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Blick auf die Brücke. 2000 Seeleute werden in diesem Jahr geschult.

© dpa-tmn

Havarie-Training: Abdrehen über Backbord

Im holländischen Almere trainieren Kapitäne den Ernstfall – am Simulator.

Das Meer ist bleigrau, die Wolken hängen tief. In der Ferne ist der Hafen von Amsterdam zu erkennen. Langsam nähert sich das Kreuzfahrtschiff „Costa Due“ der Küste. „Speed is okay.“ meldet der 1. Offizier auf der Brücke des Kreuzfahrtschiffes. „Wind seventeen knots“. Geschwindigkeit in Ordnung, Windstärke 5 – Kapitän Giuseppe Russo nickt zufrieden und macht Häkchen auf seiner Checkliste.

Der Kapitän ist echt, das Schiff gibt es nicht. Russo steht im Schiffssimulator des Maritimen Trainingszentrums (CSMART) in Almere bei Amsterdam. Dort werden Krisensituationen an Bord geübt – vom Manöver „Mann über Bord“ bis hin zum Brand im Maschinenraum.

Nach dem Unglück der „Costa Concordia“ Anfang des Jahres vor der italienischen Insel Giglio mit 32 Toten fragten sich viele, wie es überhaupt zu einem solchen Unfall kommen konnte. Das hilflose Agieren von Francesco Schettino, Kapitän des Havaristen, nahm den Gästen von Kreuzfahrtschiffen das Vertrauen. Muss ein Offizier nicht besser reagieren? Doch, sollte er. „Aber Menschen machen Fehler“, sagt Gabriele Petruzzelli, einer von zehn festen Trainern aus vier Nationen bei CSMART. Und daher werde in Almere auch trainiert, auf der Brücke als Team zu funktionieren – um Fehlentscheidungen Einzelner schnell korrigieren zu können.

Auf der Brücke der „Costa Due“ steht Kapitän Russo hinter seinen Offizieren. Diese beobachten auf einmal besorgt die Anzeigetafeln. „Wir haben Probleme mit dem Seitenruder.“ Das Anlegen im Hafen jedoch ist ohne diese Lenkhilfe nicht möglich. Eine schnelle Entscheidung ist wichtig, Schiffe haben lange Bremswege – und die Kaimauer kommt näher. Russo bespricht sich kurz mit dem 1. und 2. Offizier und gibt dann das Zeichen zum Abdrehen über Backbord. Kurz darauf wendet sich das Schiff langsam wieder dem offenen Meer zu. Rechtzeitig. Der Trainer ist zufrieden. „Gute Zusammenarbeit“, lobt er.

Russo lächelt unsicher, die Situation ist für ihn nicht einfach. Der Kapitän war über Jahrhunderte unangefochten der erste Mann an Bord. „Er war der Vertreter des Schiffseigners – und musste bei den oft monatelangen Überfahrten dessen Interessen vertreten“, erklärt Trainer Petruzzelli. „Auch heute noch hat der Kapitän oft das letzte Wort bei kritischen Manövern.“ Die Crew als Befehlsempfänger – das langweilt. Und Führungserfahrung kann auch keiner sammeln. Was bei Unglücksfällen gefährlich werden kann. Daher ist das Ziel, Schiffscrews in wechselseitiger Verantwortung arbeiten zu lassen – ähnlich wie Flugzeugpiloten.

Die Angst vor dem roten Alarmknopf

Vorbeugen. Im Maritimen Trainingszentrum lernen Schiffsführer, wie man Krisensituationen meistert. Fotos: dpa-tmn/Andreas Warnecke
Vorbeugen. Im Maritimen Trainingszentrum lernen Schiffsführer, wie man Krisensituationen meistert. Fotos: dpa-tmn/Andreas Warnecke

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Die Checkliste von Kapitän Russo ist auch neu. „In einer Gefahrensituation muss jeder Punkt abgearbeitet werden“, sagt Petruzzelli. „Bislang gab der Kapitän aus seiner Erfahrung heraus spontan die Befehle.“ Und da kann in der Hektik schon mal etwas aus dem Blick geraten.

Zudem ist bei Notfällen Geschwindigkeit wichtig: „Wenn ein Feuer im Maschinenraum in Sekunden gelöscht werden kann – was möglich ist –, haben wir nur ein paar tausend Euro Schaden“, sagt der Trainer für den Maschinenraum, Paul Fairbrother. „Aber nach ein paar Minuten können es schon ein paar Millionen sein.“ Dafür trainiere er vor allem die Angst vor dem roten Alarmknopf weg. „Die Menschen haben Hemmungen, da draufzudrücken – manche nähern sich ihm in Zeitlupentempo.“

Bei CSMART werden seit 2009 Kapitäne und Offiziere des weltweit größten Kreuzfahrt-Unternehmens geschult, der britisch-amerikanischen Carnival Corporation & PLC mit Hauptsitz in Miami/Florida. Für den Großkonzern fahren weltweit rund 100 Schiffe von knapp einem Dutzend Reedereien wie Cunard Line, Aida Cruises und Princess Cruises.

Dieses Jahr werden es etwa 2000 Mann sein, die in dem schlichten Bürogebäude in Almere vor den beiden Simulatoren in Kinoleinwandgröße und sechs kleineren Simulatoren Unglücke erleben und das neue Miteinander üben. Die Kurse dauern meistens fünf Tage. Rund die Hälfte der Carnival-Offiziere war schon in Almere. Sie alle werden wiederkommen, zum Auffrischen ihres Wissens.

Strukturiertes Vorgehen im Alarmfall, Checklisten, psychologisches Training – und trotzdem passiert einem Kapitän das, was Francesco Schettino passiert ist? „Kapitän Schettino war leider noch nicht bei uns“, sagt Trainer Petruzzelli. „Die Kapitäne der Reederei Costa Crociere sollten im Januar zu den ersten Übungen kommen.“ Am 13. Januar aber war dann die Unglücksnacht der „Concordia“.

Auf der „Costa Due“ unterhält sich die Crew von Kapitän Russo, Kapitän übrigens bei Costa Crociere, mit dem Lotsenkapitän Kranendonk. Soeben hat er am Simulator die Ausfahrt aus dem sehr engen Hafen von Port Everglades in Florida üben lassen. Und eine Fahrt im Sturm. Er findet die Übungen zielführend. „Vor dem Simulator reagiert man wie im richtigen Leben“, ist seine Erfahrung. „Wir hatten sogar Kollegen hier, die tatsächlich seekrank wurden.“

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