zum Hauptinhalt
Ligurien

© Mauritius Images

Ligurien: Trüffel als Treibstoff

Wer im menschenleeren Hinterland von Ligurien wandert, braucht Kondition. Doch die Köstlichkeiten der Trattorien entschädigen für alle Mühen.

Vielleicht noch etwas Treibstoff tanken, ehe der Körper am nächsten Morgen so richtig auf Touren kommen muss? Bitte sehr: Vitello tonnato mit Trüffel, Kaninchenpastete, Panzotti mit Waldpilzen, Wildschweinragout mit Polenta, und zum Abschluss eine kleine Panna Cotta mit Honigkrokant! „Aber hallo, amici“, entfährt es da dem Mitwanderer. Mit diesem Menü hat das Ristorante Lorenzina in Colle di Nava die Messlatte schon mal verdammt hoch gelegt für die Albergi und Trattorien entlang der Alta Via.

Mit einem milden Lächeln auf den Lippen, in Erinnerung an herb-würzige Fleischbrocken und sahnig aufgeschlagenen Maismehlbrei, verläuft der Anstieg zur Alta Via wie von selbst. Vor rund 20 Jahren entwickelte die Region Ligurien im Hinterland der italienischen Riviera zwischen La Spezia und Ventimiglia einen 440 Kilometer langen Fernwanderweg von der französischen Grenze bis an die Toskana: die Alta Via dei Monti Liguri. Da der Weg allerdings fast immer über Bergkämme führt, streift er nur wenige Ortschaften, bietet nahezu keine Übernachtungsmöglichkeiten. Diese Nachteile sucht eine von dem deutschen Reisefotografen Georg Henke ausbaldowerte Variante zu vermeiden, die für wenig Geld aus dem Internet zu laden ist: Alle Tagesetappen enden an Dörfern oder Hotels – ideal für Wanderer, die lieber ohne Zelt und Schlafsack unterwegs sind und, vielleicht noch wichtiger, abends gern einen kulinarischen Kontrapunkt zur Askese des Tages setzen. Henkes Streckenführung wird die Leitschnur der nächsten vier Tage von Colle di Nava nach Ventimiglia sein.

Abwechslungsreich ist die Landschaft, und vielfältig präsentiert sich auch das Wetter während dieser Zeit. Manchmal bescheint eine blanke Sonne alte Forts und verlassene Dörfer wie Tetti dei Cancelli auf 1400 Meter Höhe. Dachsparren ragen aus Mauern, die einfach nicht zerfallen wollen, in überwucherten Gärten schält sich von uralten Kirschbäumen schwarz-rissig die Borke, es riecht nach Wermut, Thymian und Pfefferminz.

Dann wieder verwandeln heftige Güsse alte Maultierpfade in Rutschbahnen. Über diese Wege, die senkrecht von der Küste ins Landesinnere führen, tauschten die Menschen Salz, Fisch und Öl gegen Getreide und Holz. So wie einst die Ochsen an den Fuhrwerken schufteten, mühen sich jetzt die Wanderer: geduckt, nur ab und zu die schwersten Lehmklumpen von den Füßen stampfend. „Beine wie zerfließende Panna Cotta“, meldet der Mitwanderer genervt. Klarer Vorteil für Hosen mit abnehmbaren Beinen gegenüber Jeans, die im Dreck zu Blei erstarren.

Der Tag endet im Nebel, auf dem Pass von San Bernardo di Mendatica. Vage tauchen aus der grauen Suppe die Schemen verschlossener Sommerhäuser auf, daneben die rostigen Reste einer schon lange nicht mehr betriebenen Restaurantterrasse. Fast scheint es wie ein Wunder, als im Hotel auf das Klingeln hin die Wirtin öffnet. Sie und ihr Mann sind die einzigen Bewohner hier oben.

Irgendwo da draußen in Italien herrscht jetzt Sommer. Hier drin ist es kühl an der Bar, kalt im großen, leeren Speisesaal. Regen trommelt an die verschlossenen Läden. Man erwartet, dass jeden Augenblick ein Wahnsinniger mit Hackebeil aus der Küche stürmt – aber es ist dann doch nur der etwas eigenwillige Padrone. Und es geht tatsächlich so etwas wie eine Sonne auf, als er sich endlich bequemt, die Speisenfolge bekannt zu geben: Tarte aus Käse, Gemüse und Pilzen, Gnocchi mit Gorgonzolasoße, Wildschweinragout mit Kartoffelspalten. Und Panna Cotta mit Aprikosenkuchen.

Auf dem Weg hinauf zum 2200-Meter-Gipfel des Monte Saccarello lodern die Fackeln des gelben Enzians, es drohen die zackigen Hellebarden violetter Disteln, Saxifraga hängt in weißen Trauben vom Fels – jedes Tal, jeder Hang in Ligurien bietet eine neue Zusammenstellung an Bergblumen. Bläuling und Zitronenfalter setzen azurfarbene und blassgelbe Tupfer, und die spitzen Pfiffe der Murmeltiere liefern die akustische Untermalung.

Stufe um Stufe, Mauer um Mauer haben die Bergbauern den steilen Hängen oft von ganz unten bis ganz nach oben Land abgerungen, fruchtbaren Boden für Getreide, Kartoffeln, ein paar Obstbäume. Dazwischen scharen sich auf einem Felssporn Häuser zu einem Dorf zusammen, einem jener Dörfer, in denen seit Jahrzehnten kein neues Gebäude mehr errichtet wurde, Dörfer wie Realdo im Valle Argentina etwa. Um 1900, sagt der 77-jährige Guiseppe Lanteri-Motin, der gerade des Weges kommt, lebten hier 700 Menschen. Heute sind es noch sechs.

Giampero Borgna, ehemaliger Blumenzüchter, der zum Naturführer umgeschult hat, bringt die Wanderer in seinem Jeep nach Triora hinunter. Auch Triora ist eine Kleinstadt, aus deren Mauern die Zeit wispert: Hier war man mal wer! Anders als den meisten seiner Nachbarn in den Bergen ist es Triora jedoch gelungen, wenigstens einen Fuß in die Gegenwart zu setzen. Fels und Grün greifen noch ineinander, doch in dem Labyrinth aus Durchbrüchen, Aufgängen, überwölbten Treppenwegen, brombeerüberwuchertem Mauerwerk und dem Bodenpflaster aus senkrecht eingesetzten Flusskieseln haben sich mittlerweile neben den rund 450 Einheimischen einige ausländische Künstler niedergelassen. Häuser sind für 35 000 Euro zu haben,

Bekannt wurde Triora durch Hexenverfolgungen Ende des 16. Jahrhunderts. 17 Frauen starben im Gefängnis, unter der Folter oder durch Feuer. Das ethnografische Museum beschäftigt sich blutig-anschaulich mit der Geschichte.

Der Spezialitätenladen bietet nicht nur Bruzzo (Gnocchi), einen scharfen Frischkäse und würzige Salamis, sondern auch „Hexenküsse“ und „Teufelseier“ aus Schokolade sowie den Hexenbesen für 3,50 Euro – billiger war Fliegen nie.

Hexen und derlei versetzen die Küche der „Goldenen Taube“ keineswegs in Nervosität, vielmehr wird aufgetischt: Vorspeisenbrett mit Sardinentorte, Salami und marinierten Pilzen, gefolgt vonRavioli mit Lavendel und Thymian; zum Kaninchen aus dem Topf ein unvergleichlich saftig-würziges Kartoffelgericht mit Zwiebeln in Öl – jetzt liegt die kulinarische Latte noch ein gutes Stück höher.

Der letzte Morgen ist eine einzige meteorologische Abbitte für die Verfehlungen der letzten Tage: blauer Himmel, klare Sonne, frische Luft. Weit geht der Blick über die grünen Hügelketten parallel zur Küste und die senkrecht eingeschnittenen Täler. Dahinter liegt Ventimiglia am Meer, selbst die Bugwellen zweier Schiffe sind als weiße Streifen zu erkennen: genau das richtige Wetter für den „Sentiero degli Alpini“.

Von 1936 bis 1938 haben Gebirgsjäger in unendlicher Mühe in die fast senkrechten Wände des Bergmassivs Monte Pietravecchia und Monte Toraggio einen Pfad gehauen, gebohrt und gesprengt, haben Stützmauern errichtet und Pfeiler gemauert. Wo einst Maulesel Munitionskisten schleppten, finden Wanderer heute eine kleine, feine Herausforderung. Hoch oben im grauen Fels zieht sich der Weg um einen breiten Talkessel, in dem sich mit Lärchen und Kiefern bestandene Hügel wellen. Einzelne Zinnen und Kanzeln ragen aus den Wänden, an besonders steilen Abbrüchen und Engstellen sichern Drahtseile. Dohlen schreien, gelbe Löwenmäulchen und weiße Rosen blühen in Felsspalten. Trotz aller landschaftlicher Dramatik ist es ein angenehmes, fast gemütliches Wandern – ein schönerer Abschluss dieser Tage wäre kaum denkbar. Ein Picknick mit Wildschweinsalami und Schafskäse hat den ersten Appetit gestillt, doch am späten Nachmittag sieht sich der Mitwanderer doch gezwungen, James Joyce zu zitieren: „Hungriger Mensch, wütender Mensch.“

Gemach, gemach. Nur noch wenige winzige Kilometer, ein paar klitzekleine Halbestündchen, dann ist es wieder so weit: Jener magische Moment steht bevor, in dem der Padrone aus der Küche tritt und feierlich, als erlasse er eine Proklamation, aufzuzählen beginnt: Süppchen aus Mangold und getrockneten Tomaten, Taglioni mit Artischocken, Lammbraten vom Grill mit Waldkräutern ...

Zur Startseite