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Land in Sicht. Die Vogelperspektive lässt erahnen, welch’ Schicksal Mont Saint-Michel vor der Küste der Normandie droht, weil die Natur außer Kraft gesetzt wurde.

© Uwe Küchler

Frankreich: Wasser für den Zauberberg

Mont Saint-Michel, das beliebte Ziel für Frankreich-Reisende, droht zu versanden. Nun ist Rettung in Sicht.

Am Abend hatte es geschüttet. Schnurgerade fiel der Regen vom wolkendunklen Himmel. In der Auberge Saint-Pierre wurde das Abendessen aufgetragen: neun Austern mittlerer Größe gefolgt von lange geschmorter Keule vom Salzlamm und drei Sorten normannischen Käses. In der Gasse vor dem Haus war niemand mehr unterwegs; drinnen saßen kaum noch Gäste beim Essen. Über eine steile, gewundene Treppe erreichten sie die kleinen Gastzimmer überm Restaurant. Außer dem Rauschen des Regens vor dem Fenster war dort nichts zu hören. Dass sich am Tag mehrere tausend Besucher durch die Gasse darunter gedrängt hatten, war schwer vorstellbar.

Der Mont Saint-Michel ist reich an Superlativen. Als meistbesuchtes Monument Frankreichs außerhalb von Paris hat er in der Gunst der Touristen nur einen ernsthaften Konkurrenten: den Eiffelturm. Und als einziger Ort des Landes, der niemals von feindlichen Truppen eingenommen wurde, besitzt der Glaubensberg auch patriotische Strahlkraft. Versuche, ihn einzunehmen, gab es immer wieder. Eine englische Kanone erinnert bis heute an die unruhigen Zeiten des Hundertjährigen Kriegs, als im 14. und 15. Jahrhundert überall in der Normandie Engländer herumliefen, die das Land für ihres hielten. Doch die hohen Mauern machten die Klosterburg zur uneinnehmbaren Festung, gegen die Engländer genauso wie später Hugenotten vergeblich anrannten.

Der Kontrast zwischen Tag und Nacht könnte größer als hier kaum sein: dem Ansturm der Besucher, die sich tags bei „La Mère Poulard“ mit Omelettes stärken, die sich auf den Stufen zur Abtei drängen, die sich in den Souvenirbuden mit Kühlschrankmagneten, Serviettenringen und Küchenhandtüchern eindecken, folgt am Abend geradezu klösterliche Stille.

Der Berg führt ein Doppelleben. Eigentlich ist er Pilgerziel, seit Bischof Aubert in Avranches auf dem Festland gleich dreimal der Erzengel Michael erschienen war. Sein Auftrag: Aubert möge auf dem achtzig Meter hohen Felsen mit Namen Mont Tomb – Grabesberg – eine Kapelle errichten. Das war 708. Draußen tobte ein Orkan, der dem Berg die Verbindung zum Land entriss. Obwohl er fortan vor der Küste im Meer stand, wurde die erste Kapelle im Jahr darauf erbaut.

Über Jahrhunderte wurde der Sakralbau immer wieder vergrößert, der Zauberberg vor der Küste war im Mittelalter das wichtigste Pilgerziel des Abendlandes. Aus ganz Europa wanderten die Frommen herbei und ließen eine einträgliche Tourismusindustrie entstehen. So groß war der Ansturm, dass die Reisenden einander in den schmalen Gassen des Glaubensbergs bisweilen buchstäblich erdrückten. Weitere Opfer forderte das Meer. Denn die Flut strömt hier mit dramatischer Geschwindigkeit an die Küste: 62 Meter schafft das Wasser pro Minute bei einlaufender Flut – der höchste Tidenhub Europas.

Die Unesco hat bereits eine Warnung ausgesprochen

Bis ins 19. Jahrhundert war die Klosterburg nur bei Ebbe zugänglich. Dass die Insel immer mehr verlandet, ist eine Folge des Tourismus.
Bis ins 19. Jahrhundert war die Klosterburg nur bei Ebbe zugänglich. Dass die Insel immer mehr verlandet, ist eine Folge des Tourismus.

© Stefanie Bisping

Dass das Wasser den Berg indessen seit Jahrzehnten nicht mehr ungehindert umspült, ist eine Folge des Tourismus. Eigentlich lag die Insel vier Kilometer vom Festland entfernt. Um der Pilger willen wurden im 17. Jahrhundert Polder angelegt, die bis auf einen Kilometer an den Berg heranreichten. Später kanalisierte man den Couesnon, den Grenzfluss zwischen Normandie und Bretagne, der hier ins Meer mündet. Fortan strömte der Fluss, der zuvor häufig sein Bett verlagert hatte, geradewegs nach Süden. Allerdings hatte er dabei kaum noch Kraft, Tonnen von Sedimenten aus der Bucht hinauszuspülen.

Die Bucht verlandete zunehmend. Als 1869 noch der Straßendamm errichtet wurde, der Berg und Festland miteinander verbindet, und knapp 100 Jahre später eine Staumauer in den Fluss gesetzt wurde, um die flussaufwärts gelegene Stadt Pontorson vor Hochwasser zu schützen, waren die Kräfte der Natur vollends aus dem Gleichgewicht geraten: Das Wasser der Flut konnte nicht zirkulieren, stattdessen wurden Sedimente in die 40 000 Hektar große Bucht, aber nicht wieder hinausgespült.

Wissenschaftler vermuten, dass sich die Insel binnen weniger Jahrzehnte vollends in Festland verwandeln würde. Deshalb haben die beiden betroffenen Regionen Normandie und Bretagne – ganz knapp liegt der Mont Saint-Michel zum Leidwesen der Bretonen vor der Grenze zur Bretagne – und die beiden anliegenden Departements ein gewaltiges Renaturierungsprojekt auf den Weg gebracht. Die Unesco, die den Mont Saint-Michel zum Weltkulturerbe zählt, mahnte unlängst, dass der Inselstatus ein wesentliches Charakteristikum des Glaubensbergs sei – der nicht zuletzt wegen seiner schwierigen Erreichbarkeit ein spiritueller Ort gewesen sei. Bis ins 19. Jahrhundert war der Berg nur bei Ebbe zugänglich.

1995 bereits fiel die Entscheidung für das Renaturierungsprojekt. 164 Millionen Euro soll die Rettung dieses Giganten kosten. Die Hälfte zahlt der französische Staat, die andere Hälfte teilen sich die Regionen Untere Normandie und Bretagne, die Departements La Manche und Ille-Et-Villaine sowie die EU und zwei Wasseragenturen. 2009 wurde eine computergesteuerte Brückenschleuse mit acht beweglichen Toren über die Mündung des Flusses gesetzt. Sie lässt den Rückfluss des Wassers ins Meer zu, indem sie normale Gezeiten imitiert und so der Verlandung entgegenwirkt. Die Resultate seien bereits erkennbar, sagt Mathilde Charon, die für das „Syndicat Mixte Baie du Mont Saint-Michel“ arbeitet, zu dem sich die beteiligten Parteien zusammengeschlossen haben: „Das Flussbett hat sich verbreitert, und die Salzmarschen sind zurückgewichen.“

„Wir beten in der Mitte des Tourismus“

Strenge Gotik. Selbst mitten im Tourismuswirbel bewahrt die ehemalige Benediktinerabtei auf dem Berg ihre Würde.
Strenge Gotik. Selbst mitten im Tourismuswirbel bewahrt die ehemalige Benediktinerabtei auf dem Berg ihre Würde.

© Stafanie Bisping

Derzeit wird das Flussbett von Sedimenten und Pflanzen befreit, um dem Lauf des Couesnon mehr Tiefe und Breite zu geben. Neben dem Lärmen der Bagger ist aber die veränderte Parksituation das auffälligste Zeugnis des Langzeitprojekts. Seit April dieses Jahres sind die 4100 Parkplätze am Fuß des Bergs Geschichte. Sie wurden aufs Festland verlegt. Von dort bringen – auch von Pferden gezogene – Shuttle jene Besucher zum Berg, die nicht über die Dammstraße laufen mögen.

Im September 2011 wurden die Pfeiler für die neue, knapp 800 Meter lange Brücke eingelassen, über die die Besucher von 2014 an den Mont Saint-Michel erreichen sollen. Der bestehende Damm wird dafür um die Hälfte verkürzt und misst künftig nurmehr einen Kilometer; von seinem Ende wird sich künftig die Brücke in anmutigem Bogen über hoffentlich tosende Fluten spannen. Doch wird es wohl gute zehn Jahre dauern, bis die Wasserzirkulation sich so weit entwickelt hat, dass die Flussmündung als solche zu erkennen sein und der Berg bei Flut wieder im Wasser liegen wird.

Mehr Parkplätze gibt es nicht. „Der Berg befindet sich jetzt schon am Rand seines Fassungsvermögens“, erklärt Mathilde Charon. In der Hochsaison im Juli und August muss gelegentlich die Polizei einschreiten, wenn sich der Besucherstrom in den drei Hauptgassen unauflösbar staut. Wie in den Hoch-Zeiten der Pilgerbewegung blüht auch der Handel mit den Souvenirs. Einzig die Motive der Besucher – 300 000 sind es pro Jahr – sind heute meist andere.

Asiatische Flitterwöchner haben Brautkleid und schwarzen Anzug im Gepäck, um vor der Kulisse des Bergs ihre Hochzeitsfotos nachzustellen. Die übrigen sind hier, weil die anderen auch alle kommen. Und weil die ehemalige Benediktinerabtei auf dem Berg es in ihrer strengen, grauen Gotik – die Farben verschwanden mit den bunten Glasfenstern während der Französischen Revolution, als aus der Kirche Gefängniszellen gemacht wurden – fertigbringt, auch unter dem Ansturm der Besucher ihre Würde zu bewahren.

Genau wie der grandiose Berg selbst. 44 Menschen sind in der Gemeinde Mont Saint-Michel gemeldet, darunter fünf Mönche und sieben Nonnen. „Wir beten in der Mitte des Tourismus“, sagt eine junge Nonne, die über die schmalen Treppen des Berges eilt, die von den Besuchern kaum genutzt werden. Seit drei Jahren ist sie Mitglied der Fraternité Monastique de Jerusalem, seit eineinhalb Jahren lebt sie auf dem Mont Saint-Michel. Der Trubel stört sie nicht: „Wir leben nicht zurückgezogen von den Menschen und vom Alltag, sondern mittendrin“, erklärt die Schwester, die aber nicht mit Namen genannt werden möchte. Sie lächelt vergnügt und entschwebt, als würde sie den unbarmherzigen Nieselregen nicht spüren.

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