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Kent

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Kent und Co.: Wo England perlt und prickelt

Hübsche Städtchen und alte Burgen gibt es in Kent. Aber auch zahlreiche Weingüter. Die haben sich längst einen Namen gemacht. Sogar in Frankreich.

Blau-weiß geringeltes Bretonenhemd, sportliche Figur, gepflegter weißer Bart: So stellt man sich einen französischen Segler vor. Nur, dass das Wasser hier ausschließlich von oben kommt. Es regnet, nein, schüttet, der Himmel hängt tief, durch Pfützen, die eher Seen sind, führt der durchlöcherte Feldweg langsam ans Ziel: So stellt man sich England vor. Grün, so weit das Auge reicht, Wiesen, Weiden, Bäume – Rebstöcke.

Breaky Bottom, so heißt der Hof von Peter Hall, der hinter den Hügeln ganz einsam in einem flachen Tal liegt, ein von Hecken geschützter winziger vineyard, der tatsächlich mehr Garten als Weingut ist. 1974 hat der studierte Landwirt hier, in den Sussex Downs, mit dem Anbau von Wein begonnen – als ihm die Viehzucht alleine zu wenig und der Anbau von Erdbeeren zu langweilig war. Als Sohn einer französisch-italienischen Mutter war der heute 64-Jährige mit Wein groß geworden, der stand auch für die Kleinen mittags und abends auf dem Londoner Tisch. Und so wurde Hall einer der Pioniere des englischen Weinbaus.

Sicher, die Römer hatten schon vor Ewigkeiten in Angelsachsen Weinbau betrieben, aber dann passierte jahrhundertelang gar nichts. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg belebte ein englischer Offizier im Ruhestand die Tradition erneut, inzwischen gibt es mehr als 300 Güter, Tendenz: rapide steigend und expandierend. Immer mehr Farmer im südlichen „Obstgarten Englands“ mit seinem milden Klima und fruchtbaren Boden steigen auf Trauben um. Denn selbst wenn man es der idyllischen Landschaft nicht ansieht: Auch hier steckt die Landwirtschaft in einer tiefen Krise.

Kleine gemischte Farmbetriebe, Vieh, Gemüse und Getreide, wie Peter Hall sie vom Hof seiner Großmutter kannte („a wonderful wonderful wonderful place“), gibt es kaum noch. BSE, der Verfall der Preise … Kent zum Beispiel war berühmt für seinen Hopfen. Heute wird der viel billiger importiert, die charakteristischen Hopfenhäuser mit ihren Türmen wie Zipfelmützen, in denen die Ernte getrocknet wurde, werden zu attraktiven Wohnhäusern umgebaut – Immobilien im Speckgürtel von London sind äußerst lukrativ.

Längst sind die Weingüter eine weitere Touristenattraktion in einer an Sehenswürdigkeiten nicht eben armen, landschaftlich auf sanfte Weise reizvollen Gegend, die sich bestens für lange Wanderungen eignet. Der National Trust unterhält viele Häuser und Gärten hier unten, darunter die von Virginia Woolf, Winston Churchill, Rudyard Kipling ( „Dschungelbuch“); es gibt hübsche Städtchen wie Canterbury, Rye oder Bibbenden. Dort liegen Bibbenden Vineyards, die sich geschickt vermarkten; hier wird schon mal eine ganze Busladung voller Gäste mit Vespertellern verköstigt, im Farmshop läuft das Geschäft bestens. Besonders beliebt sind Cider und Apfelsaft, die gerade einen ähnlichen Boom erleben wie der einheimische Wein. Und in Bibbenden hilft bereits die dritte Generation mit.

Zwischen Apfelbäumen, Weiden und Reben liegt auch Glyndebourne, das Bayreuth Englands, das für seine Picknicks so berühmt ist wie für seine Operninszenierungen. Da fließt der Champagner in Strömen. Jetzt auch der made in England.

Die Welt steht kopf, nichts ist mehr, wie es mal war. Die Berliner sonnen sich am Strand der Spree, die Engländer lernen kochen und trinken kühlen Champagner anstelle von warmem Bier. Eine gerade veröffentlichte (französische) Umfrage ergab, dass 54 Prozent der befragten britischen Männer ein Bier nur noch gegen den ersten Durst trinken, dann aber schnell zu Wein übergehen – selbst im Pub, wo die Auswahl an Weinen besser sei als die der Biersorten. Und 72 Prozent fanden, dass Wein geselliger sei.

Der stark angestiegene Champagner-Konsum scheint nicht zuletzt an der neben Immobilienmarkt und sportlichen Wettkämpfen dritten Obsession der Briten zu liegen: dem Heiraten. Am Wochenende wird in jedem einigermaßen schönen Hotel in Kent mindestens eine große Hochzeit pro Abend gefeiert. Und dazu sucht man sich halt Champagner aus, auch wenn er nicht so heißen darf – zum Beispiel auf einem Weingut wie Chapel Down, das seinen Bedarf an Trauben zum großen Teil mit der Ernte anderer Farmer deckt. Wer will, kann hier gleich zwischen den Reben heiraten: Das Weingut hat eine Lizenz dazu sowie Räume für die anschließende Feier. Wer nicht gleich heiraten will, kann im Bistro zu Mittag essen und Bacchus oder sparkling wine verkosten.

Dass sie ihn nicht Champagner nennen dürfen (eine regional geschützte Bezeichnung), ärgert die Briten schon. Schließlich haben sie ihn doch erfunden! Die Geschichte erzählen die englischen Winzer nur allzu gern: 20 Jahre bevor der französische Mönch Dom Pérignon mit der Champagnerproduktion begann, erklärte Christopher Merret der Royal Society, wie man Schaumwein zum Schäumen bringen kann. Und die Engländer hatten nicht nur das Know-how, sondern auch das stabilere Glas, so dass die Flaschen nicht reihenweise platzten unter dem Druck der prickelnden Bläschen.

„Merret“, so nennt denn auch Mike Roberts von Ridgeview seinen vielfach, auch bei Blindweinverkostungen in Frankreich preisgekrönten sparkling wine, hergestellt nach der méthode traditionelle. Die Queen hat damit auf ihren 80. angestoßen. Der Süden Englands liegt nur 100 Kilometer nördlich von der Champagne, die unter dem Klimawandel durchaus zu leiden hat – im heißen Sommer 2003 schrumpften die Trauben dort zu Rosinen, während es diesseits des Kanals immer noch sonnig, aber nur 35 Grad warm war –, der Kalkboden ist hier wie dort der gleiche. Aber auch wenn in Großbritannien sonst alles exorbitant teuer ist: Das Farmland kostet in Südengland nur ein Zehntel von dem, was man in der Champagne dafür zahlt. Weswegen sich angeblich schon französische Winzer in Kent und Sussex umgucken.

Die Preise für den Schaumwein sind allerdings die gleichen. Bei 19 Pfund (27 Euro) fängt Roberts’ Merret an, die Preise klettern schnell auf 25 Pfund (36 Euro). Das scheint die Kunden nicht zu schrecken. Ridgeview ist neben Nyetimber die führende Kellerei für sparkling wine, trotz der Expansion kann Mike Roberts gar nicht so viel produzieren, wie er verkaufen könnte. Nur eine Flasche pro Person dürfen Besucher des Weinguts erstehen. Denn: „I have to keep the trade happy.“ Die beiden wichtigsten Handelspartner, Waitroses, die kleine feine Supermarktkette, die verschiedene englische Weine verkauft, und der „Sunday Times“-Weinclub, brauchen Stoff für ihre Kunden. Dessen Präsident, Hugh Johnson, gehört schließlich zu den Fans von Ridgeview: So gut wie Champagner, findet der Papst unter den Weinkritikern.

Selbst Kollegen, die den einheimischen Produkten ausgesprochen skeptisch gegenüberstehen wie der rabiate Kritiker Malcolm Gluck („spricht sich wie fuck“, erklärt er Unwissenden), gesteht den Schaumweinen Qualität zu. Bei den Weinen wird es schwieriger, da ist das Qualitätsgefälle sehr viel größer. Die Roten sind bisher eher von akademisch-experimentellem Interesse, bei den Weißen sind einige überraschend voll und fruchtig, viele aber einfach nur teuer und trotzdem ziemlich flach – „wie deutscher Wein in den 70er Jahren“, meint ein Journalist.

Der Vergleich kommt nicht von ungefähr. Deutsche Trauben sind hier sehr beliebt, Bacchus, Scheurebe, Reichensteiner. Was wohl auch daran liegt, dass viele Briten in Geisenheim studiert haben. Inzwischen findet ein Wechsel zu französischen Trauben statt, die als schicker, auch seriöser gelten; aber deutsche Professoren und Absolventen aus Geisenheim sind als Berater und Mitarbeiter weiter in England tätig. Denn neben dem Klimawandel und den veränderten Trinkgewohnheiten hat auch die Züchtung neuer, schnell reifender, schädlingsresistenter Trauben zum wachsenden Erfolg und zur Verbesserung des Geschmacks beigetragen.

Und die Zeit: die Zeit, die die Reben zum Reifen brauchen und die Winzer, um Erfahrungen zu sammeln. In Ridgeview ist die nächste Generation schon mit dem Weinbau aufgewachsen: Mike Roberts’ Sohn Simon justiert gerade die brandneuen riesigen Stahlfässer aus Frankreich, seine Frau Mardi, die er bei einem Praktikum in Australien kennenlernte, macht das Marketing, Simons Schwester Tamara ist zuständig fürs Management.

Wie die meisten Kollegen seiner Generation ist der Vater Quereinsteiger. Der Geschäftsmann hatte zuletzt eine große Computerfirma mit 450 Angestellten, die er lukrativ verkaufen konnte, und fing 1994 mit seiner Frau Christine mit dem Weinbau an. Auch wenn er aussieht wie ein Country Gentleman: Der freundliche, wuchtige Herr ist Businessman geblieben: Er will Gewinn machen. Deswegen produziert er ausschließlich Merret, mit denselben Trauben wie in der Champagne: Pinot Noir, Chardonnay, Pinot Meunier.

Peter Hall ist mit Roberts befreundet, denn dieser, ausgestattet mit der neuesten Champagnertechnik aus Frankreich, übernimmt die letzten Produktionsschritte des Schaumweins von Breaky Bottom. Deren Ernte ist in ein, zwei Wochenenden erledigt, Familie und Freunde helfen dabei, ihr Lohn ist ein guter Lammbraten zum Lunch. Peter Hall macht keinen Urlaub und kein Wochenende, zum Angeln kommt er selten, das Reisen reizt ihn nicht – der Winzer lässt die Kunden lieber zu sich kommen. Und sie kommen. Die Hälfte der Produktion, auch Cassis, verkauft der passionierte Whiskeytrinker direkt auf dem abgelegenen Hof, den Rest an Händler und Restaurants; seine Weine gewinnen regelmäßig Preise, die Kritiker feiern ihn. Einer von ihnen ist Stuart Pigott, der in Berlin ansässige englische Kritiker, der Halls „Seyval Blanc“ in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ lobte: eben kein Allerweltswein, sondern etwas ganz Eigenes, mit „Aromen von feuchtem Laub bis Strandluft, von gekochtem Spinat bis Muskatnuss“.

Dieses Jahr ist kein gutes Jahr gewesen, wettermäßig so traurig wie fast überall, viel Regen und wenig Sonnenschein, und dass es nicht besser wird, hat Hall seit Wimbledon gewusst. Das Tennismatch ist der Siebenschläfer der englischen Winzer, „wenn die Leute in Wimbledon die ganze Zeit Regenschirme aufspannen, weiß man, dass es schlecht wird“.

Hall ist Kummer gewohnt. In den letzten Jahren ist er fünf Mal überflutet worden, beim letzten Mal war es so schlimm, dass er zweieinhalb Jahre mit seiner Frau im Campingwagen wohnen musste. Was nicht am schlechten englischen Wetter lag, das sehr viel besser ist als sein Ruf, sondern an den neuen Pflanzungen des benachbarten Farmers. Aber aufgeben – nein, das würde der Brite nicht.

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