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Mittelalterliches Bollwerk. Die Broeltürme von Kortrijk entstanden gegen Ende des 14. Jahrhunderts.

© Gerald Penzl

Hausboot-Tour: Ohne Kohle geht es auch

Eine Hausboot-Tour von Frankreich nach Belgien zeigt den verblüffenden Wandel der Grenzregion.

Der Schleusenwärter in Quesnoy sur Deûle begrüßt uns freundlich: „Bienvenue en France.“ Gemütlich schlurft er dann um unser Schiff, schaut, guckt, lacht – und wird dann amtlich. „Wo ist denn Ihre Vignette Plaisance“, erkundigt er sich. „Vignette Plaisance? Was ist das?“ Wir haben unser Charterboot gestern erst in Kortrijk übernommen. Und dachten, alles sei okay. Doch, das Schiff ist brandneu, war nie in Frankreich und hat daher auch keine französische Kanal-Maut-Plakette. Also verschwindet der Herr über den kleinen Schiffslift sechs Kilometer hinter der belgischen Grenze im Schleusenwärterhäuschen. Wenige Minuten später kommt er mit der Plakette, knöpft uns 105 Euro ab und pflastert sie uns an die Windschutzscheibe. Dann wünscht er uns freundlich Bon Voyage, Gute Fahrt.

D’accord – oder auch nicht. Immerhin könnten wir jetzt einen Monat höchst amtlich durch Frankreich schippern und gut 2000 Schleusen gratis benutzen. Bevor unsere Stimmung am Gefrierpunkt ist, spendiert uns Neptun ein paar Schraubendrehungen weiter ein hübsches Nachtquartier. Das Schöner-Ankern-Präsent liegt in dem adretten 7000-Seelen-Örtchen Wambrechies gleich neben Schloss Robertsart. „Wenn ihr Essen gehen wollt“, empfiehlt uns der Hafenmeister, „dann probiert die Crêperie La Galettery.“

Wir folgen seinem Rat und lassen uns bald ein paar bretonische Pfannkuchen schmecken. Am nächsten Morgen steht die historische Jenever-Distillerie Claeyssens auf dem Programm. Monsieur Messiant, der Geschäftsführer der Brennerei, führt uns persönlich durch die musealen Hallen. „Jenever, also Wacholderschnaps“, erklärt er, „stand bei den Bergleuten und den Textilarbeitern hier im Norden hoch im Kurs. Getrunken wird er immer noch gerne. Aber wir sind eine kleine Destille und haben gegen die Massenprodukte einen schweren Stand.“

300 Jahre florierte der Abbau des Schwarzen Goldes

Dass ohne Werbung (fast) nichts geht, wissen auch die Touristiker der Region Nord-Pas-de-Calais. Absolut begeistert dürften sie über den Film „Willkommen bei den Sch'tis“ gewesen sein. Die schräge Komödie über die tumben Kohleminen-Malocher und Schluckspechte der Region hat nicht nur die Kinokassen gefüllt, sondern auch den wirtschaftlich nicht eben florierenden Nordosten Frankreichs beflügelt. Natürlich macht ein Filmchen noch keinen Sommer. Aber immerhin durfte sich die 225 000-Einwohnermetropole Lille 2004 Kulturhauptstadt Europas nennen. Acht Jahre später erhob die Unesco das Bergbaurevier der Region zum Weltkulturerbe.

300 Jahre florierte der Abbau des Schwarzen Goldes. In den 1950ern wurde mehr als die Hälfte des französischen Steinkohlebedarfs gefördert, 20 Jahre später wendete sich das Blatt: Die Zechen schlossen, und die Kumpel waren brot- und arbeitslos.

Ungekrönte Königin der Kohlestaub-Boomtowns war Lens. Rund 15 Kilometer östlich von der einstigen Hochburg des fossilen Energielieferanten liegt der Sportboothafen Courcelles-les-Lens. Wir legen an, nehmen uns ein Taxi in den Ort. 15 Fußminuten vom Art-déco-Bahnhof ducken sich fünf unspektakuläre Flachbauten in die parkähnliche Landschaft, wandeln sich beim Näherkommen in einen weitläufig-lichten Museumskomplex, in dem Kunst auf höchstem Weltniveau zu bestaunen ist.

Es gibt viel, sehr viel zu sehen …

Schnurgerade kann auch schön sein.
Schnurgerade kann auch schön sein.

© Gerald Penzl

Der Louvre hat in dem kleinen, vom Strukturwandel gebeutelten Provinznest Lens eine Dependance eröffnet. Unumstrittenes Aushängeschild des Louvre-Lens ist Eugène Delacroix’s Revolutionsgemälde „La Liberté“. Frei auf einem weißen Polyeder montiert, von sanftem Licht umschmeichelt, wirkt Frankreichs Nationalikone wie ein göttliches Wesen, das die Menschen in Nord-Pas-de-Calais in eine neue, eine bessere Zeit führt. „Die Kohle ist Vergangenheit“, sagt Bruno Cappelle, Pressesprecher des Museums, „die Zukunft der Region liegt in der Kunst.“

Ob die Sch’tis, die Unesco oder das Musée du Louvre-Lens: Am liebsten würden wir unseren Chartervertrag um (mindestens!) eine Woche verlängern. Es gibt viel, ja, sehr viel zu sehen … der imposante Rathauspalast mit dem gewaltigen Glockenturm in Douai, die Ausstellungen im Centre Historique Miner als perfekte Rolle rückwärts ins harte Dasein des Bergarbeiterlebens und natürlich das architektonische Baedecker-Sternchen Arras.

Acht Lilliputschleusen entlang der idyllischen Scarpe trennen das flämisch gestylte Barockjuwel von den mechanischen Hebebrücken-Oldies in Douai. Ein paar Kilometer südlich erinnert das Carrière Wellington Museum an die wohl dunkelsten Zeiten in Nord-Pas- de-Calais. Maulwurfsartig hatte sich die britische Armee im Ersten Weltkrieg vom Zentrum Arras’ aus durch alte Kreidesteinbrüche 20 Kilometer in Richtung der deutschen Front gewühlt. Am 9. April 1917 war es so weit. Punkt 5 Uhr 30 stürmten etwa 24 000 Soldaten direkt vor den feindlichen Linien aus dem Untergrund, überraschten die Deutschen, wurden aber nach kurzen Anfangserfolgen blutig zurückgeschlagen.

Frankreich verabschiedet sich mit dem Dörfchen Mortage du Nord

„Pas de chance, Pech gehabt!“ Der Schleusenwärter in Douai schüttelt den Kopf. „Non, Monsieur, die Écluse Fort de Scarpe ist seit Jahren nicht mehr in Betrieb. Nach Tournai in Belgien kommt man mit dem Schiff nur noch über Valenciennes.“ Der Mann hat recht, leider. Und so trägt uns das Glockenspiel des Belfried von Douai – angeblich das größte in Europa – in weitem Bogen über die Escaut an uncharmanten Industrieanlagen, grünen Fluren und Dörfern vorbei ins Herz der 42 000-Einwohner-Stadt.

Am Quai des Mines liegt eine betagte Nimbus 310. „Wollt ihr anlegen?“, erkundigt sich der schwedische Skipper. Ja, bitte. Schon nimmt er die Vorleine, belegt eine Klampe und lädt uns anschließend zu sich an Bord. „Valenciennes“, sagt er fast schwärmerisch, „ist eine aufgeräumte Stadt. Mit hübschen Parks, Jugendstil und Kunst. Das Tollste jedoch ist die stillgelegte Zeche Arenberg. Ich war gestern dort, bin auf die alten Fördertürme hinaufgekraxelt und hab mir von einem ehemaligen Bergarbeiter alles erklären lassen.“

Hoi België! Hallo Belgien! Frankreich verabschiedet sich mit dem weltverlorenen Dörfchen Mortage du Nord, das Königreich Belgien rollt uns mit dem neogotisch verspielten Zuckerbäckerschlösschen Château d’Antoing den Willkommensteppich aus. Wir tanken unser Charterboot rasch auf und ergattern eine halbe Stunde später einen guten Liegeplatz im Zentrum der einstigen Fürsten- und Bischofsstadt Tournai.

Gemäß unserer Törnplanung ist die 68 000-Einwohnerstadt mit ihrer fünftürmigen (!), von der Unesco zum Weltkulturerbe gekürten Kathedrale das letzte Glanzlicht der Tour. Hier schlendern wir entspannt durch die Altstadt, mühen uns die 257 haarsträubend engen Treppenstufen des Belfried hinauf, bestaunen die Domschatzkammer mit ihrem Marienschrein – und gehen natürlich gut essen. Morgen schippern wir die Escaut – die hier den flämischen Namen Schelde trägt – weiter abwärts, passieren den Kanal Bossuit-Kortrijk und laufen abends in der einstigen Flachs- und heutigen Design-Metropole Kortrijk ein. Und dort hat uns der Hafenmeister dann mit Sicherheit schon einen Liegeplatz nahe den alten Stadttürmen reserviert.

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