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Souvenirs für jeden Geschmack – aber in Danzig müssen sie natürlich aus Bernstein sein. Die Grenzen zwischen Schmuckstück und Kitsch sind fließend. Foto: dpa

© dpa-tmn

Reise: Gold im Kescher

Die Wellen der Ostsee tragen Bernstein heran. Männer bei Danzig werfen ihre Netze aus – für große Brocken.

Sturm fegt über die Ostsee. Der Sandstrand bei Danzig ist menschenleer. Doch Zbigniew Strzelczyk, ein hochgewachsener Mann, steht breitbeinig in hüfthohen Gummistiefeln in der Brandung. In den Händen hält er einen langen Stab, an dessen Ende ein grobmaschiges Netz befestigt ist. Er fischt nach Bernstein.

Das „Gold des Nordens“ liegt viele Meter tief im Meeresboden. Bei Sturm jedoch waschen die Wellen die bernsteinhaltigen Schichten aus, treiben kleine und manchmal auch große Brocken bis ans Ufer. Bei gutem Wetter suchen Kinder täglich nach goldgelben, rötlich-orangefarbenen und dunkelbraunen Bernsteinstücken im Sand. Große Klumpen sind allerdings zu schwer, um direkt auf den Strand gespült zu werden. Daher versuchen Männer wie Strzelczyk, sie mit ihren Keschern den Wogen zu entreißen.

Der Bernsteinschnitzer wirkt unzufrieden. „Kein richtiger Bernstein-Wind!“, brüllt er gegen die Brandung an. „Von dort drüben müsste er kommen!“ Er deutet mit seinem Kescher Richtung Nord- Osten, wo die ergiebigsten Ablagerungen im Boden liegen. Schwimmen dunkle, verwitterte Holzstücke in den Wellen, sogenanntes Sprockholz, dann sind auch die funkelnden Mineraloide meist nicht weit, weiß er. Vor ein paar Jahren hat ihm eine Sturmwelle einen Brocken, groß wie ein Kohlkopf, ins Netz gespült.

Doch Strzelczyk sichtet kein Sprockholz. Vergeblich wartet er, dass der Wind sich dreht. Schließlich macht er auf dem Absatz kehrt und watet ans Ufer. Er hatte auf einen Großfang gehofft. Aber was soll’s. „Hat auch Vorteile“, sagt er und grinst. So bleibe wenigstens noch Zeit zum Frühstücken vor der Arbeit.

Seit fast vier Jahrzehnten arbeitet der freundliche Mann mit den silbergrauen Haaren ausschließlich in Bernstein. Wie kaum ein anderer kennt er die Besonderheiten dieses ebenso edlen wie tückischen Materials. „Jedes Stück ist anders“, sagt er: Manche Brocken haben die Struktur einer Zwiebel. In anderen entdeckt man eingeschlossene Insekten oder gar Eidechsen aus der Vorzeit, und die sind ein Vermögen wert. „Und wieder andere zerbrechen dir plötzlich zwischen den Fingern.“

Bernstein ist das Harz von Nadelbäumen aus dem Tertiär, das sich im Lauf von Jahrmillionen verhärtet hat. Sein Ursprung war unblutig, die Geschichte der Passion der Menschheit für dieses Material hingegen häufig von Leid und Trauer geprägt: Der Deutsche Orden etwa, der die Danziger Bucht im frühen Mittelalter beherrschte, zwang seine Untertanen, für die ordenseigene Schatzkammer Bernstein zu sammeln. Wer sich widersetzte, wurde am Strand gehängt. Das Bernsteinmuseum im ehemaligen Gefängnisturm in der historischen Altstadt von Danzig steht am „Königsweg“, einer Straße mit Kopfsteinpflaster, über die einst die Herrscher mit ihren Kutschen in die Stadt einfuhren. Schwerpunkt der Dauerausstellung ist das 15. bis 17. Jahrhundert, die „goldene Zeit“ der Danziger Bernsteinkunst, als Päpste, Könige, Zaren und Sultane aus aller Welt nach diesem Material lechzten.

Vom Wiederaufleben der Bernstein-Manie in jüngster Zeit profitieren auch Künstler wie Zbigniew Strzelczyk. Der Bernsteinschnitzer hat sein Frühstück beendet. Bedächtig schließt er das Tor zu seinem Lädchen auf, in einem schmalen, weiß getünchten Haus, direkt neben dem mittelalterlichen Krantor, dem Wahrzeichen von Danzig. Mit Hilfe der Drehwinden dieses Stadttors montierten Werftarbeiter einst Schiffsmasten. Kein Wunder, dass Strzelczyk neben Schmuck und Schachfiguren auch kleine Segelschiffe schnitzt.

In seiner Werkstatt, im Hinterzimmer, bringt er mit dem Bunsenbrenner eine Nadel zum Glühen, und drückt sie vorsichtig in ein Stück Bernstein. Feiner Rauch steigt auf – und ein zauberhafter Duft erfüllt das Atelier: wie bei der Heiligen Messe in der katholischen Kirche. „Der sicherste Beweis, dass Bernstein echt ist“, erklärt der Künstler. Mit Schmirgelpapier beginnt er, an dem Brocken zu schleifen, und poliert immer wieder mit einem Lappen nach, den er in eine Mixtur aus Öl und Bienenwachs getaucht hat.

„Der Name ,Bernstein‘ hat mit Hitze zu tun“, erklärt er später. Er hält die Flamme seines Bunsenbrenners an einen kleinen Brocken – und sofort fängt dieser Feuer. „Bernen“, erklärt er, sei ein niederdeutsches Wort für brennen. Und in manchen Gegenden an der Ostsee sei Bernstein noch vor wenigen Jahrzehnten zum Heizen verwendet worden.

Auf die Heilkräfte dieses Mineraloids wiederum, schwören viele Danziger bis heute: Auch auf Strzelczyks Arbeitstisch steht ein Fläschchen mit „Bernsteinwasser“. Die Rezeptur ist einfach: kleine Brocken sechs Wochen in einem halben Liter Spiritus einlegen. Danach riecht die Flüssigkeit nach Weihrauch – und soll Wunder wirken. „Bei Husten einfach ein paar Tropfen auf der Brust verreiben“, empfiehlt der Künstler, „bei Halsschmerzen einige Tropfen in Schwarztee auflösen.“ Und als seine Frau unter chronischen Kniebeschwerden litt, legte Strzelczyk ihr Bernsteinwasser-Kompressen um. Seither seien die Schmerzen wie weggeblasen.

Bei einer derart magischen Substanz wollte auch die Kirche nicht abseits stehen: Ausgerechnet in der Brigittenkirche mit ihrem schlichten, gotischen Netzgewölbe entsteht ein gewaltiger Altar aus mehr als sechs Tonnen Bernstein. Das Gotteshaus unweit der Danziger Werft ist nicht nur für Katholiken eine Kultstätte: In den 1980er Jahren versammelten sich die Mitglieder der verbotenen Gewerkschaft Solidarnosc (Solidarität) hier zum Beten, aber auch um Flugblätter mit ihren politischen Forderungen zu drucken. Noch heute wehen vor dem Eingang Fahnen mit dem weißroten Solidarnosc-Schriftzug. Einige Dutzend Gläubige feiern in der Kirche soeben Gottesdienst, und mindestens ebenso viele Bernstein-Liebhaber hindert das nicht, das opulente Kunstwerk mit der Mutter Gottes im Zentrum zu bewundern.

Profaner sind die Kunstobjekte, die das Designer-Paar Danuta und Mariusz Gliwinski aus Bernstein, Stahl, Silber, Weinkorken und Diamanten erschaffen. In Sopot, einem Badeort, 15 Kilometer nördlich von Danzig, „Die Menschen sollen Bernstein in neuem Licht sehen“, sagt Danuta Gliwinska, eine schlanke Frau mit Wuschelkopf und dunklen, ausdrucksvollen Augen. In einem Schaukasten ist ein Fingerring zu sehen, von dem lange, schmale Kuben aus Bernstein emporragen. Sie erinnern an die Skyline von New York. Einige der Bernsteinwolkenkratzer haben die Künstler abgebrochen. Sie wirken, als seien sie eingestürzt oder niedergebrannt. Das Objekt stammt aus dem Jahr 2000. Ein Werk mit prophetischer Kraft also?

Dann weist Danuta auf ihr Lieblingsobjekt: An einem glitzernden Bernstein prangt eine Stahlplatte mit aufgeprägtem Strichcode, wie er auf Waren in Supermärkten zu finden ist. „Alles ist käuflich“, lautet der Titel dieser Arbeit. Ein Umstand, den die Gliwinskis unlängst in Danzig drüben mal wieder auf eindrucksvolle Weise beobachten konnten: Am Stadtrand wurde für die bevorstehende Fußball-Europameisterschaft eine Arena errichtet, die 44 000 Zuschauern Platz bietet. Ihre Polycarbonat-Hülle ist in unterschiedlichen Gelbtönen gesprenkelt, was aus der Ferne an das Schillern von Bernstein erinnert. Sinnigerweise sollte die Arena den Namen „Burnsztyn-Stadion“ tragen – „Bernstein-Stadion“, doch dann wurde wurde sie „PGE Arena“ getauft. Ein polnischer Energiekonzern hatte acht Millionen Euro dafür bezahlt.

Dennoch werden Fans des „Goldes des Nordens“ bei der EM auf ihre Kosten kommen. Auch weil rund um die Arena weitere Gebäude mit ähnlicher Fassadengestaltung entstehen: Hotels, Restaurants und Bars. Aus der Luft betrachtet wird der Stadtteil bald aussehen, als habe ein Riese Bernstein ausgestreut.

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