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Naturheilmittel in der Karibik: Mit Blätterkaktus-Tee gegen Nierensteine

Baumrinde senkt den Cholesterin-Spiegel, Früchte-Shampoo hilft gegen stumpfes Haar. "Kräuterhexe" Dinah Veeris stellt auf der karibischen Insel Curaçao Naturheilmittel und Pflegeprodukte her - nach den Rezepten der karibischen Ureinwohner.

Im Mittelalter wäre die weise Frau möglicherweise verbrannt worden. Als „Kräuterhexe von Curaçao“ ist Dinah Veeris heute hingegen hoch angesehen. Sie macht sich nämlich um ein Wissen verdient, das ohne sie wohl für immer der Vergessenheit anheimfallen würde: Sie hegt und pflegt bedrohte Pflanzenarten ihrer Heimat, gewinnt wirksame Medizin daraus – und schreibt alles fein säuberlich auf, damit dieser Schatz der Nachwelt erhalten bleibt. Sie führt gewissermaßen ihre eigene „Rote Liste“ für bedrohtes Wissen der karibischen Ur-Bevölkerung, das sonst unwiederbringlich verloren wäre.

Gegen Kopfläuse, Kopfschmerzen oder Durchfall findet sich in jeder Apotheke die geeignete Medizin aus dem Chemielabor. Doch die Probleme lassen sich auch auf natürliche Weise lösen. Seit Jahrhunderten. Dinah Veeris beweist es. Und bekommt Besuch aus aller Welt. Die 70-Jährige produziert und vermarktet Naturheilmittel und Körperpflegeprodukte, hergestellt ausschließlich aus den Pflanzen, die auf ihrer Heimatinsel wachsen. Die Rezepturen sind oft Jahrhunderte alt und stammen ursprünglich von den indianischen Arawak-Ureinwohnern oder von afrikanischen Medizinmännern, die über den Sklavenhandel in die Karibik verschleppt wurden.

Dinah gehört zu den bekanntesten und angesehensten Persönlichkeiten auf den Niederländischen Antillen. Sie hat mehrere Bücher über die heilende Wirkung der Botanik von Curaçao geschrieben. Ihre Produkte sind im Internet zu bestellen. Tinkturen, Seifen und Öle aus dem Hause Veeris werden in alle Welt geliefert. Am Fuße des Tafelbergs in Banda Riba, dem Südosten der Tropeninsel, hat sich die Unternehmerin ihr Refugium geschaffen – Den Paradera (Platz, an dem Du Dich zu Hause fühlst): In einer leichten Brise klappern sanft die Palmwedel. Kolibris schwirren pfeilschnell durch die feuchtwarme, würzig duftende Luft. Im Blätterdach der Laubbäume krächzen Papageien und werden nur vom Tröten des Trupial noch übertönt, ein gelb-schwarzer drosselähnlicher Vogel, der vom Frühstückstisch schon mal eine Scheibe Käse stibitzt.

Ungeachtet seiner geflügelten Mitbewohner döst ein grüner Leguan, ungefähr einen Meter lang, im Halbschatten auf einem Ast des Frangipani-Baumes. Auf der Suche nach Insekten schieben sich kleinere Eidechsen knisternd durch Unterholz und Kräuterbeete. Die bräunlichen nennt Dinah Veeris „Lagadishi“, die größeren bläulichen heißen „Bloblos“.

Der Paradera ist ein botanischer Garten mit mehr als 300 auf Curaçao beheimateten Pflanzenarten. Viele davon sind kaum noch sonstwo auf der Insel zu finden. Denn welche Regierung, welcher Immobilienmanager achtet schon auf ein paar Kräuter, wenn es ums große Geld geht, wenn ein vormals unberührter Küstenabschnitt mit einer Ferienanlage zubetoniert wird, ein Kakteenhain einem Schnellrestaurant mit „Drive-in“ weichen muss? In diesem Garten aber haben heimische Pflanzen eine doppelte Chance: Sie können dort erstens überleben und zweitens einen Dienst am Menschen leisten.

„Wie immer ist die Dosierung das Entscheidende“, sagt Dinah Veeris. „Und auch die Frage, ob das Mittel gekocht oder roh einzunehmen ist, ist wichtig.“ Tee vom Blätterkaktus bei Nierensteinen. Shampoo aus den fußballgroßen Früchten des Kalabas-Baumes gegen stumpfes, schütteres Haar; Sirup aus der gleichen Frucht gegen Husten und Asthma. Dinah schwört drauf. „Der Lebensbaum hier hat ein so hartes Holz, dass man daraus früher Kanonenkugeln gemacht hat“, erklärt sie. Seine Rinde soll den Cholesterin-Spiegel senken, seine Blätter den Blutdruck. Ein anderes Kraut, das wie Thymian riecht, preist sie bei Bauch- und Ohrenschmerzen.

Sieben Helfer arbeiten für Dinah Veeris. In der kleinen Manufaktur direkt neben dem Garten bereiten sie alle Produkte nach bewährten Rezepten frisch zu, portionieren, verpacken und versenden sie. Zutaten, die nicht aus dem Garten stammen, bezieht Dinah Veeris von Verwandten, Freunden und Bekannten. Ihr Sohn Shastri und dessen Frau Marianella helfen seit Jahren mit und sollen das Geschäft eines Tages übernehmen.

Curaçao, seit dem 10. Oktober 2010 ein eigenständiges Bundesland im Königreich der Niederlande, hat aktuell rund 150 000 Einwohner aus mehr als 60 Nationen. Die meisten haben afrikanische Wurzeln und so mancher kann seinen Stammbaum bis zu den ersten Sklaven zurückverfolgen. Vielleicht fragen auch deshalb immer mehr Einheimische nicht ihren Arzt oder Apotheker, sondern vertrauen sich der „Kräuterhexe“ an. Täglich sitzen Patienten bei Dinah Veeris, zeigen geschwollene Füße, berichten von Verdauungsproblemen oder Juckreiz. Schulklassen machen Ausflüge nach Den Paradera, um zu erfahren, wie die Ureinwohner Südamerikas und Afrikas früher im Einklang mit der Natur gelebt haben, anstatt sie zu zerstören, wie es der Mensch heute tut.

„Viele Lehrer denken, dass sie viel wissen. Aber in Wirklichkeit wissen sie gar nichts“, sagt Dinah Veeris. Die provokanten Worte sind alles andere als das Hirngespinst einer Niederländerin, die zu lange unter der karibischen Sonne gesessen hat. Es sind ihre eigenen Erfahrungen, denn sie war selbst Lehrerin. Auf Anregung ihrer Mutter hatte sie 1981 jedoch damit begonnen, die Inselältesten nach deren traditionellen, oft nur mündlich überlieferten Heilungsmethoden zu fragen. Und alles für die Nachwelt zu notieren. Daraus wurden ihre Mission und ein neues Leben. 1991 begann sie, den Garten anzulegen. Heute ist sie 70 Jahre alt und fühlt sich prächtig. „Es ist der Kräuterduft, der mich jung hält“, glaubt sie.

Mit ihrem Anspruch, ihrem Wissen, ihrer Wertschätzung für die Natur hätte Dinah Veeris das Zeug zu Höherem. Doch sie steht lieber in ihrem Garten und singt ein fröhliches Lied für ein schwächliches Blümchen. In einer kleinen Wiege aus Leinentuch schaukelt sie es sanft hin und her. „So machten es schon die Menschen in Westafrika vor 300 Jahren, wenn ihnen die Pflanze kostbar war“, sagt sie.

Markus Poch

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