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070707strandhotel

© Brockmann

Nobelherberge: Haus der Geschichte

Es war Nobelherberge. Dann war es ein Kinderheim. Später wurde es Marinestützpunkt. Nun soll das Haus wieder Hotel werden.

Unten branden die Wellen an die Mole, oben sitzt der weißhaarige Zoltan Margyar und blickt über seinen aufgeklappten Laptop auf die blaue Bucht der Adria. Auf dem Bildschirm leuchten Fotos von einem österreichungarischen Husarenrittmeister, Herrschaften in altmodischen Badeanzügen oder italienischen Besatzungsoffizieren in adretten weißen Uniformen. Die Vergangenheit. Hinter dem offenen Fenster glitzert im Frühsommerlicht der größte Fjord des Mittelmeers – die Bucht von Kotor in Montenegro. Die Gegenwart. Zoltan, 79 Jahre alt, ist angekommen, und seine Reise war lang. Geografisch nur ein paar hundert Kilometer, von Karlsruhe nach Herzeg Novi, kurz hinter der montenegrinischen Grenze zu Kroatien. Biografisch dauerte sie ein ganzes Leben. Denn in diesem Haus wurde Zoltan geboren.

Es war damals das Hotel seines Großvaters, Dr. Anton Margyar, des Husarenrittmeisters, Sprosses einer wohlhabenden Bürgerfamilie. Ein Haus mit wechselvoller Geschichte, das den Niedergang der Donau-Monarchie, den Ersten und Zweiten Welt, die Ära unter Tito und schließlich den jugoslawische Bürgerkrieg überstand: einst k. u. k. Nobelherberge, dann Quartier deutscher und italienischer Besatzer, nach der Befreiung durch die Partisanen wieder Hotel, dann sozialistisches Kinderverschickungsheim und am Ende Hauptquartier der serbisch-montenegrinischen Admiralität.

Vor drei Monaten ist Zoltan zurückgekehrt. Das Gebäude ist leer, aber die Eingangstür versperrt, und einen Schlüssel hat er nicht. Wie ein junger Hausbesetzer kraxelt der Mann, nach einem schweren Autounfall in Deutschland einäugig und links mit einer Beinprothese, in den ersten Stock im Seitenflügel des ehemaligen Strandhotels. Genau in sein ehemaliges Zimmer mit Aussicht aufs Meer, in dem er einst seine Jugend verbracht hat. „Vor allem träumend“, wie er sich erinnert.

Damals kaum ahnend, was auf ihn, das Hotel und Jugoslawien noch zukommen würde. Verfolgt hat er später die Geschichte seines Geburtshauses aus der Ferne und machtlos. Zunächst als junger Bauingenieur aus Belgrad, dann als Gastarbeiter und schließlich Rentner aus Deutschland. Bis vor einem Jahr, als Montenegro sich von Serbien verabschiedete und als souveräner Staat von der internationalen Gemeinschaft aufgenommen wurde – als letztes Spaltprodukt des ehemaligen Jugoslawien und nun 192. Mitglied der Uno.

Als er am 17. April 2007 durchs Fenster in das Turmzimmer des einstigen Hotels steigt, ist die Villa bereits von der Admiralität geräumt. Sie gehört jetzt offiziell dem neuen Staat. Aber im kapitalistischen Montenegro gibt es eine Stelle für Rückübertragungen alten Eigentums. Dieser Behörde teilte Zoltan sein Vorhaben mit, bevor er sich in seinem gelben Renault mit Bettdecken, ein wenig Werkzeug und einer Taschenlampe aus Karlsruhe aufmachte. Er schrieb, dass er mit seinen Geschwistern der rechtmäßige Erbe sei und das Haus nun in Besitz nehmen wolle. „Keine Antwort“ wollte er als Einverständnis begreifen. Er erhielt keine Antwort.

Was Zoltan dann vorfindet, gleicht einer hektisch geräumten Kommandozentrale: In den verlassenen Räumen liegen noch Seekarten und stapelweise propagandistische Zeitschriften für die Soldaten im Kampf gegen die Nato herum; zwischen billigem Mobiliar eine alte Offiziersmütze, Stahlhelme, ein Feldstecher, das ausgeschlachtete Gerippe eines Fotokopierers. Eine gespenstische Szenerie, wäre da nicht das freundliche Sonnenlicht.

„Ich hab erst mal einen Schreck gekriegt über das Ausmaß der Zerstörung“, erzählt Zoltan. Einige Fensterscheiben sind kaputt. Glas knirscht unter seinen Füßen, als er über den original Parkettboden durch die Flure läuft. Aus den Wänden ragen gekappte Telefondrähte, Strom- und Wasserleitungen sind abgestellt. Es ist ein totes Haus, in dessen Inneres der alte Mann vordringt. Auf der Suche nach einer Erinnerung. Sein Geburtszimmer ist leer: Wo einst das Bett der Eltern stand, liegt jetzt nur noch Staub auf den Holzdielen.

Die Mauern stehen, das Dach scheint dicht, aber vom einst mondänen Glanz des „Strandhotels“ sind nicht viel mehr als die vom künstlerisch veranlagten Vater einst handgeschnitzten Geländer übrig. Neben alten Vitrinen stehen rostige Blechtische, auf original Bodenfliesen stehen Spanplattenmöbel mit Resopalfurnier. An der hohen Decke hängen sozialistische Siebziger-Jahre-Lampen. Der einst großbürgerliche Geist zeigt sich noch in den riesigen Bogenfenstern der Eingangshalle, doch wo einst der verzierte Sekretär stand, an dem damals die Gäste empfangen wurden, steht jetzt ein billig getäfelter Tresen, der wohl als Rezeption der Admiralität diente. Draußen im verwilderten Garten der Villa treiben sich zwei herrenlose Hunde herum. Sie bellen, aber beißen nicht. Sollen sie bleiben, denkt sich der neue Hausherr. Das Gebäude, erkennt der Architekt, muss entkernt werden. Aber das entmutigt ihn nicht. Die Lage ist traumhaft, der Zustand ein Desaster und Zoltan ein Idealist.

Zwischen all dem Gerümpel sucht Zoltan nach Verwertbarem: ein Bett, eine Matratze, einen Tisch. Was er gebrauchen kann, schleppt er in sein ehemaliges Jugendzimmer im Seitenflügel. Baut sich so sein eigenes Lagezentrum. Die ersten Nächte schläft er noch bei seiner Schwester im 50 Kilometer entfernten Kotor. Doch noch bevor Zoltan Elektrizität hat, schlägt er sein Lager im verlassenen Haus auf. Licht kommt aus Gaslampen. Wasser aus Trinkflaschen. Statt zu duschen, badet er im Meer.

Als rechtschaffener Bürger hat er sich nach seiner Ankunft bei den zuständigen Behörden gemeldet. Die Rückübertragungsstelle gibt ihm recht, begeht aber einen Verfahrensfehler – alles wieder in der Schwebe. Aber Zoltan gibt nicht auf. Stattdessen entwirft er in seinem ehemaligen Jugendzimmer Pläne für die Renovierung des Hotels. Er weiß, er braucht einen Investor, auch wenn allein das Grundstück zwei Millionen wert ist. Seine Kinder und Enkelkinder sind mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Demnächst will ihn immerhin seine Ehefrau besuchen. Dann soll es etwas wohnlicher sein. Über seinem Jugendzimmer richtet Zoltan, ebenfalls aus dem Restmobiliar der Admiralität, ein Schlafzimmer her. Unermüdlich und so gut wie ohne fremde Hilfe werkelt er. Nach zwei Monaten gibt es Strom und ein paar Tage später auch fließendes Wasser.

Inzwischen kennt man den alten Mann im Ort. Man respektiert den Fremden, der doch eigentlich von hier ist. Selbst der neue Chef der nun montenegrinischen Admiralität kommt vorbei. Er wünscht dem Hausbesetzer Glück. Der neue Staat braucht keine Marine mehr. Der Krieg ist längst zu Ende, Montenegro am Westen orientiert und interessiert an Touristen. Auch der kleine Ort Herceg Novi (13 000 Einwohner) bereitet sich nach seiner Geschichte unter wechselnden Fremdherrschaften auf die erste unabhängige Saison vor.

Von 1482 bis 1687 ist der Ort von den Türken besetzt, dann folgen die Venezianer und dann die Franzosen. Ab 1814 dehnt sich das Habsburger Reich aus bis nach Herceg Novi. Und als 1902 der erste Zug aus Budapest über Brod in den neuen Bahnhof einläuft, beschließt Zoltans Großvater zu bauen. Denn die Reisezeit aus der ungarischen Hauptstadt, hat sich mit dem neuen Bahnhof auf zwei Tage verkürzt.

Zunächst entsteht eine Villa für die Familie. Ein kleiner Palast mit roten Ziegeltürmen, architektonisch dem „Arsenal“, einem Militärgebäude in Wien, nachempfunden. Dazu gehören zehn Hektar Parklandschaft. Sie geben dem bis 1905 zur Pension „Am grünen Strande“ erweiterten Gebäude den Namen.

In seinem „Reisealbum“ hält der ungarische Geograf Rezsö Havass seinen ersten Eindruck fest: „Die Schönheit der Landschaft wird mit den im Hintergrund sichtbaren hohen Bergen gesteigert. Eine fröhliche Gesellschaft ist hier zusammen. Wir schließen uns den Badegästen an und genießen die schöne Aussicht …“ Später „setzt sich die liebenswürdige Hausherrin an das in der Veranda stehende Piano und stimmt eine lustiges ungarisches Lied an.“

„Es war hochherrschaftlich, 35 Zimmer, eine große Terrasse zum Fjord hin, auf dem die Gäste in hoteleigenen Booten ruderten,“ erinnert sich Zoltan: „Darunter Generäle und Grafen.“ Jedenfalls bis zum Ersten Weltkrieg.

Als Zoltan hier 1928 geboren wird, ist sein Großvater bereits tot, die Eltern führen nun das Hotel. Der Vater nennt es „Strandhotel“. Doch mit dem Ersten Weltkrieg ist auch die Donau-Monarchie zu Ende und Herceg Novi gehört zum Königreich Jugoslawien.

Die Gäste kommen noch immer zumeist aus Ungarn, aber auch aus der Tschechoslowakei; in Deutschland werben Anzeigen um zahlungskräftige Touristen für „Das erste Unternehmen in Süddalmatien, dessen Zweck es ist, den Fremden einen bequemen, vergnügten Erholungsort für längere Zeit zu bieten … Das Palais steht mit dem Fuße seiner Hauptfront unmittelbar im Meere. Die Folge dieser Anlage ist, dass die Gäste sich in ihrem Privatzimmer zum Bad aus- und ankleiden können … Das Bad ist gratis … Badesaison von Mai bis Oktober.“ Es werden Ausflüge bis nach Albanien organisiert. Tatsächlich beginnt erst mit dem Hotel auch der Tourismus in der Region.

Als der Zweite Weltkrieg beginnt, ist Zoltan elf. Er kommt für zwei Jahre aufs Gymnasium in Budapest. Als er zurückkehrt, sind die Italiener da; von 1941 bis 1943 ist Herceg Novi italienisch besetzt. Die Offiziere „in ihren schicken Uniformen wohnten bei uns im Strandhotel“, erinnert sich Zoltan. „Sie waren freundlich. Nicht einfach nur Besatzer, sie wollten uns zu Italienern machen.“ Das freundliche Klima ändert sich, als die Deutschen kommen. Auch ihre Offiziere quartieren sich im Strandhotel ein. Doch die kommunistisch-jugoslawischen Partisanen unter Tito kommen immer näher. Die Deutschen werden nervös. Auf dem Festland können sie sich kaum noch bewegen, und am 28. Oktober 1944 flüchten sie über das Meer.

Der kleine Ort Herceg Novi wird der Teilrepublik Montenegro zugeschlagen; Zoltan und seine Verwandten werden jugoslawische Staatsbürger. Und es dauert nicht lange, bis das Hotel verstaatlicht wird. 1948. Zoltans Vater geht seinen künstlerischen Neigungen nach, seine Mutter arbeitet im Hotel als Buchhalterin. Der Sohn kommt auf die Technische Mittelschule. Später studiert er in Zagreb und Belgrad Bauwesen.

Titos Sozialismus entwickelt sich freier als der im Rest des Ostblocks. Langsam entdeckt der Westen die jugoslawische Küste wieder als Reiseziel. „Aber als der Tourismus gerade in Schwung kam,“ so Zoltan, „war das Strandhotel bereits sozialistisch abgewirtschaftet.“ 1960 verkommt es zu einem Kinderverschickungsheim.

Zoltan hat derweil seine Ausbildung beendet. Der junge Bauingenieur wird Hobbypilot und heiratet eine Donau-Schwäbin. Das verstaatlichte Hotel in seinem Heimatort gerät aus seinem Blickwinkel. Stattdessen reist das junge Paar 1970 als Gastarbeiter nach Deutschland aus. Sie arbeiten hart. Die Zukunft sieht gut aus, sie bekommen zwei Kinder, – dann passiert der Autounfall. Zoltan verliert ein Auge, Teile seines Kiefers, sein linker Unterschenkel wird amputiert. Er ist 47 Jahre, und auf Dauer behindert. Aber er gibt nicht auf. Arbeitet nach der Genesung sofort wieder – bis zum Vorruhestand mit 60. Dann schreibt er sich als Student der Literaturwissenschaft in Karlsruhe ein. Längst ist er deutscher Staatsbürger.

„Mit mehreren Kulturen ist man reicher,“ sagt Zoltan, der neben Ungarisch, Serbokroatisch und Deutsch auch fließend Spanisch spricht: „Mein Geburtsort gehört heute zu Montenegro, aber im Herzen bin ich Ungar. Und ungarisch rede ich mit meinen Kindern.“

Dennoch sitzt er jetzt hier, in diesem kleinen Kaff, und haust in einem halbkaputten Haus, und das mit 79 Jahren: ein Rentner, dessen Frau lieber im gemeinsamen Haus in Spanien weilt, das sie 1988 kauften, weil Zoltan in Karlsruhe stets das Meer vermisst hat. Ein weiteres Haus besitzen sie in Budapest. Nein, nötig hat er dieses Abenteuer nicht. „Aber jemand muss das Gebäude doch vor Vandalismus schützen“, sagt er, bevor er vom Stuhl aufspringt und Gipsmasse anmischt. Am Nachmittag soll die Spüle geliefert werden, die er im Ort bestellt hat, da will er vorher noch schnell die Rohre verputzen.

1996 schließt er sein Studium als Magister ab und schreibt in Budapest seine Dissertation im Fachbereich Geschichte – seit dem nennt er sich Architekturhistoriker. Natürlich verfolgt er den Zerfall Jugoslawiens und das Schicksal des Hotels. Durch Zeitungen und Freunde erfährt er, dass sich 1991 die serbische Kriegsadmiralität das Haus zu eigen macht und von hier aus Angriffe gegen Kroatien und Bosnien lenkt.

Heute liegt dieser Krieg Jahre zurück, auch wenn Radovan Karadzic, der größte serbische Kriegsverbrecher, noch immer frei herumläuft. Montenegro, das damals an Serbiens Seite stand, versucht, sich ein neues Image zu geben, sich von der unrühmlichen Rolle während des Bürgerkriegs abzulösen. An Kroatien hat es dafür sogar Entschädigungen gezahlt. Die Beziehungen haben sich normalisiert, auch wenn der Grenzverkehr eher dürftig ist. Kroatien ist Montenegro weit voraus. Wenn Zoltan etwas Spezielles braucht, fährt er nach Dubrovnik, denn da gibt es einen Baumarkt, in Herceg Novi nur kleine Eisenkrämer.

Nicht dass der alte Mann versucht, auf eigene Faust das Hotel zu sanieren, aber sichern, das schon. Und ein erstes Ziel hat er schon erreicht: Das Strandhotel wird als Denkmal und Kulturerbe Montenegros anerkannt. Und als historische Pionierleistung eines Ungarn für den Tourismus des Landes – 1905.

Es ist Abend. Zoltan schaltet den Laptop aus, die Bilder vom Husarenrittmeister, italienischen Besatzungsoffizieren und den altmodisch gekleideten Badegästen erlöschen auf dem Bildschirm. In der Dämmerung brandet das Meer sanft gegen die Mole – bereit für die Gäste eines neuen Strandhotels in einem neuen Land.

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