restaurants Il Cibrèo seit 1979 kulinarische Wunder – in unmittelbarer Nachbarschaft zum Markt von Sant’Ambrogio.

Vor der Tür Federicas scheint nun eine blasse Wintersonne. Der Fluss wälzt sich schlammig gelb voran, die Brücke Ponte alle Grazie leuchtet unter tiefen Wolken. Von hier aus sieht die Stadt so aus, als schlenderten dort drüben am anderen Ufer noch immer Sandro Botticelli, Leonardo da Vinci, Michelangelo oder Raffael umher, die Köpfe voller Ideen, Bilder und Farben – oder als überquerte Großherzog Cosimo I. wie vor 500 Jahren täglich die Ponte Vecchio, um vom Palazzo Pitti zum Regieren in den Palazzo Vecchio zu gelangen.

Im Viertel San Niccoló ganz in der Nähe füllen sich die überdachten Terrassen auf Bürgersteigen und winzigen Plätzen. In diesen engen Straßen beginnt der steile Aufstieg zur Piazzale Michelangelo. Er ist in der Tat so steil, dass man auch ohne Sommer in Wallung gerät. Die Aussicht auf Kuppeln und Türme der Stadt wärmt indessen auch winterkalte Seelen.

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