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Liverpool

© AFP

Liverpool: An der Goldader

Erstaunliche Bauten, dynamische Kunst, tolerantes Miteinander: Liverpool ist würdige Kulturhauptstadt 2008.

In der Kirche kann man Telefonzellen kaufen. Sir Giles Gilbert Scott, heute vor allem berühmt für sein Londoner Kraftwerk, das zur Tate Modern umgebaut wurde, hat schließlich beide entworfen: die berühmte englische Telefonzelle und die anglikanische Kathedrale von Liverpool. Die so gigantisch ist, dass man sie erst mal füllen muss; so wurden unter anderem ein Café und ein großer Buch- und Souvenirshop eingebaut, in dem man die rote Telefonzelle als Spardose und Kaffeekanne kaufen kann.

Der Bau, am Rande von Englands ältester Chinatown gelegen, hat den Architekten viele Nerven gekostet hat. Mit gerade mal 22 hatte er ohne jede Erfahrung den Wettbewerb gewonnen. 1904 wurde der Grundstein gelegt, 1978 erst war die Cathedral Church of Christ fertig. Da war Sir Giles Gilbert Scott schon 18 Jahre tot.

Die Kathedrale ist die größte Großbritanniens – manche meinen, auch die hässlichste. Und es gibt kein Entrinnen. Wo man auch steht in Liverpool, tauchen die düsteren, auf einem Hügel am Rande der Innenstadt gelegenen Türme auf. Das vielleicht Romantischste an der neogotischen Kirche ist der verwunschene Friedhof nebenan. In dem haben sich Generationen von jungen Liverpudlians zugekifft.

Die Kirche liegt am Ende der Hope Street, einer der legendärsten, interessantesten, auch schönsten Straßen von Liverpool, das an diesem Wochenende sein Dasein als Kulturhauptstadt Europas offiziell einläutet. Eins der ersten Highlights wird die Uraufführung des Stücks „3 Sisters on Hope Street“ im Everyman Theatre sein: eine Neuinterpretation von Tschechows „Drei Schwestern“, in diesem Fall drei Jüdinnen im zerstörten Liverpool der Nachkriegszeit.

Die Hope Street ist eine Wohltat: fernab des Touristenrummels am River Mersey, fernab auch von den in Scharen anreisenden Briten, die in „Livercool“ Junggesellenabschied feiern oder sich einfach so volllaufen lassen – und doch nur ein paar Schritte von der Innenstadt und vom Bahnhof entfernt.

Liverpool ist eine verwundete Stadt. Der „Blitz“ der Deutschen hat keinen anderen englischen Ort außer London so verheerend getroffen. Die Gegend rund um die Hope Street aber blieb weitgehend verschont. Die Innenstadt wurde ohne Konzept wiederaufgebaut, als Sammelsurium von Scheußlichkeiten zwischen einzelnen denkmalgeschützten Gebäuden – man war froh, dass überhaupt jemand baute in der einst reichen Handelsstadt im steilen Niedergang.

Auch wenn man gerade dieses Durcheinander reizvoll finden kann: Ab und zu braucht das Auge mal Erholung. Und rund um die Hope Street findet man eine ziemlich geschlossene Stadtansicht; die meisten Gebäude sind „Georgian“, klassizistische Architektur aus dem frühen 19. Jahrhundert, in den Seitenstraßen findet man lange Züge von Backstein-Reihenhäusern aus der Zeit. Heute eine der begehrtesten Wohngegenden der Stadt, waren viele Gebäude vor 20 Jahren so runtergekommen, dass ihnen der Abriss drohte.

Hinter den historischen Fassaden verbirgt sich die Moderne. In einem Altbau wurde das erste Designhotel der Stadt eröffnet, 2004 noch eine Sensation, in einem anderen liegt eins der besten Restaurants der Stadt. Und beide schmücken sich mit dem Namen der Straße: Hope Street Hotel heißt die edle Herberge, 60 Hope Street das noble Lokal, das moderne britische Küche serviert. Aber dass das Restaurant des Hope Street Hotel sich London Carriage Works nennt und 60 Hope Street damit wirbt, von einem Kritiker als „Londoner Restaurant in Liverpool“ gelobt zu werden, ist vielleicht auch kein Zufall. Es zeugt noch von der Depression der letzten Jahrzehnte. Vor allem unter Thatcher stand die Stadt im Norden für alles, was schieflief mit Großbritannien. Liverpool galt als Schmuddelkind – und fühlte sich so. Vielleicht traut man sich immer noch nicht so was Modernes, Elegantes zu.

Dass sich Image und Selbstbewusstsein der Stadt verändert haben, daran hat die Kultur nicht erst seit diesem Jahr gewaltigen Anteil. Und die Hope Street ist ein Ballungszentrum der Kultur, ja, war mal das Zentrum der Boheme, die hier eine feste Adresse hatte: Liverpool 8, das ist ähnlich wie SO36 in Berlin weit mehr als ein Postzustellbezirk gewesen, nämlich ein legendäres Viertel der Avantgarde. Das war in den sechziger Jahren, als der Beatnik Allen Ginsberg Liverpool zum Zentrum des kreativen Universums erklärte.

Der amerikanische Lyriker war lange bei Adrian Henri zu Besuch, einem Künstler und Poeten, dessen Gedichtanthologie „Mersey Sound“ sich 500 000-mal verkaufte. Mit seinen Happenings trat er besonders gern in der Hope Hall auf, die früher Kino und noch früher Kirche gewesen war. 1964 wurde in dem alten Gebäude das Everyman Theatre als moderne Bühne für Liverpool gegründet. Noch heute – inzwischen mit angeschlossenem viel gelobten Bistro – gilt es als eins der interessantesten Theater im Land, in dem Julie Walters und Jonathan Pryce ihre Karriere begannen. Für 2008 hat man sich hier einiges vorgenommen: Neben den „3 Sisters“ „King Lear“ mit Pete Postlethwaite in der Titelrolle und eine große Inszenierung in der anglikanischen Kathedrale. „Dreamthinkspeak – One Step Forward, One Step Back“ heißt die theatralische Reise durch die Kirche, bei der die Besucher auch durch sonst nicht zugängliche Bereiche geführt werden. Vielleicht schafft es das Ensemble mit dem geballten Einsatz von Film, Musik, Installation und Livedarbietungen doch noch, dem Publikum die Megakirche schmackhaft zu machen.

Und dann, natürlich: die Musik. Den Beatles entkommt man in Liverpool nicht. Aber hier oben kann man vielleicht mehr von ihrem Geist erleben als in der Innenstadt, wo man die Erinnerung an die berühmtesten Kinder der Stadt oft eher kitschig-nostalgisch auszuschlachten versucht. Am Liverpool College of Art in der Hope Street – in den 60er Jahren „the place to be“ –, haben John Lennon, seine Frau Cynthia und Stuart Sutcliffe studiert. Und Paul McCartney und George Harrison sind hier oben, im Liverpool Institute for Boys, zur Schule gegangen. In den 80er Jahren musste diese wegen Schülermangels schließen und verfiel. Bis McCartney zusammen mit Mark Featherstone-Witty das Liverpool Institute for Performing Arts einrichtete, das die Queen 1996 eröffnete.

Dass die Straße – auf eine angenehm unaufgeregte Weise – so lebendig ist, liegt gerade an den vielen Studenten der umliegenden Universitäten. Die Frauenklinik zum Beispiel, in der John Lennon geboren wurde und die hier um die Ecke liegt, hat sich inzwischen in ein Studentenwohnheim verwandelt.

John Lennon hat schon zu Lebzeiten an der Berühmtheit, die ihm schließlich das Leben kostete, gelitten. Das Schlimmste daran sei, soll er mal gesagt haben: dass er im Phil nicht mehr ungestört ein Bier trinken könne. Der „Philharmonic Pub“ ist einer der opulentesten Pubs von ganz Großbritannien. Die holzgetäfelten Schankräume tragen die Namen von Brahms und List, die großzügige Lounge wird von Kronleuchtern erhellt. Aber als größte Sehenswürdigkeit der denkmalgeschützten Kneipe von 1898 gilt: das Männerklo. „Out of this world“, wie es in einem Führer heißt. Prächtiger geht’s nicht.

Das Phil liegt schräg gegenüber von der Philharmonic Hall, einem wunderbar restaurierten Art-Deco-Bau aus den 30er Jahren, in dem auch regelmäßig Filme gezeigt werden, wo die Beatles und die Rolling Stones, Marianne Faithfull und Suzanne Vega schon aufgetreten sind. Hier hat der Liverpudlian Sir Simon Rattle als kleiner Junge seine ersten Konzerte gehört, im September wird er in dem Konzerthaus mit den Berliner Philharmonikern auftreten.

Wobei das Orchester selber sich auch schon mit einem Star schmücken kann: Wassili Petrenko, der neue Leiter, verkörpert alles, was man sich von einem Chefdirigenten erträumt, jung, musikalisch, dynamisch und so romantisch, wie man es von einem russischen Musiker erwartet. Die Kritiker der britischen Zeitungen legten sich dem 31-Jährigen gleich zu Füßen. „Liverpool ist auf Gold gestoßen“, schrieb der „Observer“, „indem es einen Maestro von vollkommenem musikalischen Können gefunden hat, mit dazu passendem umwerfend guten Aussehen“. 2008 wird Petrenko unter anderem die Begleitmusik zur großen Klimt-Ausstellung in der Tate Liverpool spielen und im September Verdis Requiem in der katholischen Kathedrale dirigieren.

Die liegt genau am anderen Ende der Hope Street, von der anglikanischen Kirche aus betrachtet. Die Liverpool Metropolitan Cathedral of Christ the King, so ihr offizieller Name, ist nicht weniger markant. Eigentlich sollte sie die Konkurrenz sogar übertrumpfen und noch höher als die Liverpool Cathedral werden – mit einer Kuppel, größer als die des Petersdoms. Auch hier zog sich der Bauprozess, zumindest die Planung, über Jahrzehnte hin. 1933 wurde das Fundament gelegt, aber Stararchitekt Edward Lutyens kam nicht weiter als bis zur Krypta: Sein Entwurf war zu teuer. Nach diversen Plänen – einen von ihnen entwarf Sir Giles Gilbert Scotts Bruder Adrian – wurde schließlich Sir Frederick Gibberd beauftragt. Auf das Fundament der Krypta stellte er ein eigenwilliges rundes Gebäude, das 1967 geweiht, zur neuen, nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil offeneren Form der Liturgie passte.

Die Krypta wird weiter genutzt. Im Herbst ist dort eine Ausstellung über Le Corbusier zu sehen, im Februar findet hier das alljährliche Bierfestival statt. Ein Ausdruck vielleicht des viel gerühmten surrealistischen Humors der Liverpudlians – oder der Toleranz der Hafenstadt.

„Paddy’s Wigwam“ nennen die Einheimischen die indianerzeltförmige Kathedrale, eine Anspielung auch auf die große irische Bevölkerung, der die katholische Kirche Liverpools so viele Mitglieder verdankt. Viele Iren waren vor der Hungersnot nach Liverpool geflohen, um von hier aus nach Amerika auszuwandern – und blieben oft einfach hängen.

Vielleicht trägt die Hope Street ihren Namen ja zu Recht. Die beiden Kathedralen, die die Straßen miteinander verbindet, konkurrieren nicht mehr, sondern kooperieren miteinander. Anstelle von zwei Informationsblättern haben sie einen gemeinsamen Flyer mit den Gottesdiensten und anderen Informationen gedruckt. Im Februar wird in der katholischen Kathedrale das John Tavener Requiem uraufgeführt, das vier großen Glaubensrichtungen huldigt: Christentum, Judentum, Islam und Hinduismus. Und im Sommer werden die beiden Kirchen gemeinsam ein großes Gospel-Festival veranstalten. Ihre Toleranz haben sie allerdings schon früher bewiesen: Edward Lutyens, der Architekt der katholischen Krypta, war Anglikaner, Sir Giles Gilbert Scott war Katholik. In Liverpool, so heißt es oft, ist alles ein bisschen anders.

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