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Frankreich: Hauptstadt der Harmonikas

Die „Perlmuttnächte“ im französischen Tulle stehen Mitte September ganz im Zeichen der Akkordeonmusik.

„Handfeuerwaffen und Harmonikas (armes et accordéons)“, sagt Madame Lamy, „haben beide denselben Anfangsbuchstaben und beide wurden in Tulle hergestellt.“ An Waffen sei seit dem 17. Jahrhundert getüftelt worden, Akkordeons habe man vom frühen 20. Jahrhundert an gebaut. Laurence Lamy, eine schmale Frau mit buschigem schwarzen Haar und einem schnellen Mundwerk, ist die Direktorin beider Museen in Tulle, des Waffen- und des Akkordeonmuseums. Doch sie macht keinen Hehl daraus, dass ihr Herz eher für Quetschkommode, Zerrwanst und Schifferklavier schlägt als für die musealen Totschlaginstrumente.

Tulle im französischen Zentralmassiv zählt vordergründig nicht zu den zwingenden Zielen, die der Tourist erreicht haben muss. Die durch Ufermauern gebändigte Corrèze fließt mitten hindurch. Rund um die Kathedrale, erbaut zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert, führen steile Gässchen, ehrwürdige Renaissancefassaden sind zu bewundern. Aber Tulle ist kein Idyll, sondern eine lebendige, alltagstaugliche Provinzstadt. Neben schönen Bürgerhäusern mit hohen Fenstern und graublauen Jalousien erheben sich architektonische Entgleisungen aus den sechziger Jahren. Umgeben ist Tulle von der grünen Landschaft des Limousin. Graue Bruchsteinhäuser mit Schieferdächern scheinen aus den Wiesen zu wachsen, braune Kühe weiden auf den Hügeln, und im Herbst werden die Früchte der Esskastanien geerntet, um später auf dem Grill zu landen.

Früher kam neben den Waffen auch Tüll aus Tulle. Von beidem ist nicht mehr die Rede, doch das Akkordeon ist geblieben und hält den Ruhm der Stadt hoch. In jedem September lädt die Gemeinde zu einem rauschenden Akkordeonfestival: Les Nuits de Nacre, die Perlmuttnächte, nach dem Stoff, aus dem früher die Knöpfe der Ziehharmonika gefertigt wurden (heute sind sie aus Plastik) – und am Stadtrand produziert die älteste und einzige Akkordeonfabrik Frankreichs, Maugein Frères. Dort werden wir am Ende der Tour hingehen.

Laurence Lamy, die auch als Festivalleiterin fungiert, hat ihr Büro im ehemaligen Direktionsgebäude der Waffenfabrik. Ursprünglich war die Villa mit dem Fächerfenster über der Tür und dem roten Läufer auf der Freitreppe dazu vorgesehen, das Akkordeonmuseum zu beherbergen. Aber das Gebäude erwies sich als zu klein und verlangt inzwischen selbst nach wirkungsvolleren Konservierungsarbeiten als den Stahlstempeln zwischen Fußboden und Decke im Erdgeschoss.

In der Beletage parken die Harmonikas provisorisch in Holzregalen, zusammengeschoben, zugeknöpft und ohne Atem, rot mit silbernen Sternen, blau mit goldenem Netz, grün, violett und kupferfarben marmoriert, sechseckige Concertinas in ihren Etuis aus Palisanderholz; eine emaillierte kleine Quetschkommode aus den Pariser Salons des 19. Jahrhunderts und das Instrument von Jo Courtin, der die große Edith Piaf oft begleitet hat.

Im Raum daneben wurde die Pariser Musikalienhandlung von Martin Cayla wiederaufgebaut, so, wie sie Monsieur Cayla im Jahr 2000 in der Rue du Faubourg St. Denis nach Jahrzehnten des Beharrens auf seiner Ordnung und Ästhetik zugeschlossen hat. Plakate von gegelten, verträumt blickenden Bandoneonspielern hängen an den Wänden, vergilbte Noten liegen in Stapeln auf dem Boden und in Regalen. Tango oder Musettewalzer auf Langspielplatten sind sortiert, ein handgeschriebenes Schild klebt an der Glastür: Bin gleich zurück. Ein Plakat zeigt Monsieur Cayla als französisches Double von Oliver Hardy, mit breitrandigem schwarzen Künstlerhut. Seine Finger liegen auf der Flöte eines Dudelsacks.

„Die Leute wollten tanzen, tanzen, tanzen“

Ein Akkordeon arbeitet mit Zugluft und schwingenden Metallplättchen, denen durch Klappen der Wind zugeführt oder abgeschnitten wird. Kurz gefasst, denn natürlich ist alles viel, viel komplizierter. Ein Profi-Instrument besteht aus mehr als 6000 Teilchen, aber auch eins mit nur 3000 kann ein ganzes Orchester ersetzen. Über die Tasten werden zu Melodie und Bassbegleitung Akkorde gespielt. So klingt es mal schmutzig und grell, mal zart, schwebend und rührend. Die Wuppdizität der Harmonika, ihr vielstimmiger, foppender Klang wirken unmittelbar gemütsaufhellend. „Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Instrumente übrigens grässlich angehört“, gibt Laurence Lamy zu bedenken, „es fehlte an allem, an Holz, Leder und Metall.“ So schusterte man etwas zusammen, denn „die Leute wollten tanzen, tanzen, tanzen“.

Und das tun sie auch Mitte September in Tulle. Der Platz um die Kathedrale und die Straßen links und rechts des Flusses, der Corrèze, gleichen einem Parcours von Bühnen. Wer kein Mikrofon ergattert hat, setzt sich eben an eine Hausecke oder unter eine Plantane am Fluss und spielt unplugged. Akkordeonklänge fließen aus den Bistros, übertönen Füßescharren, Geschirrklappern und das Geräusch von Wangenküssen. Sie erzeugen mehr als eine harmlose Brise aus Südwest, spielen Jazz und Rock, Tango und Polka, Folk Punk, Pop-électro – und natürlich die beliebte Musette.

Rund um die große Kirche dreht sich tout Tulle, zumindest alle Menschen jenseits der fünfzig drehen sich im schnellen Dreivierteltakt, Herren mit Damen, Damen mit Damen und wer gar niemanden zum Mittanzen gefunden hat, springt alleine herum und stochert mit ausgestreckten Zeigefingern durch die Luft.

Es ist die gleiche hingerissene Seligkeit und das gleiche Instrument, wenn auch eine andere Musik, die nachts auf der Place Astor Piazolla den Pogo-Tänzern Beine macht, am Ufer die Menge zum gellend-süßen Klezmer-Sound kreiseln lässt.

Was technisch in einer Harmonika steckt, kann man sich bei den Brüdern Maugein anschauen, die ihre Manufaktur während des Festivals auch am Sonnabend geöffnet haben. 20 Mitarbeiter sind hier beschäftigt und stellen pro Jahr rund 700 Akkordeons her. Für Laien ist es schier unvorstellbar, wie viele unterschiedliche Modelle es gibt. In jedem Instrument, so wird erklärt, stecken rund 200 Arbeitsstunden, vom Sägen der hölzernen „Karosserie“ bis zur Feinstimmung durch den sogenannten Akkordeur in seiner fensterlosen Butze. Außer dem Koffer, den Gurten und den Knöpfen produziert Maugein sämtliche Teile des Instruments selbst. So hat das Unternehmen aus der ehemaligen Waffenschmiede zwei 100 Jahre alte Maschinen übernommen, die kleine Metallteile stanzen: Schwerter zu Stimmplättchen.

Quietschrosa, Glitzer und jede Menge schauerliche Muster

Im Ausstellungsraum von Maugein, wo neben den fabrikeigenen Instrumenten auch schimmernde Harmonikas längst geschlossener Manufakturen wie Zirkusartisten warten, die vielleicht nie wieder aufgerufen werden, spielt ein Mitarbeiter auf dem Modell Octavia Schmissiges zum Mitsingen. Einige Musiker des Festivals schauen immer vorbei, um einen Blick auf die Akkordeons zu werfen und, wenn der alte Herr eine Pause macht, selbst eine Musette oder Vedette zu schultern und die Finger prüfend über Tasten und Knöpfe gleiten zu lassen.

Akkordeons kann man nicht nach der Uhr oder gar im Akkord herstellen. „Bei uns wird nicht gehetzt“, sagt Rafael Clavero. Der 53-Jährige arbeitet seit mehr als drei Jahrzehnten bei Maugein. Für jedes Instrument sammelt er auf einem Tablett die Einzelteile, damit der Monteur sie beim Zusammenbau nicht selbst einsammeln und dazu durch die ganze Halle gehen muss.

Monsieur Clavero hat etwas Flitter im Schnauzbart. Den hat er sich beim Rundgang in der Werkstatt von Mary Rafin eingefangen, die Instrumente nach Sonderwünschen dekoriert. In der Berufsschule hat die junge Frau Karosserielackieren gelernt, aber dann fand sie es doch „amüsanter, ein Akkordeon zu bemalen als einen Peugeot“. Ein Kunde, der etwas Schräges – jenseits der Standardfarben von Savannengelb bis Tangorot – wünscht, landet bei Mary Rafin. Und Kunden mit besonderem Geschmack gibt es viele: eine Achtjährige, die sich entschlossen auf Quietschrosa mit Glitzer festgelegt hat, oder ein Liebhaber des Maritimen, der Anker und Seesterne auf dem Instrument sehen will. Auch den Stoffbezug für den aus Pappe gefalteten und mit Zickleinleder eingefassten Balg kann der Kunde wählen; darunter jede Menge schauerliche Muster. Monsieur Clavero hebt Augenbrauen, Schultern und Hände, eine Geste der Resignation im Angesicht menschlichen Ungenügens und gibt einen entsprechenden Laut von sich: „Pluf – über Geschmack will ich nicht streiten.“ Er selbst spielt übrigens kein Akkordeon.

Auch René Lachaise, der Chef von Maugein, Neffe eines der Gründerväter und pensionierter Lehrer, ist kein Akkordeonspieler. „Früher einmal habe ich damit angefangen, aber dann ich war zu faul zum Üben.“ Mit 72 Jahren denkt Monsieur Lachaise daran, sich allmählich aus dem Betrieb zurückzuziehen. Dabei hängt sein Herz dran. Weil er vermeiden will, dass neue Besitzer die Produktion in Billigländer auslagern könnten, hat er ein Geschäftsmodell entwickelt, nach dem 40 Prozent des Kapitals für einen Euro an die Mitarbeiter gehen. Weitere 40 Prozent werden von Privatleuten gehalten und 20 Prozent gehören dem Département und der Stadt Tulle.

„Das Ganze hat keine Eile, aber die Papiere sind fertig, im Fall, dass mir etwas passiert“, sagt er. „Es ist beruhigend zu wissen, dass es weitergeht.“ Und Tulle weiter die Hauptstadt der Harmonika bleibt.

Elsemarie Maletzke

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