zum Hauptinhalt
Die sind doch nicht blöd! Beim heiklen Viehtrieb im wilden Kaukasus passen Hirten und Schafe gleichermaßen auf, dass es keine Verluste gibt.

© Michael Fröhlich

Kaukasus: Wenn es regnet, kommen die Wölfe

Hart ist die Arbeit der Hirten im Kaukasus. Touristen dürfen mittun. Und erleben Georgiens trinkfeste Traditionen.

Eine sternenklare Nacht auf 2000 Metern Höhe, im Großen Kaukasus. In der Ferne bellen Hunde. Hin und wieder blökt ein Schaf. Sonst ist es still. Nur auf der Veranda einer Berghütte, deren Wände nach alter tuschetischer Tradition aus Schieferstein aufgeschichtet sind, feiern bei Kerzenschein ein knappes Dutzend Abenteurer in Winterjacken.

Otari Arisheli, ein schmächtiges Männlein mit listigen Augen, ergreift das Wort. „Als die Welt noch jung war“, erzählt der 58-jährige Maler aus der Gegend von Tiflis und zieht an einer filterlosen Zigarette, „hat Gott jeder Nation ein Stück Land versprochen.“ Am nächsten Morgen stellten sich Gesandte aus allen Teilen der Erde vor seinem Thron an und erhielten für ihr Volk Ländereien zugeteilt. „Die Georgier aber feierten die Nacht durch – und kamen zu spät“, erzählt Otari, bläst den Rauch aus und grinst. Pech gehabt. „Aber wir haben dich doch die ganze Zeit mit unseren Liedern und Trinksprüchen gepriesen“, schmeichelten sie dem Allmächtigen. Schließlich war Gott so gerührt, sagt Otari, dass er den Georgiern das Stück Land überließ, das er eigentlich für sich selbst reserviert hatte: das Paradies.

Georgien ist etwa so groß wie Bayern. Touristen zieht es meist in die Ferienorte am Schwarzen Meer. Subtropisches Klima, Palmen, Partymeilen. Viele andere reisen in die Metropole Tiflis, deren Prachtboulevards, Kirchen, orientalische Basare und idyllisch-verwinkelte Altstadtgassen berühmt sind. Doch wenn man Otari glaubt, ist Tuschetien, die Bergwelt im Großen Kaukasus, ganz im Osten, in die sich nur wenige Fremde verirren, das eigentliche Paradies.

„Auf die Hirten!“

Als der Künstler die alte georgische Legende mit schwerer Zunge erzählt, ist es schon weit nach Mitternacht. Seit den Abendstunden schlemmt und feiert er mit seinen Gästen – zehn Abenteuerurlaubern aus aller Welt – im tuschetischen Bergdorf Dartlo. Tiko Ididze, eine junge Tuschin aus einem Nachbardorf mit ansteckendem Lachen, hat selbst gemachte Chinkali aufgetischt – eine Art Riesenravioli mit köstlicher Fleischfüllung. Dazu Karottensalat mit Walnüssen, Chatschapuri-Käsekuchen, gebratene Auberginen, Ziegenkäse, Quark, Fladenbrot, Gemüse in geheimnisvollen Saucen, Waldbeerenmarmelade. „Gaumatschos!“, rufen die Männer und lassen die Gläser klirren. „Prost!“ Rotwein schenkt Otri aus Fünfliter-Kanistern nach, Tschatscha – georgischen Traubenschnaps – aus alten Limoflaschen.

Alle an der Tafel sind bereits pappsatt, da serviert Tiko erst den Hauptgang: Schaschlik – am Spieß über dem Feuer gebratenes Fleisch von einem frisch geschlachteten Ziegenbock. „Auf unsere Freundschaft!“, stoßen alle an. „Auf die Berge!“, und immer wieder: „Auf die Hirten!“ Denn nur wer die Kultur der Schäfer kenne, könne seine Heimat verstehen, sagt Otari und schenkt wieder ein.

Etwa 70 große Herden – rund 50 000 Schafe und Ziegen sowie ein paar tausend Kühe – grasen im Sommer auf den Bergwiesen Tuschetiens. Aus ihrer Milch stellen Hirtenfamilien, wie die von Tiko, Butter, Quark und Käse her. Früher lebten sie das ganze Jahr im Gebirge. Mittlerweile haben die meisten eine Winterunterkunft im Tal. „Aber der Sommer ist immer die schönste Zeit des Jahres“, sagt Tiko und lacht. Erst im September, kurz bevor Schnee und Eis Einzug halten, treiben die Schäfer ihre Herden ins Tal hinab.

Es riecht nach Bock

Viele Tage lang, bis in die liebliche Weinregion Kachetien. Um dorthin zu gelangen, müssen Mensch und Tier zuvor einen 3000 Meter hohen Grat überqueren, den gefürchteten Abano-Pass – und dieses Abenteuer wollen die Westler auf ihrer Trekkingtour miterleben.

Zeit zur Pause bleibt den Hirten nicht oft.
Zeit zur Pause bleibt den Hirten nicht oft.

© Michael Fröhlich

Als Otaris Gäste am Morgen nach der Begrüßungsfeier die Augen öffnen, steht die Sonne bereits hoch am Himmel und gießt warmes Licht über die hölzerne Veranda der Schiefersteinhütte. Auf den Almmatten ringsumher grasen tausende Schafe. Aus der Ferne sehen sie wie weiße Blüten aus. Zwischen den Bergwiesen zeichnen sich schroffe Felsen und Fichtenhaine ab. Weiter hinten leuchten die von ewigem Eis bedeckten Fünftausender.

Wenige Schritte von der Hütte entfernt, durch deren Mauern der Wind pfeift, recken sich steinerne Wehrtürme aus dem Mittelalter in den Himmel. Von solchen Bauwerken aus warnten die tuschetischen Hirtenfamilien früher die Bewohner der Nachbardörfer mit Leuchtfeuern, wenn feindliche Truppen anrückten, erzählt Tiko und reibt mit einem Lappen den letzten Schaschlikspieß vom Vorabend sauber.

Auf der Anhöhe zwischen den Türmen taucht ein kleiner, stämmiger Mann mit einem langen Stab auf. „Hooo!!“, erklingt Elisbars tiefe Stimme. „Hoo!!, Hooo!!!“ Elisbar – schwarzer Vollbart, dunkle Lederjacke, Messingzahnkronen – ist der Hirte einer großen Herde. „Hooo!!!!“, brüllt er wieder und schwingt seinen Stab durch die Luft. Immer mehr Schafe flitzen auf sein Kommando über den Bergrücken zwischen die Wehrtürme. Es riecht streng nach Bock. Aufgeregt blökend drängen sich die Tiere schließlich auf der Anhöhe zusammen. Manche sind schneeweiß, andere von feuchter Erde beige- grau verfärbt. Einige haben zarte, kerzengerade, andere mächtige, eindrucksvoll geschwungene Hörner.

Aufbruch! Die Möchtegern-Hirten werden beinahe umgerannt

Schlicht ist manche Herberge im Kaukasus.
Schlicht ist manche Herberge im Kaukasus.

© Michael Fröhlich

Für 1000 Schafe sind Elisbar Machmedow und seine beiden Gehilfen, ein riesenhafter Stiller und ein junger Schmächtiger ohne Schneidezähne, der eine Wollmütze mit dem Schriftzug „Armani“ trägt, verantwortlich. Drei Hirtenhunde unterstützen sie. Vier Pferde dienen als Tragetiere für Filzschlafsäcke, Regenplanen, Kochgeschirr und die spärlichen Vorräte.

Elisbar begrüßt Otari und seine Gäste mit Handschlag. Zwei Tage lang dürfen sie ihn und die Herde begleiten. Der Hirte pfeift schrill durch die Zähne und lässt erneut seinen Stab durch die Luft wirbeln: Aufbruch! Die wolligen Leiber laufen und hoppeln bergab. Einige folgen der kurvenreichen Passstraße, an deren Rändern Himbeeren wild wachsen. Andere rennen einfach querfeldein. Viertausend Hufe trommeln in wildem Durcheinander über Wiesen und Felsen, durch Strauchwerk und über rissigen Asphalt.

Die Möchtegern-Hirten aus dem Westen werden beinahe umgerannt. Erst mit der Zeit werden sie trittsicherer. Nun fallen ihnen auch vereinzelte Ziegen in der Herde auf. „Die sind besonders schlau und dienen daher als Leittiere“, erklärt Elisbar, während er mit dem geschwungenen Griff seines Stabes ein Jungtier an den Hinterbeinen aufhält, das auf einen Abgrund zurennt. „Und Ziegenfleisch ist zarter als das der Schafe.“

Die Frauen, der Kaukasus und der Wein

Nach vier Stunden die erste Rast. Während die Urlauber in der Sonne dösen, zieht Otari, der Maler aus Tiflis, Zeichenblock und Bleistift aus seinem Rucksack hervor und skizziert Schafe vor Wehrtürmen und Gletschern. „Zu Hause in der Stadt male ich nur Frauen“, sagt er und lächelt. „Ich liebe die Frauen, den Kaukasus und den Wein!“ Sein Großvater sei 100 Jahre alt geworden. Und er selbst werde das auch, sagt er. Schon weil er eine strenge Alkoholdiät halte, nach dem Prinzip: „Viel hilft viel!“ Aber immer nur eine Sorte pro Nacht, rät der Künstler seinen Gästen. „Trinkt nie durcheinander!“

Auch die tuschetischen Hirten haben ihre eigenen Überzeugungen. Als Georgien im 4. Jahrhundert mit Waffengewalt christianisiert wurde, flüchteten sie mit ihren Herden in die abgelegenen Bergregionen des Kaukasus und opferten hier oben weiter ihren Naturgöttern. Zum Christentum wechselten viele erst im 9. Jahrhundert. Doch zudem praktizieren sie bis heute ihre ursprüngliche Religion. An vielen Orten bringen sie ihren Göttern an Kultstätten in freier Natur – häufig einfachen Steinkreisen – Tieropfer dar. Im Sommer kommen zu den religiösen Festen auch viele Tuschen, die sonst in der Hauptstadt leben, in die Heimatdörfer.

Als sich die Herde spät nachmittags dem Bergdorf Omalo nähert, verdunkeln Wolken den Himmel. Die Abenteurer aus dem Westen genießen in einer Schiefersteinhütte bei Kerzenschein ein weiteres Festmahl. Da prasselt kräftiger Regen los. „Jetzt kommen die Wölfe und Braunbären näher“, sagt Otari ernst. „Wenn es regnet, können die Hirtenhunde sie weniger leicht erschnuppern.“ In der Nacht ist dann mehrfach beunruhigendes Geheul zu vernehmen. Wölfe? Die Hunde bellen.

Schneesturm: Urlauber entspannen sich in warmem Heilwasser

Kein Tier wird gerissen – aber am nächsten Morgen schüttet es noch immer. Und es geht nun steil bergan. Tausend Höhenmeter sind es noch bis zum Abano-Pass. Die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, kämpfen sich die Westler gemeinsam mit Otari, den Hirten und Tieren den Hang hinauf. Die meisten haben sich Hirtenstäbe geschnitzt. „Ho!“, rufen sie tapfer. Einer darf sogar für ein paar Minuten die Packpferde führen. Der Regen wird zu Schnee. Immer dichter fallen die Flocken. Wind kommt auf.

Zwei Gestalten zeichnen sich durch den Schneesturm ab. Hoch zu Ross treiben die beiden Männer Dutzende Rinder vor sich her. Auf einem Hochplateau wird es eng. Die Tiere der beiden Herden laufen aufgeregt blökend und muhend durcheinander. Ein Bulle versucht, im Laufen eine Kuh zu decken. Sie schüttelt ihn ab, er stürzt mit voller Wucht auf ein paar Schafe. Die Tiere blöken laut vor Schmerz, der verhinderte Samenspender rappelt sich wieder hoch. Elisbar flucht und dirigiert seine Leitziegen mit Stockhieben von den Rindern weg.

Bei einem der Hobbyhirten löst sich sich nun die Sohle eines Bergstiefels. Andere sind durchgefroren. Doch das Ziel ist nicht mehr weit. Otari und seine Gäste werden abgeholt. Auf dem nächsten Bergrücken warten Fahrer, die sie in Geländewagen bis zu den heißen Quellen am Fuße des Kaukasus chauffieren. Dort entspannen sich die erschöpften Urlauber bald darauf in 35 Grad warmem Heilwasser, während die wahren Hirten ihre Schafe weiter durch den Schneesturm treiben.

In der Abenddämmerung erreichen die Abenteurer schließlich die Weinregion Kachetien mit ihren Hügeln und kleinen Winzerbetrieben. Endpunkt der Reise. Hier wird der Wein aus Kristallgläsern getrunken, nicht aus Tassen, Wassergläsern oder ausgehöhlten Schafshörnern, wie im Gebirge. Otari schenkt sein Glas randvoll mit Tschatscha, trinkt es in einem Zug aus, schnappt sich ein Brotmesser und führt einen georgischen Schwerttanz auf. „Otto!“, ruft einer der Urlauber, als der Applaus verklingt, „Du sollst nicht 100 Jahre alt werden – sondern mindestens 300!“ Otari verbeugt sich: „Gaumatschos.“

Zur Startseite