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Versteckt. Skulpturen von Jürgen Goertz sind am Kurpark von Bad Pyrmont aufgestellt. Das Kind auf der Weltkugel hält - so Lästermäuler - den Kurschatten hinter seinem Rücken.

© picture-alliance/ dpa

Kurschatten: Heitere Ausschweifungen

Bade-Bekanntschaften: Warum der Kurschatten nie aus der Mode kommen wird.

Kaum jemand, der heute eine mehrwöchige stationäre Heilbehandlung antritt, hört nicht schon im Vorfeld die süffisanten Ratschläge von Bekannten oder Freunden, sich aber „bloß keinen Kurschatten anzulachen“. Zurückbleibende Lebensgefährten machen darüber schon deutlich seltener Witze. Zwar heißen die Kuraufenthalte inzwischen recht schnöde „ambulante und stationäre Vorsorge-“ oder auch „Rehabilitationsmaßnahme“. Doch sind die Kurschatten-Witze bislang nicht von solchen über „Reha-Schatten“ abgelöst worden. Und auch die Verlockung während der Auszeit vom Alltag, unter den Mitpatienten nach einem Flirt Ausschau zu halten, ist im Wesentlichen gleich geblieben. Die Liebe fällt auch während eines Kuraufenthalts, wohin sie will. Und manchmal darf sie dort auch liegenbleiben.

Der Kurschatten - schon im Mittelalter eine beliebte Abwechslung

Der Ruf des Kurschattens sei „legendär, er hat Einsamen den Aufenthalt versüßt, er ist der Grund für Witze, Dichter haben über ihn geschrieben und Künstler ihn verewigt, er hat Ehen gestiftet, aber auch zerstört, alle reden über ihn, doch kaum einer gibt zu, ihn gekannt zu haben“. So ist dem Text über eine mobile Ausstellung zum Thema „Kurschatten“ zu entnehmen, die das Bad Schwalbacher Kur-, Stadt- und Apothekenmuseum seit 2006 anbietet. Konzipiert hat das Lehrstück auf Stellwänden und Litfaßsäulen die Museumsleiterin Martina Bleymehl- Eiler gemeinsam mit fünf Mainzer Studenten. Seitdem tourt es durch Deutschland und ist noch bis Ende Oktober in Bad Salzuflen zu sehen – in der Wandelhalle des Kurparks, für eine Wanderausstellung wohl der ideale Ort.

Der unterhaltsame Ausflug durch die Geschichte der Kurbekanntschaften beginnt im Mittelalter, „einer Zeit, in der es in den Badeorten gesellig und zwanglos zuging“, wie die promovierte Historikerin Bleymehl-Eiler sagt. „Mit einem heiter-ausschweifenden Bad nahm sich mancher Badegast eine Auszeit von der Ehe.“ In den folgenden Jahrhunderten habe sich die „Kluft zwischen heimlicher Begierde und dem, was die Öffentlichkeit moralisch duldete“, allerdings vertieft. Im 19. Jahrhundert schließlich wurden die Bade-Bekanntschaften verschwiegen, so gut es eben ging. Geändert an den Kurschattenspielen hat sich seither aber wenig.

Mitte des 20. Jahrhunderts gab es in Kurbädern Benimmratgeber

„Kurbekanntschaften gibt es, seit es Badeorte gibt“, sagt Martina Bleymehl-Eiler. „Man verbringt Zeit zusammen, und Gelegenheit macht Liebe.“ Eines aber ist nicht mehr wie früher: „Vor fünfzig oder sechzig Jahren flanierten Kurgäste gerne in feiner Kleidung durch den Kurpark und saßen abends geschniegelt und gebügelt beim Kurkonzert.“ Verglichen mit diesem Aufwand, sich schön herauszuputzen, ist die zur Schau getragene Mode heutiger Reha-Patienten schon eine etwas andere, lässigere, um es einmal milde zu formulieren.

Doch auch Mitte des 20. Jahrhunderts gab es in Kurbädern durchaus Ratgeber, die – bisweilen in Reimen – vorgaben, „wie die Leute sich während einer Kur zu benehmen hatten“, merkt die Bad Schwalbacher Museumsleiterin an. Die Richtlinien erinnerten auch daran, „dass man die Folgen des Flirtens mit anderen Kurgästen für die zu Hause wartende Familie bedenken sollte“.

Als umgangssprachlicher Begriff kam der Kurschatten „erst in den 1950er und 1960er Jahren so richtig in Mode, nachdem jeder Bundesbürger ein Anrecht auf eine vorbeugende Kur zur Erhaltung der Gesundheit erworben hatte“, sagt Martina Bleymehl-Eiler. Ab 1957, als die Gesetze zur Rentenreform in Kraft traten, habe es deshalb „plötzlich sehr viele Kurgäste gegeben“.

Kurgast droht mit Anreise

Die Rentenversicherungsträger waren von da an verpflichtet, die vorbeugende und erhaltende Gesundheitspflege zu forcieren, die Rehabilitation Kranker und Unfallgeschädigter ohnehin. Die Kur war nicht länger mehr bloß etwas für Wohlhabende und Reiche. „Da haben viele Tausende von Bundesbürgern die Kurorte geflutet, und es gab den bösen Spruch: ,Kurgast droht mit Anreise‘.“ Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ sprach 1967, also zehn Jahre später, vom „Massenkurismus“. Nur etwa jeder zehnte Antrag auf eine Kur wurde damals abgelehnt. Unter den Kurgästen „betrachteten viele die Kur als zweiten Urlaub und amüsierten sich entsprechend“, sagt Bleymehl-Eiler. „So mancher, der ohne Familie in der Kur war, wollte da etwas nachholen.“ Auch der etwas später geprägte und bis heute bekannte Begriff „Kurlaub“ deutet auf die Nähe von Ferien und Kur hin.

Einen Kurschatten gehabt zu haben, gibt allerdings kaum jemand freiwillig zu. „Fragt man im Bekannten- und Freundeskreis oder auch unter Kurgästen nach, so erntet man höchstens ein süffisantes Lachen“, hat Bleymehl-Eiler bei ihrer Recherche für die Ausstellung erfahren. „Es gibt höchstens Erzählungen aus dritter und vierter Hand, selbst wenn man zusichert, keine Namen zu nennen; das war für uns sehr unbefriedigend.“ Auch von den Leitern der Kur- und Reha-Kliniken sei „nichts zu erfahren, auch nicht auf schriftliche Anfrage. Es hieß dann oft, das sei in der betreffenden Klinik kein Thema.“ Erkundigt man sich selbst bei Chefärzten von psychosomatischen Kliniken nach dem Kurschatten-Phänomen, kann es passieren, das die Antwort eines ansonsten auskunftsfreudigen Klinikleiters so lautet: „Bitte nicht böse sein, aber zu diesem Thema möchte ich bei meinen vielen Verpflichtungen aktuell nicht zur Verfügung stehen.“

Viele Kurorte arbeiten inzwischen defizitär

Insbesondere in psychosomatischen oder psychotherapeutischen Fachkliniken ist die Wahrscheinlichkeit recht groß, dass zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts einander neu entdecken. Während eines Klinikaufenthalts bieten sich vielfältige Chancen, die Aufmerksamkeit des anderen auf sich zu lenken: Man verbringt gemeinsame Zeit bei Therapien, beim Warten auf Ärzte, bei den Mahlzeiten und auch beim Sport. Beide Beteiligten einer möglichen Liaison sind herausgelöst aus den Zwängen des Alltags, womöglich auch entspannter als zu Hause, und sie sind offener für die Begegnung mit anderen Menschen.  

Inzwischen, im Jahr 2014, arbeiten viele Kurorte defizitär; es fehlen Gäste, weil die Kassen seltener Kuren bewilligen. „In der neuen Sozialgesetzgebung wird der Begriff Kur nicht mehr verwendet“, heißt es beim Deutschen Heilbäderverband. Die Wende kam im Jahr 2000 mit einer umfassenden Gesundheitsreform. Bei der ambulanten Vorsorge (früher oft Badekur genannt) übernimmt die Krankenkasse die Kosten der Behandlung durch den Badearzt komplett und zu 90 Prozent die Ausgaben für Kurmittel („Anwendungen“); sie zahlt hingegen nur einen recht geringen Zuschuss zur Unterkunft, nämlich in der Regel höchsten 13 Euro pro Nacht. Der moderne Kurgast muss also einen Teil der Kosten seines Aufenthalts selbst tragen.

Die Kurorte und Heilbäder zielen deshalb inzwischen verstärkt auf Selbstzahler unter potenziellen Kurgästen. Auf den Kurschatten ist sozusagen ein Schatten gefallen, aber er regt sich noch, da Menschen ihn werfen, und diese werden sich in ihren allzu menschlichen Bedürfnissen und Gelüsten wohl immer gleich bleiben.

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