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Hamburg

© Cornelius Kalk

Hamburger Milieu: Zwei Stunden Sünde

Zwischen Bars, Bordellen und Transvestitenschuppen: Die "Historische Hurentour" führt in Hamburgs lasterhafte Ecken.

Vor dem Eingang zur Herbertstraße liegt ein angeheiterter Herr im Anzug auf dem Rücken und wühlt in einem dicken Bündel Geldscheine. Die Prostituierten an den Toren beobachten das Schauspiel interessiert. „Für mehr Fremdenverkehr“ wirbt eine Zigarettenmarke auf den Sichtblenden, welche die Straße mit den Mädchen hinter Schaufenstern abschirmen. „Fremd sind wir“, scherzt ein älterer Herr mit österreichischem Akzent. Die Mädchen schütteln lächelnd den Kopf. Frauen müssen schon seit 25 Jahren draußen bleiben, heute auch der Tiroler. Ein Aufkleber am Revers hat ihn als Teilnehmer der „Historischen Hurentour“ enttarnt. „Kannst ja wiederkommen,“ ruft ihm eine Prostituierte hinterher, aber da hat ihn seine Gattin schon mit festem Griff weitergezogen.

Die Herbertstraße ist auf der Tour tabu, „die Mädchen sind keine Schau objekte“, erklärt Führerin Manuela. Sie ist Schauspielerin und schlüpft für die kommenden zwei Stunden in die Rolle der Violetta. „Ein typischer Arbeitsname für Huren“, sagt sie. Sie trägt ein fahlgelbes Kostüm und eine merkwürdige rote Mütze mit Ohrenklappen. „Die Hurenhaube“ gehörte im 18. Jahrhundert zur Pflichtkleidung der Hamburger „leichten Mädchen“.

Der Himmel über St. Pauli erstrahlt rosarot wie die Objekte in den Auslagen der Sexshops. Pünktlich um 20 Uhr beziehen die Mädchen Position auf dem Straßenstrich. Bis morgens um fünf läuft nun auf insgesamt 800 Metern Rotlicht-Sperr bezirk in David-, Erich- oder Friedrichstraße die Akquise im allnächtlichen Liebeshandel.

Für Außenstehende eine faszinierende Welt, wusste die Niederländerin Gerritje Deterding und erfand vor vier Jahren die „Historische Hurentour“. Ausgestattet mit der Toleranz des Nachbarlandes und Insiderwissen aus ihrer Zeit als Geschäftsführerin in Willi Bartels „IG St. Pauli“, entwickelte sie den geschlechtlich-geschichtlichen Kiezspaziergang. Heute ist die Hurentour einer der meist verkauften Rundgänge Deutschlands. Ausgebildete Guides plaudern freizügig von Praktiken und Prozeduren, zeigen Seitenstraßen und Orte des Geschehens – nachgebaute Bordellzimmer mit allem Drum und Dran.

Über dem SM-Laden „Café de Sade“ gießt eine Rentnerin die Blumen, eine Afrikanerin schiebt ihren Kinderwagen vorbei. Es scheint ruhiger geworden, seit die Bandenkriege der 70er und 80er abgeflaut sind. Studenten wohnen hier und Familien, ganz normale Leute. Eine beschauliche Reihenhausgegend ist der Kiez dennoch nicht – schon wieder ertönt das Martinshorn der „Peterwagen“, die Beamten der Davidwache fahren ihren nächsten Einsatz, sicher nicht den letzten in dieser Freitagnacht.

Der Kiez erwacht. Auf dem Hans-Albers-Platz füllen sich die Kneipenbänke, in der „99 Cent Bar“ investieren die ersten Jugendlichen ihr Kleingeld. Violetta führt ihre Gruppe zur Reeperbahn. „Eroscenter“ leuchtet an einem grauen Haus. Hier gehen Männer auf mehreren Etagen von Zimmertür zu Zimmertür, je höher sie kommen, desto exotischer werden die Mädchen. Alle legal im Gewerbe, sagt Violetta. „Keiner will hier Ärger mit den Behörden.“ Die Prostitution hat beinahe bürgerliche Züge bekommen, seit sie offiziell als Beruf gilt. Die Mädchen sind bei der Handelskammer gemeldet, dürfen Küchenrollen von der Steuer absetzen, manches Bordell bietet Festanstellungen. Die Prostituierten in der Herbertstraße freuen sich über jedes neue Bürohaus in der Umgebung – die Mittagszeit bringt die meisten Kunden, die Freier zahlen mit Kreditkarte. „Ein Geschäft wie viele andere“, meint Violetta.

Auf der legendären „Großen Freiheit“ beginnt unter dröhnendem Durcheinander von Musik der Kampf um die Kunden. Von draußen gut sichtbar macht sich auf dem Tresen im Stripclub „Dollhouse“ eine spärlich bekleidete Tänzerin warm. Aufreizend streckt sie ihren Po heraus, Animation gehört zum Geschäft. Der Türsteher vor einem der Table-Dance-Schuppen kurbelt seinen hanseatischen Charme an: „Kannst hier ein Praktikum machen“, ruft er der blonden Düsseldorferin zu. Sie schüttelt den Kopf – und sieht doch leicht geschmeichelt aus.

Die St.-Joseph-Kirche ist das einzige Gebäude, welches nicht blinkt und schallt. Vor der dunklen katholischen Kulisse berichtet Violetta, warum die Huren im Mittelalter als Ehetesterinnen unverzichtbar waren und wie Hamburg unter Bismarck das besondere Licht erfand. Geschichten aus 350 Jahren Rotlicht bezirk, dem ältesten Europas. Früher holten sich die hübschesten Deerns die Seemänner direkt von Bord in ihre Etablissements, heute fordern die Kapitäne „Schwestern“ und „Cousinen“ per Fax in den Hafen an. Die Zeiten ändern sich, die Nachfrage bleibt.

Die europäische Geschichte kämpft gerade schwer gegen die asiatische Moderne – gegenüber der Kirche hat sich in der Karaokebar „Thai-Oase“ ein kraftvoller Sänger gefunden. Die Hurentour zieht weiter durch die dunkle Straße. Eine groß gewachsene Erscheinung unbestimmten Geschlechts schmiegt sich an ein Geländer. „Eine Transe“, flüstert eine Dame ihrem Begleiter zu. Violetta bestätigt: „Wir sind im Transvestitenviertel.“ Man kennt sich hier. Die „Dockschwalben“ grüßen ihre historischen Vorgängerinnen freundlich.

Oft, so hat man bei der Hurentour erkannt, wirke der Spaziergang auf Herren und Geschäft recht anregend. Heute nicht. Überhaupt, keiner der Männer war je bei einer Prostituierten. Sagen sie. „Wie immer“, sagt Violetta schmunzelnd. „Der eigene ist nie dabei.“

Am ältesten Tresen St. Paulis, im „Kruse“, endet die Tour bei einem typisch Hamburger Sauren. Die runde Kati hinterm Tresen schnackt munter drauf los und öffnet die ersten Buddeln Astra. Die Jukebox legt los mit „Sieben Sünden“ von DJ Ötzi. Die Teilnehmer der Hurentour sitzen lässig da. Der Kiez ist nicht mehr fremd für sie.

Claudia Decker

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