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Good old Europe. Colmar tropicale – nicht nur für diese malaiische Besucherin eine beschauliche kleine Welt.

© shutterstock inc. / mypokcik

Malaysia: Giebel im Regenwald

Kuala Lumpur mit den kühnen Petronas Towers, das ist das neue Malaysia. Doch nah der Metropole steht ein Stück Europa.

Die schwüle Hitze kann einem schon zu Kopf steigen in Malaysia. Aber hier oben, auf dem Bukit Tinggi, dem hohen Hügel, ist die Luft frischer und der Geist klar. Es kann also keine Einbildung sein, was sich da erhebt, als sich der Bus die letzte Kurve hinaufgeschlängelt hat. Hier oben steht ein kleines Fachwerkdorf mit spitzen Giebeln und bunten Fensterläden. Etwa eine Stunde Autofahrt von der Metropole Kuala Lumpur entfernt, liegt das Elsass. Oder genauer, ein skizzenhafter Ausschnitt von Colmar, originalgetreu nachgebaut. Die Kellner vor den Restaurants grüßen mit einem schüchternen „Bonjour“. In der Boulangerie gibt es Pain au Chocolat zu kaufen. Und drumherum lugt der rund 150 Millionen Jahre alte Regenwald am Ende der stummelkurzen Gassen hervor. Affen brüllen.

Seit 13 Jahren gibt es dieses Städtchen in Malaysia. Am Eingang hat das echte Colmar, also das französische, einen Brunnen mit einem Storchennest gestiftet. Auf der Bronzetafel bedanken sich die Europäer dafür, dass hier in Malaysia die Werbetrommel für sie gerührt wird.

„Das ist schon eine Attraktion“, findet Pari. Die 27-Jährige sitzt mit ihrem Freund im Café vor einem blassen Sandwich au Jambon. Beide sind Tourismusstudenten, sie stammen aus dem Iran, besuchen jedoch eine Universität in Malaysia. Heute machen sie einen Tagesausflug nach Colmar, als Touristen und in professioneller Mission gleichermaßen. Pari ist ein bisschen enttäuscht. „Mir persönlich gefällt es nicht so gut“, sagt die Studentin. Zu klein, zu künstlich. „Aber viele Menschen aus unserem Land haben nicht die Möglichkeit nach Europa zu reisen. Also, ich würde meine Gäste hierher schicken.“

Tatsächlich schlendern vor allem Besucher aus dem Nahen Osten und Vorderasien durch den Ort. Vom Toreingang bis zum Aussichtsturm am anderen Ende sind es nur wenige hundert Meter. „Europäer haben wir hier noch keine gesehen“, sagt Reza, ihr Freund. Welcher Europäer will schon Disney- Land-Colmar besichtigen, wenn ihm das Original viel näher ist? Doch dieser skurrile Ort ist typischer, als er auf den ersten Blick erscheint. Das malaysische Elsass sagt viel über das Land. Seine Ziele. Seine Lage in der Welt.

Arabische Touristen reisen gerne in das südostasiatische Land zwischen Thailand und Singapur. In Malaysia sind etwa 60 Prozent der Bewohner muslimischen Glaubens, außerdem gibt es Hindus, Buddhisten und Christen. Malaysia, muslimisch geprägt, ist dennoch ein multi-ethnischer Staat. Die Hälfte der Bevölkerung sind Malaien, hinzu kommen Chinesen und Inder. Die meisten Malaysier sprechen mindestens drei Sprachen, ihre Muttersprache, das malaiische Bahasa Malaysia und Englisch.

Von 367 Meter hohen Petronas Towers schaut man auf die Metropole

Ein Land der Kontraste. Malaysia hat viele Gesichter.
Ein Land der Kontraste. Malaysia hat viele Gesichter.

© Anna Pataczek

In der Hauptstadt stolzieren junge Mädchen in knappen Röckchen und ausgeschnittenen Tops herum, im Bundesstaat Terengganu an der Ostküste gibt es keinen Tropfen Alkohol zu kaufen. Malaysia hat viele Seiten. Es hat Bohrinseln und Urwälder. Es ist modern, und es ist traditionell. Die Wirtschaft wächst. Bis 2020 hat man sich vorgenommen, ein Industriestaat zu werden. Dazu gehört auch, Richtung Westen zu schauen. Zum Beispiel ins Elsass.

Oder auch nach Neuschwanstein, Granada und auf die Akropolis – wobei Letztere wohl zurzeit kein Vorbild für das prosperierende Land sein dürfte. Sei’s drum. Die Pläne, auch diese europäischen Sehenswürdigkeiten in den Highlands nachzubauen, wurden sowieso erst einmal auf Eis gelegt. Dafür gibt es nebenan das Château, ein Nachbau der ebenfalls elsässischen Haut-Koenigsbourg. Hier wird la cuisine française serviert. Die Kacheln aus dem Dampfbad im Spa-Bereich stammen aus Österreich. Der protzige Kristalllüster in der Lobby wurde in Venedig bestellt.

Vincent Tan hat dieses Reich erschaffen. Er gilt als einer der wohlhabendsten Männer Malaysias. Ihm gehören eine Fluglinie, Hotels, Fast-Food-Ketten. Und er ist ein enger Freund des ehemaligen Premierministers Mahathir Mohamad, der sich bei einer Europareise mit seiner Frau in die Architektur verguckte und von seinem Freund das Schloss und die Stadt bauen ließ.

Der größte Leuchtturm für Malaysias Fortschrittsdenken steht aber in Kuala Lumpur. Mit dem Aufzug geht es in Sekundenschnelle hoch in den 86. Stock der Petronas Towers, und es empfiehlt sich trotz strengsten Verbots, bei dem man sich offensichtlich am vorbildlichen Singapur orientiert hat, doch heimlich ein Kaugummi in den Backentaschen zu verstauen. Sonst knackt es im Ohr, bis man auf 367 Metern angekommen ist. Von oben schaut man dann auf die Metropole mit ihren Hochhäusern, Dachterrassen mit Pools und niedrige, ehemalige britische Kolonialhäuser.

Reza, der iranische Student aus der Boulangerie im Kulissen-Elsass, findet, Malaysia könnte noch mit ganz anderem punkten. Er hat das Land und seine schönen Seiten schließlich genau studiert. „Fahrt auf eine Insel“, schlägt er vor. Reza schreibt soeben seine Abschlussarbeit über den Inseltourismus. Vor Malaysias 4800 Kilometer Küstenlinie liegen 200 Eilande, wie weiße Perlen im warmen, tropischen Wasser.

Kokosnüsse haben Augen, sagen die Einheimischen

Vor der Küste Malaysias liegen 200 Inseln, wie weiße Perlen an einer Schnur.
Vor der Küste Malaysias liegen 200 Inseln, wie weiße Perlen an einer Schnur.

© Anna Pataczek

Als das Boot vom wackligen Steg ablegt, verwandelt sich das sumpfige Braun der Flussmündung bald in glasklares Türkis. Und dann rückt im gleißenden Gegenlicht Pulau Redang ins Blickfeld, eine Insel wie aus dem Bilderbuch. Der Strand ist weiß, von grünen Hügeln umarmt. Redang liegt im Südchinesischen Meer, etwa 25 Kilometer vor der Ostküste der malaysischen Halbinsel. Das Gewässer und die dazugehörigen versprengten Felsen im Meer sind Naturschutzgebiet. In den Korallenriffen tummeln sich Gelbschwanz-Schnapper, Zebra-, Papageien oder Kugelfische. Riesenmuscheln leuchten kobaltblau. Wenn man Glück hat, sieht man auf sandigem Meeresboden sogar eine Schildkröte.

An Land ragen spindeldürre Kokospalmen gen Himmel und spenden etwas Schatten. Sich unter ihnen zu betten, ist verlockend. Und wenn man den Malaysiern Glauben schenken möchte, auch ungefährlich. Kokosnüsse haben Augen, sagen die Einheimischen. Sie fallen so, dass nichts und niemand zu Schaden kommt. Redang ist ein paradiesischer Ort.

Es ist ein schwüler Vormittag im Dorf. Vor einem der traditionellen, einfachen Holzhäuser sitzt eine junge Frau mit ihren beiden Kindern auf der Veranda. Alle drei greifen in einen Teller mit Reis. „Wir frühstücken heute spät“, ruft die Mutter, fast entschuldigend. Ob man sich nicht dazusetzen möchte? Nazirah ist 24 Jahre alt, ihr großer Sohn Adil ist vier. Immer wieder greift er mit seinen kleinen Händen ins Essen und will es großzügig in der Umgebung verteilen.

Nazirah stöhnt entnervt auf. „Schaut mich an“, sagt sie, „ich bin ungeschminkt und nachlässig gekleidet. Mit meinen Kindern komme ich zu nichts mehr.“ Offensichtlich teilt Nazirah ihre Probleme mit Millionen Frauen auf der ganzen Welt. Nur, dass viele vielleicht denken würden, dass sie auf einem ganz besonders hübschen Fleckchen Erde geboren wurden. „Ach was“, sagt die junge Malaiin, „es ist so langweilig auf der Insel.“ Ob sie ihre Handynummer aufschreiben dürfe? Ab und zu eine SMS, das wäre schön, sagt sie. Nazirah freut sich über Nachrichten von Orten, die fernab ihrer eigenen Heimat liegen. Es muss nicht das Elsass sein. Auch Deutschland hat seine Fachwerkhäuser.

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