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Reise: Himmel ohne Kondensstreifen

Seit 1977 ist es gute Sitte, dass die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden im Dezember das „Wort des Jahres“ kürt. Es wird ausgewählt aus einer Reihe von Begriffen, die „die Diskussion bestimmt haben, die für wichtige Themen stehen oder sonst als charakteristisch erscheinen“.

Seit 1977 ist es gute Sitte, dass die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden im Dezember das „Wort des Jahres“ kürt. Es wird ausgewählt aus einer Reihe von Begriffen, die „die Diskussion bestimmt haben, die für wichtige Themen stehen oder sonst als charakteristisch erscheinen“. 1984 war das zum Beispiel „Umweltauto“, 2007 „Klimakatastrophe“ und 2010, wie jeder weiß: „Wutbürger“.

In diesem Jahr hat eine heimlich tagende Jury erstmals auch das „Touristische Wort des Jahres“ bestimmt. Es wurde ja auch Zeit. Und gerade jetzt, wo die Konjunktur brummt und Menschen sich wieder zahlreicher über Urlaubsprospekte beugten oder Ferien im Internet buchen, erscheint es unverzichtbar.

An dritter Stelle, so die Wissenschaftler, die anonym bleiben wollen, rangiere der Begriff „plötzlich und unerwartet“. Gemeint sei damit nicht das unvermutete Hinscheiden eines verdienten Vorstandsvorsitzenden. Vielmehr stehe es für das Ausmaß der Verblüffung, mit der die Deutsche Bahn in schöner Regelmäßigkeit den Wechsel der Jahrszeiten begrüße: „Wie – Sonne? Was – Schnee?“

Auf die zweite Position wählten die Experten das Wort „Torschlusspanik“. Es kennzeichne, so die Erklärung, umfassend den sogenannten „Run auf die Social Media“. Dieses merkwürdige Fieber habe im vergangenen Jahr fast alle Fluggesellschaften, PR-Agenturen und Reiseveranstalter befallen. Ohne Hunderte von Freunden bei Xing, Tausende von Followers bei Twitter, Zehntausende von Fotos bei flickr und Wagenladungen von lustigen Filmchen bei Youtube, so laute inzwischen die gängige Überzeugung, stehe die eigene Firma kurz vor dem Abgrund und die Reisebranche insgesamt vor dem Kollaps. Fast scheine es, schreiben die Wissenschaftler, als habe ein Rilke’sches Grundgefühl die Vorstandsetagen erfasst: Wer jetzt allein ist, web-2.0-mäßig gesehen, wird es lange bleiben. Oder, um mit den Worten eines bekannten Trendforschers zu sprechen: Wer zu spät kommt, den lässt Facebook nicht mehr rein.

Unangefochtenes touristisches Leitwort des Jahres 2010 aber ist nach Ansicht des Gremiums: „Eyjafjallajökull“. Der isländische Vulkan, der unter dem Pseudonym „Der Unaussprechliche“ im April Furore machte, habe es nicht nur geschafft, eine Zeit lang 60 Prozent aller europäischen Flüge ausfallen, die Bahnhöfe aus den Fugen krachen, die Mitfahrzentralen das Geschäft ihres Lebens machen und selbst Angela Merkel mit dem Auto durch Europa kurven zu lassen. Er habe darüber hinaus gezeigt, dass ein Himmel ohne Kondensstreifen nicht etwa, wie bisher als gesichert galt, gleichbedeutend sei mit dem Ende der zivilisierten Welt. Und er habe auf Passagierseite die bis dahin undenkbarste aller Reaktionen hervorgerufen: Wir können ja auch anders!

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