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© Laif

Griechenland: Skyros: Dichterworte im Sand

Auch die Insel Skyros lebt vom Tourismus. Doch mancher Grieche hier sehnt sich zurück nach dem kargen Leben.

Der Laden von Herrn Georgoudis ist schon einige Jahre alt. Er kann sich jedoch noch immer nicht entscheiden, ob er ein Museum oder ein Souvenirgeschäft werden möchte. Oder ob er vielleicht doch nur so ein griechischer Gemischtwarenladen bleibt, in dem es alles gibt, was man zum Leben braucht: Heiligenbilder, Seife, Zangen, Mörser, Patronengürtel, Seile, Steigbügel, Glocken, Teller, Messer, Eimer, Glühbirnen, Zwirn, Gummibänder, Taucherbrillen, Korbflaschen, Angelhaken oder Petroleumlampen – für den nicht seltenen Fall, dass der Sturm die Insel Skyros in Stromlosigkeit und Finsternis taucht.

Der Laden von Herrn Georgoudis liegt da, wo auch alle anderen Läden liegen: an einer steilen Gasse, die sich zwischen grellweißen Häusern den Berg hinaufwindet, auf dessen Gipfel schon seit Jahrhunderten eine venezianische Festung und seit nicht ganz so langer Zeit auch Agios Georgios versuchen, dem Himmel möglichst nah zu sein. Zu den Nachbarn des Herrn Georgoudis gehören also der Fischladen, der Bäcker, der Fleischer, der Schreibwarenladen, die neuen Boutiquen, der alte Ikonenmaler sowie der Apotheker – für den nicht seltenen Fall, dass die Ikonen nicht helfen.

Die steile Gasse ist so etwas wie die Hauptstraße der Hauptstadt. Diese heißt Skyros, so wie die Insel selbst, und ist wahrlich ein Dorf. Das einzige eigentlich, denn alle anderen Ortschaften sind eher zufällige Anhäufungen verstreut liegender Häuser, deren Namen niemand außer den Skyrern auf eine Landkarte schreiben würde. In der Hauptstadt aber drängen sich die Häuser und ihre Bewohner noch so dicht aneinander, als hätte gerade eine Armada türkischer Kriegsschiffe Kurs auf die Insel genommen. Flachdach um Flachdach klimmen die Häuser den Berg empor, eingepackt in dicke Mäntel aus weißem Kalk, mit winzigen Gemüsegärten zwischen den dicht zusammenstehenden Mauern alter Eselspfade. Hier also liegt der Laden von Herrn Georgoudis. Früher ist Herr Georgoudis zur See gefahren, so wie die meisten Männer der Insel, auf deren Bergen sich nur mühsam einige Olivenbäume hielten und in deren Buchten nur wenige Fischschwärme blieben. Eine Handvoll Kaffeehauswirte versuchte, den Bauern, Hirten und Fischern das Leben mit Wein und Kartenspiel zu erleichtern, doch eine zweiköpfige Polizeistation warf stets ein wachsames Auge auf das anarchische Leben in der Abgeschiedenheit. Deshalb fuhren die Männer so gern aufs Meer. Hamburg, Rotterdam, Schanghai. Herr Georgoudis kann erzählen, von Rio und dem Karneval. Er erzählt gern von seinen Reisen. Doch den neuen Reisenden, die jetzt immer öfter die steile Gasse heraufkommen, sieht er skeptisch entgegen.

„Sie werden jedes Jahr mehr“, und sie haben schon ganz andere Inseln zerstört, viel größere als Skyros. Deshalb hat Herr Georgoudis ein ungutes Gefühl, wenn er jetzt Souvenirs zwischen den Socken und den Zangen im Regal hat. Er hat sich ein Leben lang über diese kleine Erdscholle gebückt und geschwitzt, sich schwielige Hände erarbeitet, nie etwas getan, was er für falsch hielt. Deshalb ärgert es ihn, wenn die Touristen für das handgeschnitzte Schiff keine acht Euro bezahlen wollen. „So eine Arbeit würde doch von den Deutschen keiner mehr machen! Ich weiß nicht, welche Kinder sich da in irgendeinem finsteren Winkel der Welt die Finger blutig schnitzen.“ Und dann fügt er hinzu: „Eigentlich dürfte ich die gar nicht verkaufen!“

Doch inzwischen leben fast alle auf der Insel von den Touristen. Auch der Laden von Herrn Georgoudis kommt ohne sie nicht aus, auch wenn er sich beharrlich weigert, ein Souvenirladen zu werden. Früher war es ein Kafenion, dann eine Schuhmacherwerkstatt, und in den zwanziger Jahren „eine Art Supermarkt“, in dem es alles gab, was die Retsinasammler brauchten, die vom Festland kamen, um das Harz aus den Nadelwäldern zu zapfen. Sie blieben den ganzen Sommer, und beim Großvater kauften sie ein: Streichhölzer, Nudeln, Eier, Werkzeug und Petroleum für die Lampen. Zahlen konnten sie erst im September, wenn die Weinhändler das Harz brauchten.

Jetzt aber kommen die Männer nicht mehr in dicken Stiefeln, sondern in Badelatschen herein. Und die Frauen in winzigen Bikinis, als wäre Georgoudis nicht immer noch ein Mann. Herr Georgoudis seufzt. „Uns hier hat die Armut geprägt, die Bescheidenheit. Mein Großvater hatte Geschirr im Keller, das verlieh er zu Hochzeiten. Aber er nahm keine Leihgebühr, er begnügte sich mit dem Bruch.“ Bei einer ordentlichen Hochzeit gingen mindestens 50 Teller zu Bruch.

Georgoudis erzählt gern von seiner Heimat, so wie alle Seemänner. Er vermisst das karge Leben. Ärgert sich über die Kinder auf dem Schulhof, die mit großen Croissants herumlaufen und die Hälfte wegwerfen. Croissants gab es für ihn „nur im Hafen von Marseille“. Er war froh, wenn er in der Pause eine Feige in der Tasche hatte. „Jetzt verfetten wir. Sogar unsere kleinen Pferde verfetten“, sagt Georgoudis und zieht Fotografien aus der großen Lade, einer randvollen Grabstätte der Vergangenheit. Es sind matte, schwarzweiße Blätter, Fotografien von mit Zitronen schwer beladenen Eseln, von Frauen vor dem Spinnrad, Männern im Kafenion beim Kartenspiel – und von den kleinen „Wildpferden“ von Skyros. Den ganzen Winter über trieben sie sich im Süden der Insel herum. Im Mai legte man sie wieder an die Leine, um das bisschen Land zu beackern, das sich zwischen den Steinen zeigt. Noch immer laufen einige von ihnen frei herum, „aber sie sind fett geworden“, weil die Wissenschaftler damit begannen, sie zu füttern, um sie vor dem Aussterben zu retten.

Ohne Touristen hat anscheinend auch Skyros keine Zukunft. Obwohl sich der Fortschritt Zeit gelassen hat: Irgendwann wird er die Insel einholen. Früher gab es am Hafen ein Kafenion, heute braten drei kleine Restaurants am Ankerplatz Fisch, und nur ein einziges Café hängt in den Felsen über der Bucht und blickt aufs Meer. Irgendwann aber werden die verstreuten Häuschen am Hafen doch noch zu einem Dorf zusammenwachsen, irgendwann werden sich auch hier die Souvlakispieße am elektrischen Grill drehen.

Obwohl der Strom schon vor 50 Jahren auf die Insel kam. Mit ihm stiegen allmählich auch die ersten Sommerfrischler von der Fähre, die bis dahin nur heimkehrende Seemänner brachte. Einer der ersten Touristen war Giorgos Seferis. Herr Georgoudis zieht vor Ehrerbietung die Augenbrauen hoch. Der Dichter und Essayist suchte, auf der Flucht vor der Hitze Athens, Kühlung auf der Insel. Skyros ist eine ruhige Insel, sie braucht keine Sensationen, keine leuchtenden Sandstreifen und keine antiken Tempel. Ihre Schönheit liegt in der Bescheidenheit, in der verlassenen, unter dem Licht des griechischen Himmels leuchtenden Steinwüste des Südens, in der nichts existiert als Wind und Weite und gelassen über die Felsen ziehende Ziegenherden, angeführt von langbärtigen Böcken mit gewaltigen Hörnern.

„Seferis liebte diese Insel“, sagt Georgoudis. Er liebte die schmalen Sandstreifen und die kleinen Kiesstrände mit ihrem klaren Wasser. Am Horizont die völlig nackten Inseln Skyropoula und Sarakino, und die noch kleineren, noch namenloseren, auf die im September die Hirten ihre Ziegen und Schafe verschiffen. Weil im September der Regen kommt und weil dann aus der dünnen, sonnenverbrannten und steinharten Erde in den schmalen Fugen zwischen dem Gestein Gräser und Kräuter sprießen, bis im Winter ein grüner Schimmer die Inseln überzieht.

Der zarte Flaum verwandelt die Ziegenlämmer von Skyros in eine Delikatesse. Aus ihnen werden zu Ostern jene zarten, nach Kräutern und süßer Milch duftenden Ziegenbraten. Gedichte sind die syrischen Gerichte, von denen auch Seferis schwärmte. „Lukumi“, soll er geflüstert haben, als er das erste Mal auf Skyros zu Tisch saß, „wie türkischer Honig“.

Der berühmteste Gast der Insel hat seinen Einwohnern einige Anekdoten hinterlassen, von denen niemand mehr weiß, ob sie wahr sind oder nicht. Doch ist da noch das Gedicht vom versteckten Strand, „Sto perijali to kryfo“, das Theodorakis vertonte. „Das hat Seferis hier geschrieben“. Georgoudis deutet mit der Rechten nach Süden und klopft mit der Linken auf das vom Alter glänzende, verkratzte Zedernholz seiner Ladentheke. Das Gedicht erzählt von einer Erleuchtung an einem Strand, der „so weiß wie eine Taube“, doch dessen Wasser „brackig, salzig“ war. Es malt in knappen Versen eine Welt voller Widersprüche, voller Vergangenheit und Zukunft und endet mit den Worten: „Wir änderten das Leben.“

Die berühmten Verse stammen aus dem ersten Gedichtband des griechischen Nobelpreisträgers, der den Titel „Wende“ trug und merkwürdigerweise bereits 1931 erschien. Demnach müsste Seferis lange vor den Sommerfrischlern schon einmal hier gewesen sein, um, von allen unbemerkt, das berühmte Gedicht in den Sand von Skyros zu schreiben. Ein Gedicht jedoch, das so viel vom Leben des Herrn Georgoudis von Skyros erzählt, dass es eigentlich nur an diesem Ort entstanden sein kann. Auch wenn das jetzt niemand mehr bezeugen kann.

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