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Reise: Hundert Kurven bis ins Herz

Im grünen Norden ist die Insel Gran Canaria eine wilde Schönheit. Charmante Landhotels bieten ruhige Logis

Kopfschüttelnd beendet Maria ihr Handytelefonat. „Was man manchmal für Anfragen bekommt“ , sagt die freiberufliche Fremdenführerin auf Gran Canaria seufzend. „Eben wollte eine südspanische Reiseagentur, dass ich eine Bustour arrangiere und begleite“, erzählt sie. Eine möglichst gerade Strecke sollte sie aussuchen, denn die vorwiegend älteren Gäste vertrügen kein kurviges Gelände. „Keine Kurven“, sagt Maria, halb belustigt, halb empört. „Wie soll das gehen auf Gran Canaria?“ Drei Viertel der Insel bestünden aus Bergen, und es gebe eine Kehre nach der anderen. Vielleicht eine Tour im flachen Süden? Maria schüttelt lachend den Kopf. „Und, was soll ich den Touristen dort zeigen? Lauter Hotels?“

Die meisten Touristen sehen von Gran Canaria, der drittgrößten kanarischen Insel, kaum etwas anderes. Rund 85 Prozent der Gäste buchen eine Unterkunft im Süden rund um die Playa del Inglés. Und weil fast alle Hotels inzwischen auf „all-inclusive“ umgestellt haben, verzichten viele Gäste auf einen Mietwagen, um die Insel zu entdecken. Warum sollten sie woanders für ein Essen bezahlen, wenn im Hotel doch alle Mahlzeiten und Getränke inbegriffen sind?

So kommt es, dass man – im Landesinneren der Insel unterwegs – kaum glauben kann, dass jährlich knapp drei Millionen Menschen auf Gran Canaria Urlaub machen.

Sonnabends im Norden, wenn der Bauernmarkt in Vega de San Mateo aufgebaut ist, schlendern allerdings auch Touristen zwischen Dutzenden Arten von Kartoffeln, Bananen und Erdbeeren umher oder kaufen „typischen“, aus China importierten Nippes oder andere billige Souvenirs. Am Sonntagvormittag aber sind die Einheimischen auch hier unter sich. Auf dem Platz vor der Markthalle spielt eine Liveband Salsa und Tango, und viele ältere Paare tanzen dazu. Wie in Südamerika. „Es gibt ja einige Canarios, die einst zum Geldverdienen nach Argentinien ausgewandert sind“, sagt Maria. Und als sie zurückkehrten, hätten sie eben auch die Rhythmen von dort mitgebracht. „Schon morgens um neun kommen die ersten Tänzer“, weiß Maria, „und sie bleiben bis zum Schluss um 14 Uhr.“

In Teror ist es still am späten Sonntagnachmittag. Stumm steht der alte, knorrige Lorbeerbaum vor der großen barocken Basilika. Die gesamte Altstadt mit ihren kunstvoll gedrechselten Holzbalkonen wurde unter Denkmalschutz gestellt. Ein ehemaliges Palais mit pittoreskem Innenhof bietet, zum Museum geworden, Impressionen vom ursprünglichen Alltag der Canarios. Die Arbeit auf dem Land bestimmte den Lebensrhythmus, so wie noch heute auf der unweit gelegenen Finca Osorio. Weizen, Kartoffeln und Gemüse werden rund um das alte Herrenhaus angebaut. Doch Osorio ist auch ein Biotop. Schmale Pfade führen durch einen uralten Lorbeerwald. Fast den gesamten Norden der Insel hatte er bedeckt, ehe die spanischen Eroberer ihn rodeten.

Inselführer Lorenzo zeigt ins dichte, hohe Gras am Wegesrand. „Sehen Sie, das ist unsere Nationalblume“, sagt er und deutet auf einen blassroten, glockenförmigen Blütenkopf. Es gebe nicht mehr viele der Canaria canariensis, dieser endemischen Glockenblumenart, bedauert er. „Die Touristen kaufen Strelitzien als Souvenir am Flughafen“, sagt er lächelnd. Dabei seien die doch aus Afrika importiert.

Noch weiter nördlich, in Arucas, wähnt man sich in einem typisch spanischen Landstädtchen. Wenn da nicht dieser kolossale graue Koloss wäre. Eine gigantische Kirche im neugotischen Stil, die zu dem Ort passt wie eine bayrische Dorfkapelle nach Dubai. 1909 wurde mit dem Bau begonnen und ganz fertig ist er noch immer nicht. „Vier große und mehrere kleine Türme hat sie schon, aber einer fehlt noch“, sagt Lorenzo lächelnd. Innen birgt das Gotteshaus wertvolle Skulpturen – und die beeindruckende liegende Christusfigur, die der expressionistische Künstler Manuel Ramos 1944 geschaffen hat.

Arucas ist die drittgrößte Stadt auf Gran Canaria – und sie hat schon bessere Tage gesehen. Viele der schönen Häuser harren einer Renovierung, etliche Läden und Restaurants stehen leer. „Die Stadt war einst Zentrum des Zuckerrohranbaus“, erklärt Lorenzo. Von den zahlreichen Destillerien ist nur eine übrig geblieben, die ihren Rohstoff jedoch hauptsächlich importiert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Bananenplantagen angelegt – einige gibt es heute noch. Doch vom Pflücken der gelben Früchte wird hier keiner mehr reich.

Allerdings kann man mittendrin wohnen, im „gelben Meer“. Eine Finca aus dem 16. Jahrhundert wurde restauriert und bietet als Hotel Rural Hacienda del buen Suesco geschmackvoll eingerichtete Zimmer und Suiten an. Das stilvoll-rustikale Ambiente und das gute Essen trösten darüber hinweg, dass der Service ein wenig lässig ist. „Diese Flasche Rotwein ist eiskalt, Sie sollten einen teuren Wein bei angemessener Temperatur servieren“, beschwert sich ein Engländer beim Dinner. „Wir trinken ihn eben so“, antwortet der junge Kellner und grinst.

Auch in Tejeda kann man sich im Landhotel einquartieren. Und morgens gleich aufbrechen zum 1412 Meter hohen Roque Bentayga, einem heiligen Berg der Ureinwohner. Tejeda hat sich in den letzten Jahren besonders hübsch gemacht. Die Häuschen sind frisch geweißt, viele Dächer neu gedeckt. In der Cueva de la Tea werden womöglich die besten Vorspeisen der Insel serviert. Und die süße Versuchung lockt gleich nebenan, in der Dulceria Nublo. Ofenfrisches Brot aus Kartoffelmehl gibt es dort und köstliche Leckereien aus süßem Teig mit Marzipan.

Der Dichterphilosoph Miquel de Unamuno schwelgte lieber in Landschaft. In Artenara steht er, in Bronze gegossen, auf einer Terrasse. Und schaut auf jenes Gebirge, das er im Jahre 1910 als „versteinertes Gewitter“ beschrieben hat. Und sieht es nicht wirklich so aus? Im höchsten Dorf von Gran Canaria gibt es ein paar Läden und Bars, zwei, drei Restaurants, eine Kirche und eine Höhlenkapelle. Ein friedlicher Ort. Hier könnte man sich für alle Zeiten niederlassen. „Puh“, sagt Lorenzo. „Artenara ist doch so weit weg von allem.“

Dabei sind es auf der Karte nur gut zehn Kilometer Luftlinie bis Agaete im Nordwesten, dort, wo man das Meer schon riechen kann. Luftlinien gelten nicht auf dieser Insel voller Kehren. „Gute anderthalb Stunden werden wir brauchen", sagt Lorenzo.

Irgendwann biegt er von der schmalen Straße ab, und wir holpern auf einer Sandpiste weiter. Das Ziel ist zinnoberrot. Die Finca Las Longueras schmiegt sich, hinter Palmen versteckt, in ein grünes Tal. Im Prospekt ist es ein Landhaus mit zehn Zimmern, in Wahrheit ist es ein Traum. „Wenn Sie eine Orange mögen, pflücken Sie sich ruhig eine", ermuntert die freundliche Angestellte. Man wohnt schließlich inmitten eines botanischen Gartens, in dem eben auch noch Obstplantagen sind. Beim Abendessen im Salon raunt ein englisches Pärchen: „Man sagt, das Hotel ist voll belegt, aber man sieht kaum Gäste.“ Es gibt einfach zu viele verschwiegene Plätzchen hier, an die sie morgens mit ihren Frühstückstabletts verschwinden. Dann fegt Manolo eben weiträumig um den Stuhl herum, auf dem man sich gerade niedergelassen hat. „Lassen Sie sich nicht stören“, sagt der alte Mann. 81 Jahre alt ist er, und immer habe er hier gearbeitet, erzählt er. Erst für die Landherren, und jetzt eben aus Spaß für die junge Erbin, die ein Hotel aus dem Herrenhaus gemacht hat.

Unweit von hier beginnt der Wanderweg in den Parque Natural de Tamadaba. Knapp acht Kilometer sind es bergauf durch felsiges Gelände, vorbei an nunmehr unbewohnten Höhlen. Die Ureinwohner sind verschwunden, aber ihre Rituale gibt es noch. Am 28. Juni wird die Fiesta de Rama gefeiert. „Hunderte laufen in der Nacht zuvor auf die Berge, nehmen sich dort Zweige mit und laufen im Morgengrauen damit wieder herunter“, erzählt Wanderführer Rául. Und dann? „Dann schlagen sie mit den Ästen aufs Meerwasser ein.“ Dadurch, so hofften sie einst – und manche tun es wohl heute noch – würde es viel Regen geben.

Das Meer lockt – auch zum Schwimmen. Nur goldgelben Sand darf man nicht erwarten in Puerto de las Nieves, dem kleinen Hafenort von Agaete. Der Strand besteht aus dunklen Steinen. Aber kann man netter aufs Wasser gucken, als von einem dieser ausnahmslos blau-weiß gestrichenen Restaurants aus, die sich entlang des Hafens ziehen? Sehr gut und sehr günstig kann man hier satt werden. Im Restaurant Casa Nando offeriert man ein Drei-Gänge-Menü mit Brot und Wein inklusive für gut sieben Euro.

Ansonsten hat das freundliche Puerto de las Nieves Pech gehabt. In der Bucht ragte ein einsamer Felsen auf, den sie Dedo de Dios (Finger Gottes) genannt haben. „13 Millionen Jahre hat es ihn gegeben", erklärt eine Informationstafel am Hafen. Dann wurde er vom Hurrikan Delta am 28.11. 2005 zerstört.

Maria bestellt sich im Restaurante Dedo de Dios erst mal einen „leche leche“. Das ist ein Getränk, das zu je einem Drittel aus sehr süßer Kondensmilch, Kaffee und normaler Milch besteht. „Ich habe mehrmals versucht, auf dem spanischen Festland leche leche zu bestellen“, erzählt sie. „Aber man hat nie verstanden, was ich haben wollte.“

Wahrscheinlich gibt es „leche leche“ nicht mal in den Hotels im Süden der Insel. Aber von dort aus ist es ja auch ziemlich weit bis ins Herz von Gran Canaria. Hundert Kurven, mindestens.

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