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Reise: Her mit der Kunst

Von Sonntag an zeigt Chemnitz 2500 neue Bilder: Warum Sammlungen im „sächsischen Manchester“ so gut aufgehoben sind

Als Alfred Gunzenhauser 2002 zum ersten Mal nach Chemnitz kam, schien die Sonne und die Bäume prangten in frischem Grün. Ingrid Mössinger, die Direktorin der städtischen Kunstsammlungen Chemnitz, erzählt die Geschichte mit einem erleichterten Lächeln. Schließlich war der inzwischen 81-jährige Münchner Galerist und Sammler vor fünf Jahren extra aus Mallorca angereist, um zu prüfen, ob seine 2500 Werke umfassende Kunstkollektion am Fuße des Erzgebirges gut aufgehoben wäre.

Mössinger ist mit Gunzenhauser auf den Kaßberg gefahren. Im Kaßbergviertel, einem der größten und noch immer schönsten Gründerzeit-Wohnviertel Deutschlands, lebten vor den schweren Luftangriffen von 1944/45 auf 200 Hektar immerhin 16 000 Menschen in gut- bis großbürgerlichen Verhältnissen. Der sächsische Lokomotivenkönig Richard Hartmann gehörte ebenso dazu wie der künftige expressionistische Malerstar Ernst Ludwig Kirchner. Vom Kaßberg stammen außerdem der Sammler und Bestsellerautor Lothar-Günther Buchheim und seine Schriftstellerkollegen Stefan Heym und Stephan Hermlin. Nachdem dort kräftig renoviert worden ist, wohnt es sich heute wieder ausgesprochen bürgerlich. Und wie zu Buchheims Jugendzeit lockt eine nostalgische Eckfiliale von „Freund’s Konditorei“ mit Baumkuchenspezialitäten.

Am kommenden Sonnabend eröffnet Bundespräsident Horst Köhler das Museum Gunzenhauser als erstes großes Sammlermuseum in Ostdeutschland im umgebauten ehemaligen Sparkassengebäude, Baujahr 1930.

Dass sich Gunzenhauser nicht für München, Dresden oder Leipzig, sondern für Chemnitz entschieden hat, ist nicht nur dem positiven ersten Eindruck der zwischen 1953 und 1990 in Karl-Marx-Stadt umgetauften Stadt zu verdanken, sondern vor allem Ingrid Mössinger. Die Chemnitzer Museumsdirektorin hat das 1909 eingeweihte Stammhaus der Kunstsammlungen am Theaterplatz zu einer der erfolgreichsten Kunstadressen Deutschlands gemacht.

Doch die heute 243 000 Einwohner zählende Stadt – 1936 war mit 365 000 der Höchststand erreicht – hat wesentlich mehr als Museen zu bieten. Selbst wenn in Chemnitz nur noch wenig an die mittelalterlichen Wurzeln erinnert, haben sich auf dem Schlossberg die wichtigsten Bauten des von Kaiser Friedrich Barbarossa gegründeten, kurz vor der Reformation aufwendig erneuerten Benediktinerklosters erhalten. Rund um den Kreuzgang lockt eine Ausstellung zur Stadtgeschichte, unter den prächtigen Gewölben der ehemaligen Klosterkirche stehen mehrere Hauptwerke mitteldeutscher Spätgotik. Darunter Hans Wittens schockierend naturalistische Skulpturengruppe mit Christus an der Geißelsäule, die einst im Schlafsaal der Mönche stand.

Jenseits der mittelalterlichen Traditionsinsel auf dem Schlossberg ist das „sächsische Manchester“ allerdings weitgehend ein Produkt des 19. und 20. Jahrhunderts. Sowohl die frühe und schnelle Industrialisierung ab 1850 wie die tiefgreifenden Kriegszerstörungen und der sozialistische Wiederaufbau 100 Jahre später haben in Chemnitz unübersehbare Spuren hinterlassen. Und das nicht nur im Stadtzentrum, dominiert vom monumentalen Marx-Kopf des sowjetischen Bildhauers Lew Kerbel, der von den Chemnitzern schon zu DDR-Zeiten liebevoll-spöttisch „Nischel“ getauft worden ist.

Am Fuß des Kaßbergs stehen die noch immer imposanten Überreste jener Textil- und Maschinenfabriken, denen Chemnitz einst seinen Reichtum verdankte. Entlang der Zwickauer Straße reihen sich die teils leerstehenden, teilweise wieder durch kleinere Firmen genutzten Fabrikgebäude der ehemaligen Union Maschinenbau, der Strumpffabrik Esche oder der Wanderer Werke aneinander. Von seidenen Damenstrümpfen über Schreibmaschinen bis zu Automobilen und Lokomotiven wurde dort beinahe alles produziert. In einer sanierten alten Gießerei mit Original-Dampfmaschine von 1896 hat sich das Sächsische Industriemuseum niedergelassen.

Ein altes Chemnitzer Bonmot sagt, dass man die Werte, die in Chemnitz erarbeitet und in Leipzig gehandelt wurden, in Dresden verprasst habe. Dabei hatten sich die Chemnitzer Industriellen ausgesprochen repräsentative Wohnsitze bauen lassen. Der berühmteste von ihnen ist bis heute die Villa des Strumpffabrikanten Herbert Eugen Esche, ein Werk von Henry van de Velde. Der belgische Jugendstilkünstler entwarf 1903 von der Türklinke bis zum Nachttischlämpchen ein bewohnbares Gesamtkunstwerk. Allein das damals hochmoderne, wenn auch nicht besonders funktionale Badezimmer misst 60 Quadratmeter. Das inmitten eines riesigen Parkgrundstücks gelegene Haus ist vorbildlich saniert worden, einige der mit Originalmöbeln wiederhergestellten Räume können besichtigt werden. Und in der benachbarten Remise gibt es ein hervorragendes Restaurant.

In der Villa Esche veranstaltet auch die Sächsische Mozart-Gesellschaft regelmäßig Konzerte. Frank Streuber, 2. Hornist der Chemnitzer Robert-Schumann-Philharmonie, hat den Verein 1991 mit ein paar Gleichgesinnten gegründet. Seither organisiert man nicht nur alljährlich das Sächsische Mozartfest, sondern kümmert sich ebenso engagiert um musikalische Basisarbeit an Chemnitzer Schulen. Frank Streuber kam Anfang der achtziger Jahre nach dem Musikstudium in Weimar in die Stadt – und ist längst zum überzeugten Chemnitzer geworden. Er liebt die tatkräftig-nüchterne Art der Sachsen: „Hier weiß man, dass man sich selbst helfen muss.“ Unter den ostdeutschen Städten, meint Streuber, habe Chemnitz lange eine Art Schneewittchendasein geführt. Doch längst schon hat sich die Stadt selbst wachgeküsst.

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