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Reise: Lehre beim Specht

Erfolgsprojekt in Thüringen: Deutschlands spannendste Vogelschutzwarte wird hundert Jahre alt

In der alten Vitrine, jenseits des handgeblasenen Glases, räubert eine Elster das Nest einer Amsel aus. Das Gelege daneben wird Opfer einer Krähe. „Rabenkrähe beim Eierplündern“ verrät die alte Schrift auf einem Zettel. Im nächsten Schaukasten ist das Licht heller, die Eier sind unversehrt. Hier sind die Singvögel zu Hause.

Die Staatliche Vogelschutzwarte Seebach liegt direkt am thüringischen Nationalpark Hainich und damit ziemlich genau in der Mitte Deutschlands. Es ist vermutlich die spannendste Vogelschutzwarte der Republik und Keimzelle der neun anderen Warten hierzulande. Im April feiert sie ihren 100. Geburtstag.

„Die historische Ausstellung zeigt, wie man die Vögel noch bis vor 40 Jahren unterschieden hat“, erklärt Stefan Jähne. Der Forstwissenschaftler leitet die Warte. Als nützliche Helfer galten Vögel, die Insekten fressen und so Bäume und Getreide schützen. Schädlinge waren zum Beispiel Spatzen, denn sie stibitzten den Bauern die Saat. Diese Unterteilung geht auf Hans Freiherr von Berlepsch zurück. Er war der Gründer der Warte und gilt als Wegbereiter des Vogelschutzes in Deutschland. Zur Begründung der Unterscheidung in „gut“ und „schlecht“ heißt es in seinem Standardwerk „Der gesamte Vogelschutz“: „…(durch den) Vogelschutz (…) werden die den Menschen nützlichen, ja direkt nötigen Vögel geschützt und vermehrt. Er ist die natürliche Schädlingsbekämpfung, und zwar die einzige wirklich erfolgreiche.“

Ganz unrecht hatte der Freiherr nicht, wie zwei große Insektenplagen 1905 und 1921 beweisen. „Damals wurden die Laubholzbestände in einem großen Waldgebiet nahe der Warte zwischen Eisenach und Mühlhausen fast komplett kahl gefressen“, erzählt Jähne, „nur die Waldabschnitte, in denen man zuvor 2000 Nistkästen aufgehängt hatte, blieben verschont.“

Berlepsch wurde wegen dieser Nistkästen schon zu Lebzeiten berühmt. Nach dem Vorbild einer echten Spechthöhle ließ er sich seine Erfindung, die „Berlepsche Nisthöhle“ patentieren. Besonders unter Bauern und Förstern entwickelte sich die Höhle zum Verkaufsschlager, Anfang des 20. Jahrhunderts gingen jährlich 50 000 Stück über den Ladentisch. Haltbar war sie auch: „Neulich waren Besucher aus Freiburg hier“, so Jähne, „im dortigen Schlosspark hängen immer noch intakte Nisthöhlen aus der Berlepschen Produktion.“ Auch für die Freibrüter ließ sich Berlepsch etwas einfallen: Nistbüsche. Büsche, deren Äste zusammengebunden werden. Dort, wo sie sich kreuzen, nisten Vögel gerne.

Sowohl in der alten Wasserburg, in der die Vogelwarte untergebracht ist, als auch im angeschlossenen Park begegnet man den Spuren des Ornithologen auf Schritt und Tritt. Berlepsch hielt sich bei der Gestaltung der Gartenanlage streng an die Bedürfnisse der Vögel. Bis heute sind dort eine Vielzahl beerentragende Sträucher, Nistbüsche und Nisthöhlen zu sehen. Im Innern der Burg sind selbst Deckenleuchter und Türklopfer mit Sittichen verziert, dem Wappenvogel der Familie Berlepsch.

Das Thema Vögel beherrscht auch die alten Eichenregale der Bibliothek im zweiten Stock. Viele Regalmeter Zeitschriften und Monografien spiegeln den Forschungsstand des 19. und 20. Jahrhunderts. Darunter Schriften, die das Herz eines jeden Vogelliebhabers höher schlagen lassen, etwa Naumanns 1844 erschienene „Naturgeschichte der Vögel Deutschlands“.

Über die Arbeitsschwerpunkte der Warte selbst gibt die Bibliothek ebenfalls Auskunft: Ab 1929 wurde in Seebach intensiv untersucht, welche Vogelscheuchen Stare am zuverlässigsten von Obstgehölzen fernhalten. Auch die heute auf dem Dachboden lagernden Vogelfallen wurden in Studien akribisch geprüft. In den 1950er und 1960er Jahren führte man über drastischere Maßnahmen penibel Buch: Strychnin-Weizen für den Haussperling, Wofatox für die Krähen. Im Jahrzehnt darauf erhielt die Warte einen Auftrag der DDR-Fluggesellschaft Interflug. Die Forscher sollten helfen, die Kollisionsgefahr von Flugzeugen und Vögeln auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld zu verringern.

Um die Erträge in der Landwirtschaft zu steigern, testeten die Seebacher zunehmend die Auswirkungen chemischer Pflanzenschutzmittel. Dafür wurde eine Kolonie von Japanwachteln gezüchtet. Rund 300 Wirkstoffe wurden an den Tieren auf ihre Giftigkeit untersucht. Jähne: „Eine traurige Phase unserer Geschichte.“

Nach der Wende wurde aus der zur DDR-Zeit in „Institut für Pflanzenschutzforschung“ umbenannten Einrichtung wieder die „Staatliche Vogelschutzwarte“. Aufgabe der Mitarbeiter heute ist es, Bauern, Forstleute und alle anderen Interessierten über Vögel zu informieren. Etwa darüber, ob Windkrafträder Vögeln schaden. Jähnes Meinung ist eindeutig: „Rund 100 der seltenen Rotmilane hat es in den vergangenen drei Jahren bundesweit deswegen nachweislich erwischt.“ Greife, die verendeten, weil sie wegen der Windräder ihre Biotope nicht mehr zum Fressen oder Brüten aufsuchten, sind in dieser Statistik nicht enthalten.

Jähne und seine Mitarbeiter führen regelmäßig Besucher durch die Burg und das darum liegende Gelände. Zu sehen bekommen die Gäste dann die Volieren im Burgpark. Darin warten Dutzende Eulen, Milane und Bussarde auf ihre Genesung, um dann – meist frisch beringt – in die Freiheit entlassen zu werden. Die Pflege seltener, kranker Vögel ist die zweite wichtige Aufgabe der Warte. Auf diese Weise haben zwei Schwarzstörche am Karpfenteich des Parks eine neue Heimat gefunden.

Für viele Besucher interessant ist die rund hundert Jahre alte Eiersammlung im ersten Stock: In Watte gepackt und gewissenhaft beschriftet enthalten die Holzkästen rund 3000 Eier von über 400 Vogelarten. Der heute in Thüringen ausgestorbene Kaiseradler ist ebenso vertreten wie der afrikanische Strauß.

Anhand der Sammlung erfahren nicht nur Kinder, dass kleine Eier meist zu Nesthockern gehören, die nach dem Schlüpfen noch lange von ihren Eltern gefüttert werden. Die Eier von Nestflüchtern sind dagegen meist groß, denn die Tiere müssen sich im Ei vergleichsweise weit entwickeln, weil sie nach dem Schlüpfen das Nest schnell verlassen.

In Zukunft setzt Jähne auf mehr Beobachtung: „ Nur wenn wir mehr über die Verhaltensweisen bedrohter Tiere wissen, können wir sie wirklich schützen.“ Etwa seinen Lieblingsvogel, den Rotmilan. In nennenswerten Beständen kommt der eigentlich nur noch in Deutschland vor: „Da haben wir eine weltweite Verantwortung.“

Jens Kuhr

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