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Interview: Die Krämer auf der Galatabrücke

Wer das alte Istanbul noch sehen will, muss sich sputen, sagt Geert Mak.

Geert Mak, wie entstand die Idee zu diesem Buch über Istanbul?

Bei den Recherchen zu meiner „Reise durch das 20. Jahrhundert“ kam ich vor ein paar Jahren das erste Mal nach Istanbul und dabei fand ich diese Brücke dort am Bosporus. Und ich las dann einiges über die Geschichte dieser Brücke und stieß auf eine lange, sehr interessante Historie.

Warum wählten Sie die Galatabrücke aus, um in diesem Mikrokosmos etwas über das Land und die Leute zu erzählen?

Ich bin immer ein Stadtjournalist gewesen. Ich habe ein gewisses Auge für Brennpunkte. Als ich das erste Mal auf diese Brücke kam, sah ich diese Gelegenheitsverkäufer, kleine Krämer und Hobbyangler, und die Reichen gingen dran vorbei – und ich dachte, dort, über diese Brücke laufen nicht nur viele Füße und Schuhe, über diese Brücke laufen auch viele Geschichten. Und ich ließ sie erzählen und hielt alles fest.

Was fasziniert Sie an Istanbul?

Istanbul ist wirklich die Ecke von Europa. Und wir im Westen haben längst vergessen, dass Istanbul einst, vor mehr als tausend Jahren, die wichtigste europäische Stadt war. Dort ist eine extrem vielschichtige Historie zu finden. Und heute ist Istanbul nun die Brücke zwischen Europa und seinem westlichen Denken und der arabischen Welt. Istanbul ist wirklich die Brücke zwischen zwei Welten.

Istanbul – eine Stadt wie keine andere?

Ich habe oft ein ähnliches Gefühl wie in Lissabon gehabt. Beides sind sehr schöne Städte am Meer. Beides waren Hauptstädte großer Reiche. Die Imperien sind untergegangen. Es blieb nur die Erinnerung. Aber es gibt auch Unterschiede. Lissabon guckt heute noch über das Meer. Istanbul scheint in sich gefroren zu sein. Lissabon lebt mit seiner Geschichte. Istanbul will Modernität. Und ich denke, man muss schnell sein, wenn man noch etwas vom alten Istanbul sehen will. Viele sagten mir: Geh’ rasch nach Istanbul, es ändert sich schnell.

Sie schreiben, in Istanbul herrsche Geschichtsvergessenheit, Geschichte werde verdrängt.

Ja, es ist tatsächlich so. Große Paläste und einige wenige offizielle Monumente lässt man stehen und putzt sie heraus. Aber alles andere verschwindet. Im alten Griechenviertel beispielsweise können Sie zusehen, wie ein Haus nach dem anderen fällt.

Hat sich Ihre Sicht auf die Türkei während Ihrer Recherchen verändert?

Ich habe gelernt, dass wir oft zu viele theoretische und theologische Debatten führen. Die praktischen Probleme blenden wir aus. Wir haben auch falsche Vorstellungen vom religiösen Fundamentalismus. Ich war zum Beispiel während dieses Karikaturenstreits in Istanbul. Ja, viele meiner Bekannten auf der Brücke waren tatsächlich empört darüber. Aber nicht deshalb, weil sie tief gläubig sind. Viele von ihnen wollen von den Imams nichts wissen. Aber sie waren empört, weil sie sich beleidigt fühlten. Wer so arm ist, der hat nicht viel mehr als den Respekt für andere. Ehre ist sehr wichtig für sie. Diese Menschen dort leben in permanenter Erniedrigung. Religion ist eine Möglichkeit, Halt zu finden.

Was bedeutet Ihren türkischen Gesprächspartnern Europa?

Europa ist für sie das, was die USA für uns in den 50er und 60er Jahren war: eine Art Utopia. Europa ist das Ideal. Umso größer ist die Enttäuschung, dass Europa immer wieder Vorbehalte äußert. Die Reaktion darauf sind die türkischen Flaggen. Der Nationalismus nimmt wieder zu.

Welche Erkenntnis haben sie aus Istanbul mitgebracht?

Für mich war es eine kurze Entdeckungsreise in diese fremde Welt. Wir wissen nicht, wie schwer das Leben dort ist. Das lassen wir auch gar nicht zu uns durchdringen. Ich habe sehr viel Respekt für die Leute auf der Brücke bekommen. Sie haben ein sehr einfaches, häufig auch kurzes Leben. Man stirbt dort früh. Aber trotzdem versuchen sie, ein anständiges Leben zu führen und nicht kriminell, fundamentalistisch oder terroristisch zu werden. Dazu ist viel Mut und Integrität nötig. Von all dem wissen wir nichts.

Das Gespräch führte Stefan Berkholz

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