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Die Eisenbahn-Kathedrale ist eines der bekanntesten Gebäude in Manhattan. Mehr als 500 000 Menschen durcheilen es täglich.

© Helge Bendl

New York City: Palast der Pendler

Im Grand Central Terminal von New York City schlägt der Puls der Stadt. Vor 100 Jahren wurde der pompöse Bahnhof in Betrieb genommen.

Hier schlägt es, das Herz der Stadt. Und jeden Morgen ab kurz nach acht klopft dieses Herz derart laut und hektisch, dass man sein Pochen überall in der Metropole spüren kann. Pendlerschwall um Pendlerschwall ergießt sich dann aus den Waggons auf die Bahnsteige: ein Endspurt tausender Arbeitersohlen und Stöckelschühchen, der zum atemlosen Rhythmus New Yorks verschmilzt. Passagierwellen fließen die Bahnsteige entlang und schwappen die Rampen zur Haupthalle hinauf, wo sie sich in einem gigantischen Menschenstrudel mischen, um sich gleich wieder zu teilen – die einen Pfadfinder im Großstadtdschungel strömen hinunter in die U-Bahnen, die anderen schwemmt es hinaus auf die Straßen und Avenuen. Wenn etwas New York City in Bewegung hält und der Stadt ihr Tempo vorgibt, dann ist es dieses Gebäude: der größte Bahnhof der Welt.

Seit 100 Jahren atmet das Grand Central Terminal so viele Menschen aus und ein wie kein anderer Ort in Manhattan. 63 Gleise enden hier an 45 Bahnsteigen, und während der morgendlichen Rushhour hält alle 58 Sekunden ein Zug – 700 sind es an einem normalen Werktag. Der Palast der Pendler kommt nur in der Nacht ein wenig zur Ruhe, für gerade dreieinhalb Stunden von zwei Uhr bis halb sechs, wenn das Reinigungspersonal die Gänge wischt und die Sicherheitsbeamten ihre Runden drehen.

Kurz danach summt die Beaux-Arts-Kathedrale wieder wie ein Bienenstock. Mittags, wenn die meisten Touristen den Bahnhof besuchen, ebbt der Menschenstrom kurz ein wenig ab. Doch dann beginnt am Nachmittag der kollektive Exodus, wie aus einem gigantischen Termitenbau, dessen Bewohner flügge werden: Wer am Morgen in die Stadt kam, fährt nun wieder nach Hause.

Mittendrin im Gewühl steht Dan Brucker. Er ist Sprecher des Bahnhofsbetreibers Metro-North Railroad und kann in dieser Funktion Fakten zur Pünktlichkeit der Züge (98 Prozent) und der Zahl der Passagiere (zwei Milliarden in den zurückliegenden 20 Jahren) auswendig herunterbeten. Viel lieber aber spricht er für das Gebäude selbst – wohl kaum einer kennt das Grand Central Terminal so gut wie er. „700 000 Menschen ziehen hier jeden Tag durch – wir sind das meistbesuchte Gebäude der Stadt.

Doch wer nimmt sich die Zeit und achtet auf die Details? Niemand!“ Das stimmt natürlich nicht wirklich: Wer den Bahnhof mit einem Audioführer erkundet, hat neuerdings Dans Geschichtenerzählerstimme im Ohr, die einen kreuz und quer durch die Hallen leitet. Und wer ihn persönlich antrifft, vor dem Informationspavillon in der Haupthalle („durchschnittlich werden hier 1000 Fragen pro Stunde gestellt“), bekommt eine Privataudienz. Vorausgesetzt, man zeigt Interesse an seinem Bahnhof – und bringt damit sein Herz zum Schwingen.

„Sieh! Dort oben, 125 Fuß über uns, die Sterne“, ruft er. Eine Handvoll Zuhörer schart sich wissbegierig um den Propheten, der auf die blau ausgemalte Decke mit dem astronomischen Gemälde zeigt. „2500 sind es. 60 davon leuchten, weil man einst Glühbirnen eingebaut hat. Doch was ist das Besondere? Der Künstler hat einen Fehler gemacht – der Sternenhimmel ist spiegelverkehrt!“ Außerdem hat das Universum ein schwarzes Loch: 1957 stellte die US-Army im Grand Central Terminal eine Rakete aus, um die durch den Sputnik-Start der Russen verunsicherten New Yorker in ihrem Patriotismus zu bestärken. Doch die Redstone-Rakete passte einfach nicht in die 40 Meter hohe Halle, und so musste man für die Spitze des Himmelsstürmers ein Loch ins Dach bohren.

Das geheime Gleis 61

Jugendstilfassade vor Wolkenkratzern.
Jugendstilfassade vor Wolkenkratzern.

© Helge Bendl

Diese Show hätte Cornelius „Commodore“ Vanderbilt vermutlich gefallen. Der Patriarch einer der einflussreichsten Familien der Stadt, die auch die New York Central and Hudson River Railroad kontrollierte, war ein Freund großer Gesten und visionärer Ideen. 1903 gab er seinem Chefingenieur William J. Wilgus grünes Licht für den Bau eines Bahnhofs für elektrisch betriebene Züge, der prunkvoller und imposanter sein sollte als alles, was die Vorgänger im Zeitalter der Dampflok errichtet hatten. Nach zehn Jahren Bauzeit wurde die neue Eisenbahn-Kathedrale am 2. Februar 1913 eröffnet.

Sie hatte Vanderbilt und seine Partner, in heutiger Kaufkraft gerechnet, mehr als zwei Milliarden Dollar gekostet. Die Investition machte sich bezahlt, und sie symbolisierte New Yorks Aufstieg. Denn wirklich alles war groß und teuer und erinnerte an Tempel und Paläste: die riesigen Hallen mit ihrem weißen Marmor und dem fein polierten Sandstein, die großen Bogenfenster mit ihren Catwalks, die tonnenschweren vergoldeten Kronleuchter.

Am liebsten erzählt Dan Brucker die Geschichte, wie die ehemalige First Lady Jacqueline Kennedy-Onassis das Grand Central Terminal in den 1970er Jahren rettete, als Immobilienentwickler hier Hochhäuser bauen wollten. Doch ebenso interessant ist die Geschichte, die Dan Brucker nicht erzählt. Oder vielmehr: die er einem nicht erzählen darf, weil die Metro-North Railroad manches Geheimnis lieber für sich behalten möchte. Da gibt es zum Beispiel einen Bahnsteig an Gleis 61, obwohl dieses Gleis auf keinem Fahrplan auftaucht und auch nie auf den Anzeigetafeln in der Haupthalle. Doch weilt der amerikanische Präsident in Midtown Manhattan, herrscht an Gleis 61, tief unter der Erde, plötzlich Betrieb.

Für den Notfall stehen dann dort Lokomotive und Waggons bereit, um den Politiker schnell aus der Stadt zu lotsen. Eine Treppe und ein Aufzug führen von der 49. Straße zum „Waldorf-Astoria-Bahnsteig“, der den Namen des darüber gebauten Hotels trägt. Einen Hinweis auf den geheimen Zugang, den laut historischen Zeitungsartikeln bereits der an Polio leidende und deshalb an den Rollstuhl gefesselte Präsident Roosevelt benutzt haben soll, gibt es natürlich nicht: Die goldfarben schimmernde Fahrstuhltür ist laut Schild nur ein Notausgang. Das Prominenten-Gleis ist immerhin noch auf alten Karten verzeichnet.

Doch der Bereich „M42“ taucht nicht einmal in den Bauplänen des Bahnhofs von 1913 auf. Dass es dieses Areal gibt, wurde erst vor einigen Jahren offiziell bestätigt, und so darf nun auch Dan Brucker aus dem Nähkästchen plaudern. Zehn Stockwerke tief unter der Haupthalle – die genaue Lage ist immer noch geheim – befindet sich der Saal mit dem elektrischen Herz von Grand Central. M42 – der Code für die Adresse des Bahnhofs an der 42. Straße – beherbergte einst zwölf gigantische Drehkonverter, die den gesamten Bahnverkehr an der amerikanischen Ostküste mit Gleichstrom versorgten.

„Let’s meet at the clock“

Platz ist auch für Verliebte.
Platz ist auch für Verliebte.

© Helge Bendl

„Während des Zweiten Weltkriegs war dies die Achillesferse der Armee: Alle Truppenbewegungen in der Region hingen davon ab“, sagt Dan Brucker. Das perfekte Ziel für Sabotage. „Ein Eimer Sand in die rotierenden Schaufeln, und alles hätte stillgestanden.“ Soldaten bewachten die untersten Geschosse des Bahnhofs rund um die Uhr und hatten Schießbefehl. Tatsächlich entsandte Hitler-Deutschland im November 1944 zwei Agenten nach New York. Doch die Spione wurden entdeckt, die Mission schlug fehl. Und was brummt heute hinter der massiven Fahrstuhltür tief unter der Haupthalle? Dan Brucker lächelt – und bleibt die Antwort schuldig.

Als Ausgleich führt er seine Besucher zum „Biltmore Room“, dem Kuss-Zimmer des Bahnhofs, wo sich einst die so sehr vermissten, aus der Ferne angereisten Liebsten mit den Daheimgebliebenen trafen und dann schnell in den Hotels der Umgebung verschwanden. Heute reist Amerika zwar nicht mehr mit Luxuszügen wie dem „20th Century Limited“, doch heftig geherzt und geküsst wird im Grand Central Terminal immer noch: Der Bahnhof gilt als einer der romantischsten Orte der Stadt.

New Yorker verabreden sich hier für ein Date und einigen sich auf „Let’s meet at the clock“, um sich unter der 20 Millionen Dollar teuren vierblättrigen Uhr aus Opalglas tief in die Augen zu schauen. Wer ein wenig mehr Abstand mag, lässt im Flüstergewölbe Liebesworte ans andere Ende einer Passage transportieren. Für einen Manhattan trifft man sich im Campbell Apartment, heute eine Bar und einst die Realität gewordene Fantasie des Industriellen John W. Campbell, der sich in einem Seitentrakt des Bahnhofs einen Salon wie im Florenz des 13. Jahrhunderts bauen ließ – samt Orgel und Perserteppichen.

Und die wirklich unerschrockenen Verliebten? Die kommen aus aller Welt und geben sich mitten in der Haupthalle, in aller Öffentlichkeit das Ja-Wort – im Hochzeitsstaat, umtost vom Sturm der Pendler. In solchen Momenten schlägt das Herz der Stadt dann besonders laut.

Das Grand Central Terminal liegt an der 89 East 42nd Street in Manhattan, erreichbar über mehrere U-Bahn-Linien. Geöffnet täglich von 5 Uhr 30 bis zwei Uhr in der Nacht. Mit 68 Läden und 35 Restaurants ist der Bahnhof auch ein veritables Einkaufszentrum. Berühmt ist die 1913 eröffnete Oyster Bar.

Individuelle Audioführung (auch auf Deutsch) von 9 bis 18 Uhr für sieben US-Dollar, Infos im Bahnhof am Schalter „GCT Tours“. 75-minütige englischsprachige Touren starten täglich um 12 Uhr 30 (20 Dollar, Tickets unter mas.com/tours). Für 4,99 Euro gibt’s eine Audiotour fürs Smartphone (myorpheo.com/official- grand-central-tour).

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