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London: Warten auf Clark Gable

London enthüllt seine Art-Déco-Schätze. Die Pracht findet der Besucher in Stadtpalästen, Bahnstationen, Kaufhäusern oder Fabrikgebäuden.

Gleich kommt Clark Gable rein. Cocktailglas in der einen Hand, schöne Frau im andern Arm, süffisantes Lächeln im Gesicht. Auf das cremefarbene Sofa wird er sich setzen und eine der Zigaretten nehmen, die in durchsichtigen Dosen auf den Tischchen stehen, wird sich zurücklehnen und seufzen vor Genuss. Natürlich mit einem ironischen Augenzwinkern. Sonst wäre er nicht Clark Gable.

Prächtiger, eleganter hätte Hollywood sich das auch nicht ausdenken können: Der Salon im Eltham Palace ist einfach überwältigend. Ein großer runder holzgetäfelter Saal, mit einer Kuppel aus Glasbausteinen und einem hohen Fensterband; der ganze Raum scheint nur aus Licht und Luft zu bestehen – und Möbeln, die äußerst einladend wirken. Es ist, als wären die Hausherren nur kurz aus dem Salon hinaus in den Garten gegangen. Aber was heißt kurz, der Garten ist selbst so schön und so groß, dass man darin eine gute Weile lustwandeln kann.

Der Empfangssaal ist das Herzstück eines Art-Déco-Palastes im Südosten von London, und sein Eindruck ist umso überwältigender, als der Besucher durch nichts darauf vorbereitet wird. Von außen tritt das Gebäude eher unauffällig- historisierend auf, als sei es viel älter als es in Wirklichkeit ist und nicht ein Anbau aus den 30er-Jahren. Der eigentliche Eltham Palace ist ein mittelalterlicher Königspalast – oder das, was von ihm noch übrig ist, eine gewaltige Halle, wie eine Kathedrale so hoch, wo Henry VIII. seine Kindheit verbrachte. Der Tourist von heute wird durch einen schmalen, krankenhausähnlichen Flur geleitet, und erst nachdem er sich wie im OP blaue Plastiksocken über die Schuhe gezogen hat, darf er den Kuppelsaal betreten. Und denkt nur: Wow!

Hier ist alles vom Feinsten und – für damals – Modernsten, überall Haustelefone, Einbauschränke, Chromstangen im Bad. Jedes Zimmer scheint ein anderer Architekt oder Designer entworfen zu haben; den Salon hat der Schwede Rolf Engströmer gestaltet. Es ist ein sehr persönlicher Bau, ganz nach der Wünschen der Bauherren Stephen und Ginie Courtauld geformt. Sie: Tochter eines italienischen Vaters und einer ungarischen Mutter, eine geschiedene Marchesa, voller Temperament und Humor, er: passionierter Alpinist und Kunstsammler, fasziniert vom Militär, eher zurückhaltend. Kinder hatten sie keine, dafür einen Hund und einen Lemur, Feuchtnasenaffe sagt man auch dazu, der ein eigenes Luxusschlafzimmer bekam: ein in die Wand eingelassener Käfig mit Wandbemalung und Zentralheizung. Die Courtaulds, reiche Mäzene, machten, was ihnen persönlich gefiel. So sind in die Vertäfelungen des Salons Bilder eingraviert von antiken Kriegern, Ansichten italienischer Städte sowie Szenen aus „Alice im Wunderland“.

Die Courtaulds haben das Leben hier genossen, das sieht man den Räumen an, zu denen eine Reihe von edlen Gästezimmern gehören, das hört man im Akustikguide, der mit Swingmusik und Zeitzeugenaussagen die Welt von einst lebendig werden lässt. Ja, auf Amateurfilmaufnahmen sieht man, dass sie richtig Spaß hier hatten. Das Wochenende war vier Tage lang, man plauderte, speiste, tanzte und spielte Squash, machte Scherze und lauschte Konzerten im mittelalterlichen Saal.

Aber allzu viel Zeit hatten die Courtaulds nicht, Eltham Palace zu genießen. 1933 haben sie ihr Haus gebaut, 1939 begann der Krieg; die Kostbarkeiten wurden eingemottet, das Personal eingezogen. Das Paar zog nach einem schottischen Intermezzo nach Simbabwe und vermachte seinen Lustpalast dem Army Educational Corps. Die Militärs gingen offenbar sehr zivilisiert mit dem Gebäude um, so gut erhalten wie alles ist; 1995 übernahm es „English Heritage“, renovierte es, seit ein paar Jahren erst ist es zu besichtigen.

Heute wird Eltham Palace gern als besonderes Glanzstück des Londoner Art Déco präsentiert, der in jüngster Vergangenheit durch eine Reihe von Publikationen und eine große Ausstellung im Victoria & Albert Museum wieder entdeckt wurde. Und es gibt in London eine ganze Reihe prächtiger Exemplare – wenn man erst mal darauf achtet. Denn Art Déco in London ist nicht so herausragend wie die Wolkenkratzer in New York, bietet kein so geschlossenes Bild wie in Miami, ist nicht so opulent wie in Paris.

Eigentlich hat es Art Déco auch gar nicht gegeben, nicht zu seiner Zeit. Der Name wurde erst 1966 im Rahmen einer Ausstellung geprägt. Einig ist man sich im Grunde nur über den Zeitraum: Art Déco entstand in den 20er, 30er Jahren, war Ausdruck des Lebensgefühls zwischen den Kriegen und deckte alles ab, vom Kino bis zur Kaffeekanne. Als Stil war er so eklektisch wie die Gestaltung der verschiedenen Räume in Eltham Palace. Im Grunde, meinte ein Kritiker einmal, müsse man von „Art Décos“ sprechen, von zehn bis 15 verschiedenen Stilen: Es gibt die ägyptisierende Variante, die orientalische, die sehr moderne, die stromlinienförmige, die geometrische, die strenge, wuchtige, die nicht zuletzt durch die Figuren der Reliefs daran erinnert, dass sie in derselben Zeit entstanden, in der in Deutschland die Faschisten bauten oder zumindest planten.

Luxuriös, so erscheinen viele Bauten, als sei das ganze Leben eine Dampferfahrt – auf einem Ocean Liner natürlich, nicht auf dem Haveldampfer. Man muss nur mal ins Park Lane Hotel am Piccadilly gehen, allein die Herrentoilette im Erdgeschoss ist einen Besuch wert, mit dem Chrom wie an der Reling – und dann erst der Ballsaal in seiner goldenen und silbernen Pracht. Kein Wunder, dass einige der Szenen für den (alten) Film „Titanic“ hier auf der breiten Treppe gedreht wurden. Und auch wenn kaum ein Zimmer noch im Original erhalten ist: Die Flure sind bis heute so breit, wie es damals nötig war, als die Gäste aus Übersee mit ihren Schrankkoffern anreisten – wenn allein die Überfahrt Tage dauerte, musste die Reise sich schon lohnen, da begnügten die Amerikaner sich nicht mit „Europe in five days“. Und selbst wenn man sich im Claridge’s kein Zimmer leisten kann, ein Besuch in der Bar ist sicher drin: „Wenn ich mit Gott zu einem Cocktail verabredet wäre“, meinte die Schriftstellerin Carole Morin einmal, „ich würde ihn in dieses Art Déco-Paradies führen.“ Auf einen Schokoladen-Martini.

Die Moderne hatte es in Großbritannien sehr schwer. Die Engländer mögen industrielle Revolutionäre gewesen sein – wenn es um Architektur geht, sind sie ausgesprochen konservativ. Auch mitten im 20. Jahrhundert wurden Fachwerkhäuschen gebaut wie zu Shakespeares Zeiten. Art Déco aber ist eine sanftere, dekorativere Moderne, mit weichen Kurven, nicht so kantig, wie das Bauhaus baute, auch nicht so ideologiebesetzt. Man wollte aus den Bewohnern keine besseren Menschen machen.

Privathäuser und Interieurs, die dem Stil so konsequent huldigen wie Eltham Palace, findet man in London heute eher selten. Aber an und in öffentlichen Gebäuden, die ihrer Modernität Ausdruck geben wollten, war Art Déco durchaus beliebt und ist noch erhalten.

Die Bauten wurden Werbeträger in eigener Sache. Das Hauptgebäude der BBC zum Beispiel – das Radio war ja noch ein ganz junges Medium – sieht wie ein Dampfer aus, allerdings eher wie ein Kriegsschiff. Die Hoover-Staubsauger-Fabrik erstrahlte in ägyptischer Eleganz („And all that to suck up shit!“, bemerkte ein Zeitgenosse), Kinos, vor allem die der Odeon-Kette, wurden als progressive Traumpaläste errichtet, die Londoner U-Bahnstationen aus den 30 Jahren kommen der klassischen Moderne atemberaubend nahe, opulent kamen Autowerkstätten wie das Bluebird in Chelsea daher. Besonders elegant wurden die Schaufenster der Warenhäuser gestaltet; auch wenn die Kaufhäuser längst keine mehr sind, ihre Fenster sind noch heute wunderschön: im früheren Simpson’s zum Beispiel am Piccadilly, in dem heute die Buchhandlung Waterstone’s ist, oder im Barker’s an der Kensington High Street, dessen Schriftzug immer noch an der Fassade steht. Eine ganze Reihe von Büros und Läden sind dort heute untergebracht, von denen der interessanteste „Whole Foods“ ist: der edelste Bioladen, den Sie je gesehen haben, über drei Etagen verteilt.

Nur durch die Umnutzung sind viele Art-Déco-Gebäude zumindest als Fassade erhalten. Aus Odeon-Kinos etwa wurden häufig Bingo-Hallen, in die Hoover-Fabrik ist ein Tesco-Supermarkt gezogen, aus der Bluebird-Autowerkstatt wurde ein edles Conran-Restaurant mit angeschlossenen Designergeschäften.

Nur die Battersea Power Station, jenes gewaltige Werk an der Themse, das mit seinen vier weißen Säulen zu einem der Wahrzeichen der Stadt geworden ist, wartet noch auf seine neue Bestimmung. Entworfen hat es derselbe Architekt, dem die Briten die rote Telefonzelle verdanken und jenes Kraftwerk, das heute die Tate Modern ist. Wer mit dem Zug von Victoria Station nach Eltham Palace fährt, kann den Verfall beim Vorbeirollen aus der Nähe betrachten.

Eins der wenigen Art-Déco-Gebäude neben Eltham Palace, das auch von innen im Original bestaunt werden kann – wenn nicht beim Mobiliar, so doch in der Architektur – ist das Royal Institute of British Architects (RIBA). Nur wenige Schritte vom Regent Park entfernt und von der BBC, ist es ähnlich wie dieses in der eher wuchtigen, strengen Stilrichtung erbaut. Das Haus ist ein Muss für alle, die sich für Architektur interessieren, hier laufen immer interessante Ausstellungen, im Erdgeschoss ist ein exzellenter Buchladen und im ersten Stock liegen Café, Bar und Restaurant, dessen Terrasse im Sommer als Londoner Geheimtipp gilt. Und wenn man im Café an seinem Cappuccino nippt und seine Rosinenschnecke verspeist – mit Messer und Gabel, so wird sie hier serviert –, mit Blick auf das imposante Treppenhaus: Da kommt man sich ein bisschen wie ein Passagier auf dem Luxusdampfer vor. Nur zu zivileren Preisen.

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