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Reise: Luxus der Langsamkeit

Der Tanztee im Queens Room auf der „Queen Mary 2“ ist eine festliche Angelegenheit. Anna trägt ihren roten Rock mit Herzen drauf, dazu rosa Schuhe.

Der Tanztee im Queens Room auf der „Queen Mary 2“ ist eine festliche Angelegenheit. Anna trägt ihren roten Rock mit Herzen drauf, dazu rosa Schuhe. Mittags, am zweiten Tag der Transatlantikpassage von New York nach Hamburg, hat die Achtjährige aus Maryland mit ihrer Mutter Lisa, ihrem Vater James und dem zehnjährigen Bruder Henry die erste Tanzstunde absolviert. Und nun wird sie schon aufgefordert, von Jerry. Der Anwalt im Ruhestand aus Reno, Nevada, selbst Vater von fünf Kindern, fährt als „Dance Host“, als Eintänzer, mit auf dem Schiff. „Den nächsten Walzer musst du aber unbedingt mir schenken“, sagt er zu Anna. Die hat ihre anfängliche Scheu überwunden und strahlt, als sie nach dem Walzer bei hauchdünnen Gurkensandwiches und Scones der Familie erzählt: „Er hat mir Tipps gegeben.“

Dienstagnachmittag hat die „QM 2“, wie sie kurz genannt wird, in Brooklyn abgelegt. Da standen alle Passagiere an Deck. Auch der Geologieprofessor James samt seiner Familie, die er auf diesem Weg mit zum Sabbatjahr nach Dänemark nimmt. Die Schiffspassage zu viert in einer Innenkabine erschien im Vergleich zu Flügen nicht wesentlich teurer, außerdem kann die Familie reichlich Gepäck mitnehmen, und die Verpflegung ist auch inbegriffen.

Der zehnjährige Sohn Henry hat ein Extrataschengeld bekommen, als Belohnung für seine Einwilligung, an den Tanzstunden teilzunehmen. Die Dollar hat er umgehend in den Buchladen auf Deck 8 getragen, der sich neben der mit 8000 Büchern wohl größten schwimmenden Bibliothek befindet. Henry hat sich Lektüre über Dampfschiffe gekauft und trägt das Buch, außer im Pool, auf der ganzen Reise praktisch ständig unter dem Arm. „Wir könnten die Kinder täglich von 10 Uhr bis Mitternacht betreuen lassen“, erzählt Lisa. „Tun wir aber nicht.“

Es sind keineswegs nur Millionäre an Bord, wie der Taxifahrer in New York vermutet hatte. Als die „QM 2“ Richtung offener Ozean langsam an der Freiheitsstatue vorbeizieht, klicken die Kameras auch von zahlreichen Amerikanern, die sich auf diese Weise ihren Vorfahren nahe fühlen, sind doch viele an Bord auf der Suche nach ihren europäischen Wurzeln. Don gehört auch dazu. Der Anwalt aus Texas hat den Namen des schwedischen Dorfes ausfindig gemacht, aus dem sein Urgroßvater einst in die USA eingewandert ist. Wer weiß, vielleicht findet er in Schweden noch Familienangehörige. Erst einmal lässt er sich jedoch von der majestätischen Aura des Schiffs faszinieren, das schnell an Fahrt gewinnt.

Ein paar Tage später trifft Don beim Tischtennisturnier oben auf Deck 12, neben Hallenbad und Golf-Counter, einen früheren Manager der internationalen Werbeagentur, für die er selber auch mal tätig war. Gemeinsam lästern sie über die alten Zwänge: „Für zwei Stunden zu einer Konferenz nach Tokio zu fliegen, das ist doch Wahnsinn.“ Während sie auf ihren Einsatz an der Platte warten, gibt der pensionierte Manager sarkastisch zu bedenken: „99,9 Prozent der Menschen würden jene Art von Lebensstil für glamourös halten.“ Die beiden sind der Hetze schon lange leid und bedauern, was ihnen durch die anstrengende Fliegerei durch die Welt an Familienleben entgangen ist.

Auf dem Schiff fühlt man sich geborgen wie in Noahs Arche. Langsamkeit ist der neue Luxus. Die Passagiere kommen aus 32 Ländern. Unter ihnen sind 954 Deutsche, 759 Engländer und 626 Amerikaner. Auch 252 Kinder sind an Bord.

Ein britischer Versicherungsmanager, dessen Eltern aus Deutschland vor den Nazis fliehen mussten, reist gemeinsam mit seiner Frau sowie mit vier seiner fünf Kinder und allen zehn Enkelkindern. „Damit die auch mal Zeit miteinander verbringen können.“ Sie sitzen fröhlich mit einer anderen Verwandten beim Frühstück im Kings Court Restaurant. Die Auswahl lässt kaum Wünsche offen. Es gibt Würstchen und Röstkartoffeln für den amerikanischen Geschmack, Porridge für die Engländer, viel Aufschnitt für die Deutschen sowie große Platten mit diversen Melonensorten und Ananas für die Gesundheitsbewussten.

„Für die Deutschen haben wir den Bäckern extra beigebracht, die Brötchen größer zu backen“, erzählt Küchendirektor Klaus Kremer fröhlich. Der Kölner ist Chef aller 150 Köche in den zwölf Küchen an Bord und verantwortlich dafür, dass die 15 000 Mahlzeiten, die auf dem Schiff täglich für 2620 Passagiere und 1253 Crewmitglieder zubereitet werden, auch möglichst allen schmecken. Captain Christopher Wells, der wie der Küchendirektor dünn ist wie ein Strich, hat es bei seinem Begrüßungscocktail so formuliert: „Er ist dafür verantwortlich, dass Sie alle an Umfang zwei Inches zulegen.“ Allerdings gibt es genug Salat- und Obstbüfetts und magere Steaks, um diesen eher unerwünschten Effekt zu vermeiden. Und wer auf dem Joggingpfad auf Deck 7 das Schiff dreimal umrundet, hat auch schon wieder Kalorien verbraucht. Desgleichen, wenn man statt der vielen Aufzüge in den vier Treppenhäusern zwischen den 14 Decks öfter mal die mit schweren, weichen Teppichen belegten Stufen nimmt.

Auch Allergien bei den Gästen muss Kremer zunehmend berücksichtigen, aber das ist nicht das Kniffligste für ihn. Viel schwieriger ist es, bei einer Atlantiküberquerung auch ja nichts zu vergessen. Was bei der Ausfahrt in New York nicht an Bord ist, kann erst eine Woche später in Southampton wieder besorgt werden.

Diese Sorgen quälen die Passagiere weniger. Auf Einkäufe brauchen sie nicht zu verzichten. In den Mayfair Shops auf Deck 3 etwa gibt es allerdings neben Luxuswaren vor allem Souvenirs. Hier hat die achtjährige Anna ihr Taschengeld investiert in eine goldfarbene, bestickte Satin-Abendhandtasche. Glück gehabt: Diese Taschen gibt es auf dieser Passage im Angebot für zehn Dollar.

Während im Royal Theatre mit mehr als 1000 rotsamtenen Plätzen abends die großen Shows laufen, finden im Queens Room, Annas Lieblingsplatz, die Bälle statt. Vor der Royal Night mit dem Ascot Ball gibt es gemeinsames Hutbasteln im Chelsea Room auf Deck 1. Für einen neuen Hut habe sie nicht extra Geld ausgeben wollen, sagt eine ältere Dame im breiten Hamburgisch und windet rosa Bänder um einen schlichten Sonnenhut.

Den zehnjährigen Henry lässt das alles kalt. Sein Lieblingsort ist die Bibliothek am Bug. Bester Ausblick, vier Decks unter der Brücke. Die hat Henry natürlich schon längst inspiziert. Sie ist durch eine Glaswand von dem schmalen Gang getrennt, von dem aus zu bestimmten Zeiten die Passagiere dem Kapitän über die Schulter gucken können – direkt auf die riesigen Computerschirme. Ein freundlicher weißhaariger Passagier erläutert einer Mitreisenden die Geräte. Mit 18 sei er in den 60er Jahren aus Dresden nach Rostock aufgebrochen und dann zur See gefahren. Damals habe er auf Frachtschiffen angeheuert und den Atlantik überquert. „War früher mehr los auf dieser Strecke“, glaubt er sich zu erinnern. Dann erzählt er den vom Luxus der fünf beheizten Pools verwöhnten „QM 2“-Gästen, wie sich die Mannschaft damals aus Segeltuch ihren Pool auf dem Frachter selber gebaut habe. Jetzt wollte sich der ehemalige Offizier die Atlantikpassage mal „auf dem Musikdampfer“ gönnen. Letztere eher abfällige Bemerkung relativiert er sofort durch den respektvollen Hinweis, dass ein Propeller der „QM 2“ so viel wie ein Jumbojet wiegt. „Und das Schiff hat vier davon!“

Das nächste Stückchen Land, sowohl Island als auch Irland, ist jetzt jeweils 800 Meilen entfernt. Selbst die letzte Bohrinsel liegt weit zurück. Das Schiff ragt 10,30 Meter ins Wasser hinein. Bis zum Meeresboden sind es noch mal 4,4 Kilometer. Die See ist rau, die grauen Wolken hängen tief. See- und Lufttemperatur sind in etwa gleich, 18 Grad. Da sich das Wasser hier auch bei intensiver Sonneneinstrahlung kaum stärker erwärmt, kann die Temperatur nur wenig steigen. Für Captain Christopher Wells ist das „schönes Wetter“. Mit 47,7 Stundenkilometern durchpflügt das Schiff hier die Atlantikwellen überraschend schnell.

Dass man sich im Grunde „mitten im Nirgendwo“ befindet, wie der Kapitän sagt, lässt sich gut verdrängen, wenn man abends zwischen den Herren im Smoking und den Damen in langen Abendkleidern flaniert. Im großen Kasino dreht sich das Roulette, im Commodore Club spielt der Pianist „Danny Boy“, im Theater begeistert Emma Sinclair die Zuhörer mit Songs aus „Mary Poppins“, und beim 20er- Jahre-Ball achten Eintänzer Jerry und seine Kollegen darauf, dass jede Single- Dame einmal aufgefordert wird. Ein Freund hat ihn auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, als geübter Tänzer gratis auf dem Schiff mitfahren zu können. Allein, der Lebenslauf muss untadelig sein. Jerry musste einen Bericht über sich in der dritten Person schreiben und Zeugnisse einreichen, unter anderem von seiner derzeitigen Tanzpartnerin und auch von seiner Ex-Frau.

Überall auf dem Schiff klingt abends Musik, auch im Golden Lion Pub auf Deck 2 beim Karaoke-Wettbewerb. Stars beim Sängerwettstreit sind an diesem Abend die Engländer: Ein Busfahrer, der Elvis imitiert, und eine Krankenschwester, die sich hier ausgelassen vom Ernst ihres Alltags mit Krebspatienten erholt.

Anna und Henry schlafen da schon längst. Jeden Tag wird die Uhr eine Stunde vorgestellt. Die Seeluft macht müde, das viele Umherlaufen auch. Die zahlreichen Programme tun ein Übriges.

Zu dem Zeitpunkt, als der Ozean am tiefsten ist, füllt sich das Royal Theatre bis auf den letzten Platz zum Vortrag der Sexualtherapeutin Ruth Westheimer, Jahrgang 1928. Thema: „Sex after 50.“ Kichernde Best-Agers lauschen Ratschlägen wie: „Lernen Sie zu masturbieren. Noch heute!“ Ihre amerikanischen Fans nennen sie „Dr. Ruth“. Nachmittags stehen die Leute Schlange, um sich ihr Buch signieren zu lassen. „Für Freunde“, natürlich. Anschließend gehen die einen zur Kunstauktion in den Wintergarten, andere in den Canyon Ranch Spa mit drei Saunas, Strömungsbecken, Whirlpools und 15 Masseurinnen.

Ein etwas fülliger New Yorker strebt lieber aufs Zimmer. Seine Eltern seien in den 20er Jahren aus Dresden in die USA ausgewandert, erzählt er. Vor zwei Jahren habe er einen Teil der Asche des Vaters zurück in die Heimat gebracht. Den Rest habe er bei der Rückfahrt auf der „QM 2“ an Deck ausgestreut. Heimlich. „Er fliegt jetzt hier immer hin und her“, sagt er ganz ernst.

Etwa 30 Prozent der Gäste an Bord sind sogenannte Wiederholer, viele kennen auch die anderen großen Cunard-Liner. Die Beweggründe für die Reise überraschen nur zum Teil. Das offensichtliche „Ich fliege nicht so gern“ wird natürlich öfter genannt. Ein junger Berliner beschreibt die Überwindung, die es ihn bei seiner ersten Überfahrt nach New York gekostet hat, zunächst nach Southampton zu fliegen. „Das war glücklicherweise nur ein kurzer Flug.“ Viele andere, besonders Manager, haben einen anderen neuen Luxus entdeckt: Draußen auf dem Atlantik funktionieren die Handys nicht. Und auch das Internet bricht teilweise zusammen, so dass die Computerräume unten auf Deck 2 leer bleiben und die Passagiere sich lieber ins Planetarium nebenan setzen und die Sterne studieren.

Professor James hat seine anfängliche Sorge, mit dem Abarbeiten der E-Mails zu sehr in Rückstand zu geraten, inzwischen vergessen und spielt ausgelassen mit seinen Kindern im Pool. Seine Frau Lisa hat es sich auf einer Liege bequem gemacht und schreibt in ihr Tagebuch: „Damit die Kinder später wissen, was sie gesagt und wie sie sich gefühlt haben.“ Währenddessen läuft in einem der zahlreichen kleinen Waschsalons eine Maschine mit der Familienwäsche, „weil die sauber besser in den Koffer passt“. Immerhin: Rund 300 Liter Wasser verbraucht jeder Passagier täglich an Bord. Doch es gibt ja eine eigene Wasseraufbereitungsanlage.

„Was würdet ihr mitnehmen von dem Schiff, wenn es möglich wäre?“, fragt Lisa ihre Kinder. „Das ganze Schiff“, sagt Anna. „Dann würde ich es im Hafen festmachen und immer darauf wohnen.“

Frühmorgens macht das Schiff in der britischen Hafenstadt Southampton fest. Von hier aus waren1620 die Pilgerväter mit der Mayflower nach Amerika gesegelt – unter Bedingungen, an die die „QM 2“-Gäste nur mit gemischten Gefühlen denken mögen.

Rund 24 Stunden später nähert sich das Schiff schon Hamburg. Es ist ein gutes Gefühl, von einer Amerikareise frisch geduscht und ohne Jetlag nach Hause zu kommen. Vor einer Woche hat man in New York in einem riesigen Hotel eingecheckt, hat dann die sich wandelnde Aussicht auf Himmel und Wellen genossen, und jetzt, 3303 nautische Meilen später, ist man auf einem anderen Kontinent und fast zu Hause angekommen.

Frühmorgens auf der Elbe macht sich der kleine Henry ein letztes Mal im Kings Court über gebratenen Speck und Rührei her. „Wer weiß“, sagt er nachdenklich, „vielleicht fliegen die Leute irgendwann nicht mehr und fahren lieber mit dem Schiff. Da ist nicht so viel Stress mit der Sicherheit.“ Henry sieht so aus, als wenn das an ihm nicht scheitern solle. Anna stimmt zu: „Außerdem drückt es auch nicht so auf den Ohren.“

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