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Ruhebank. Wer durch den Cilento wandert, bewegt sich in der Stille und ist doch dankbar, wenn er mal rasten kann. Denn die Pfade haben es in sich.

© Franz Lerchenmüller

Italien: Verstohlen eine Feige gepflückt

Urwüchsig und noch immer ein bisschen gottvergessen: Was die Region Cilento im Südosten Italiens so anziehend macht.

Wenn Camela Coccaro von früher erzählt, beginnt ihr Gesicht zu leuchten. Der Duft der Äpfel, die in der Asche garten. Das Aroma des frisch gebackenen Brotes. Der Geruch der getrockneten Kürbisstreifen, die ihre Oma mit Knoblauch und Spitzpaprika schmorte und dem Großvater mit aufs Feld gab ...

Die Nase ist das Gedächtnis der blondierten Anfangsvierzigerin – und ihre Rezeptbibliothek. Wenn sie in der viel zu engen Küche ihres Restaurants La Piazetta steht, komponiert sie aus ihren Erinnerungen wunderbare Menüs: Kichererbsensuppe mit einem Pecorinotörtchen, ein Raviolo, gefüllt mit Ziegenricotta und marinierten Steinpilzen, Kartoffelbrei mit Oregano und gebratenen Zwiebeln, dazu ein Stück Kalbsroulade, so bescheiden bemessen, dass man ganz kleine Stücke abschneidet und sich besinnt, wie kostbar Fleisch in einer armen Gegend einst war.

Ihr Restaurant mit den gerade mal fünf Tischen, in dem nur auf Vorbestellung gekocht wird, ist die Zierde von Valle dell’ Angelo, des mit 187 Einwohnern kleinsten Dorfes der Region Kampanien. Und der Beweis, dass Bauernküche originell, vielseitig und geschmackssicher sein kann, wenn eine Könnerin sie weiterentwickelt – was auch im Cilento, der gern mit seinem kulinarischen Erbe wirbt, nicht unbedingt die Regel ist.

Die Region des Cilento beginnt etwa eineinhalb Stunden Autofahrt südlich von Neapel bei Paestum. Seine Küste erstreckt sich rund 100 Kilometer nach Süden, im Osten reichen die Hügel und Schluchten bis zum Diano-Tal. „Christus kam nur bis Eboli“, schrieb Carlo Levi einst. Der Cilento, südlich davon, war genau eine jener gottvergessenen, armen und rückständigen Regionen Italiens, von denen Levis Roman erzählt. Übrigens: 1991 wurden bedeutende Teile des Gebietes zum Nationalpark (Nationalpark Cilento und Vallo di Diano), 1998 zum Unesco-Welterbe der Menschheit erklärt.

Nadelkurvige Straßen, Dörfer, in denen sich jahrzehntelang wenig ändert, menschenleere Strände, schwer zugängliche Hügelketten – was einst ein Makel war, gilt heute bekanntlich als touristisches Kapital: Ein Gebiet, das zum Wandern und Sich-Erholen wie geschaffen ist.

Der Cilento ist wohltuend alltäglich

Camela Coccaro beweist in ihrem kleinen Restaurant, wie vielseitig und originell die Bauernküche sein kann.
Camela Coccaro beweist in ihrem kleinen Restaurant, wie vielseitig und originell die Bauernküche sein kann.

© Franz Lerchenmüller

Der Himmel ist leicht wolkenverhangen an diesem Morgen, das Meer liegt in verwaschenem Blau. Vorbei an Schirmpinien, verwilderten Äckern und grauen Trockenmauern führt ein kieseliger Weg von San Marco auf der Halbinsel Licosa aus sanft nach oben. Unten am Strand ragt einer jener Sarazenentürme auf, von denen aus die Bewohner vor heransegelnden Feinden gewarnt wurden. Oben am Berg gähnen Löcher im Gerüst eines unvollendeten Großhotels – fast wie ein Symbol: Der Cilento wehrt sich gegen allzu hoch fliegende Träume in Beton.

Rundum wuchert Macchia, Mastixsträucher mit ihren roten Beeren. Die gelben Dolden des wilden Fenchel. Hellgrüne, flächige Feigenkakteen. Früher, erzählen die Männer in Montecorniche, waren die Hügel noch dicht mit Aleppokiefern bewachsen. Vor zehn, zwölf Jahren brannte der Wald ab. Abgefackelt? Kann sein, sie zucken mit den Schultern. Möglicherweise aus Ärger über die Einrichtung des Cilento-Nationalparks 1991 – Idioten gibt es überall.

Der Besucher wandert – und macht, was man immer macht beim Wandern: Er streift mit der Hand durch einen Busch Rosmarin und schnuppert daran. Pflückt verstohlen eine Feige oder ein paar Trauben. Badet am Hang in heißer Luft. Und er zelebriert Begegnungen: mit wandernden Kühen, einem wortkargen Landvermesser, der gelangweilten Dorfprinzessin hinter einem Bartresen.

Immer raschelt irgendetwas, wenn er vorbeikommt, taumelt ein unbekannter Schmetterling, bringt sich eine Schlange eilends in Sicherheit. Nach zwei, drei Tagen verdichtet sich der Eindruck: Der Cilento ist weniger spektakulär als die Amalfiküste, nicht so pittoresk wie die Toskana, er kennt weder die Eleganz Mailands noch das lärmende Selbstbewusstsein Neapels. Dafür ist er wenig zersiedelt, hat Menschen, die gern ein wenig plaudern und steckt nicht im touristischen Dauer-Ausnahmezustand. Mit einem Wort: Er ist wohltuend alltäglich.

Das Wandern allerdings ist nicht immer einfach. Nicht alle Wege, die in einer Karte stehen, sind auch markiert und freigelegt. Wer jedoch gern abseits ausgetretener Pfade unterwegs ist und dafür ein paar Unwägbarkeiten in Kauf nimmt, ist hier richtig. Er findet wunderschöne Aussichtspunkte, auf denen seit Jahren niemand mehr gestanden hat, riskiert aber auch, mitten in der Macchia zu enden. Mannshoch sind die Gräser auf einmal, riesig der Ginster, die Brombeeren legen Fußangeln – und dass sich unter dem dichten Dschungel eine Terrasse mit alten Trockenmauern verbirgt, wird einem erst klar, wenn man fast zwei Meter abgestürzt wäre. Da bleibt nur der Rückzug – und das Staunen, mit welcher Wucht die Natur sich ihr Terrain zurückerobert, sobald der Mensch sich ihr nicht mehr stellt.

Eine Portion Antike muss sein in Italien

Das antike griechische Velia ist erst zum Teil wieder freigelegt.
Das antike griechische Velia ist erst zum Teil wieder freigelegt.

© Franz Lerchenmüller

Galdo, Laurino, Montecòrice – fast alle Dörfer scharen sich dicht geschlossen auf einem Berg oder am Hang um ihre Kirche. In den abschüssigen Gässchen eines Ortes wie Lentiscosa fragt man sich, ob die Bewohner ganz oben die von ganz unten jemals zu Gesicht bekommen – außer zur Messe am Sonntag, versteht sich. Manchmal stören moderne Bauten, die sich schwefelgelb oder schweinchenrosa vom verwitterten Rot der Ziegel, dem narbigen Ocker der Mauern und dem schrundigen Grau der Felsen abheben. Und dazwischen überziehen Tausende und Abertausende von Olivenbäumen die Hügel, die Wülste der Erntenetze umgebunden wie geraffte Schürzen.

Zwischendurch empfiehlt sich ein Abstecher nach Montecòrice – eine Portion Antike muss sein in Italien. Durch das mächtige Stadttor Porta Rosa schlenderten schon vor zweieinhalb Jahrtausenden die Händler über die präzise aus Steinen zusammengefügte Straße. Mit Öl und Fischsoße wurden sie reich, Olivenöl und Sardellen gehen an der Küste auch heute noch gut.

In der Therme mit dem Mosaikfußboden redeten sich die Philosophen die ohnehin schon roten Köpfe noch heißer. Heute kann, wer will, im Schatten der mittelalterlichen Burg auf der Akropolis darüber grübeln, aus welchem Grund ihr Star Parmenides wohl forderte, „das Gegenwärtige und das Ungegenwärtige immer zusammenzudenken“. Muss man aber nicht. Mit ebenso großer Berechtigung darf man in eine Melone beißen, den kleinen, smaragdfarbenen Drachen auf der Mauer bei der Jagd zusehen und Parmenides ganz entspannt einen klugen Mann sein lassen.

Die Woche klingt aus in Agnone. Goldrot steht der Feuerball über dem Meer. Ältere Frauen sitzen auf weißen Plastikstühlen im Kreis: Höchste Zeit, zu besprechen, was seit heute morgen geschehen ist. Jüngere schleppen ihre Kinder noch mal heraus, für ein bisschen Abendsonne und Zusammensein. Ganz alte Männer grüßen sich – oder auch nicht. Und die beiden Touristen vor der Bar? Stören nicht weiter. Denn sie verstehen glücklicherweise: Hier herrscht Normalbetrieb. Die Dinge nehmen ihren Lauf – weit jenseits von ihnen. Im Cilento ist Italien, das Land, noch ganz bei sich selbst.

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