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Rast im Flussbett. So entspannt wie hier geht es auf einer Kanu-Wandertour in den Fluten des Nahanni River wahrlich nicht immer zu. Die Wildnis der Northwest Territories in Kanadas Norden hat es in sich.

© Marc Vorsatz

Reise: So weit die Strömung trägt

Der Norden Kanadas taugt für viele Abenteuer. Besonders spektakulär: eine Kanutour auf dem South Nahanni River.

Das wird kein Trip für Warmduscher, so viel ist bereits im Vorfeld klar. Schon der Beginn unserer Tour gestaltet sich recht abenteuerlich. Hoch im Norden Kanadas, im Provinznest Fort Simpson, treffen wir unsere Guides, die Umweltwissenschaftlerin Jenn Redvers und den angehenden Biologen Robert Norton sowie zwei erfahrene Hobbypaddler mit Sinn fürs Außergewöhnliche aus Ottawa. Die Begrüßung ist herzlich, die Chemie stimmt.

So weit die Kür, doch dann schon ruft die Pflicht. Wir müssen unsere drei Kanus und, wie es scheint, unendlich viele kleine, aber schwere Fässer in ein Wasserflugzeug bugsieren. Zu guter Letzt krabbeln wir selbst in die Twin Otter, diesen unverwüstlichen Allesflieger made in Canada. Keine Maus würde mehr in die Maschine passen. Wir gurten uns irgendwie zwischen Booten, Proviant und Isomatten fest. Minuten später haben wir die Zivilisation verlassen und bei einem Blick aus dem Fenster bekommen wir eine leise Vorahnung von dem, was uns in den kommenden Tagen erwartet: Wildnis so weit das Auge reicht. Kein einziger Ort. Nirgends.

Unser einstündiger Flug endet mit einer gekonnten Ehrenrunde knapp über den höchsten Wasserfällen von Nordamerika, den Virginia Falls. Die entfesselten Wassermassen des Nahanni stürzen 92 Meter senkrecht in die Tiefe. Damit sind sie doppelt so hoch wie die Niagarafälle und werden trotzdem nur von 950 Urlaubern pro Jahr besucht. Die abenteuerliche Landung „auf dem schönsten Flughafen der Welt“ zerrt ein wenig an unseren Nerven. Der Pilot des Wasserflugzeugs setzt beherzt nur 300 Meter vor der Abbruchkante auf. Genau dort, wo der Fluss langsam Fahrt aufnimmt in Richtung Abgrund.

Lautlos zieht ein Weißkopfseeadler seine Kreise

Bereits seit 1978 gehört der Nahanni Nationalpark zum Unesco-Weltnaturerbe. In die abgelegene Wildnis des tierreichen Parks mit Wölfen, Grizzlybären und Karibus führen keine Straßen. Zu erreichen ist der Park lediglich mit dem Boot oder dem Wasserflugzeug. Der South Nahanni River mit seinen tiefen Schluchten gilt als ideales Gebiet für Wildwasserfahrten.

Der Anflug sollte nur die Ruhe vor dem Sturm gewesen sein. Vor den Unterlauf des Nahanni hat Gott ja nicht nur die Virginia Falls, sondern auch einige Galonen Schweiß gesetzt: Wir müssen unsere Kanus und sämtliches Gepäck 113 Höhenmeter hinunterschleppen, um zum Wasser unterhalb der Fälle zu gelangen.

Dort beladen wir die Canadier, zwängen uns in wasserdichte Neoprenanzüge, setzen Schutzhelme auf, knipsen schnell ein Gruppenfoto – und los geht’s. Unvermittelt werden wir von der Strömung des Weißwassers mitgerissen, rauschen durch die tiefe Schlucht des „vierten Canyons“ und haben dabei überraschend enge Kurven zu meistern.

Nach den ersten sportlichen Kilometern wird der Fluss deutlich breiter und ruhiger. Wir nehmen unsere Schutzhelme ab und finden Muße, die schwergewichtigen Trompeterschwäne mit ihren markanten schwarzen Schnäbeln etwas näher zu betrachten. Ein paar Etagen weiter oben, hoch über dem Canyon, zieht lautlos ein Weißkopfseeadler seine Kreise. Er sucht wohl das milchige Wasser nach Arktischen Äschen und Amerikanischen Seesaiblingen ab.

Die Northwest Territories sind größer sind als jedes Land in Europa

Zu Füßen der Funeral Range zwischen dem vierten und dritten Canyon schlagen wir unser Zeltlager auf. Im Handumdrehen haben Jenn und Rob in geübter Manier eine „Küche“ gebaut: Zwei Kanus kopfüber im rechten Winkel, eine Zeltplane als Dach, das war’s. Und schon wenig später sind saftige Steaks, Bohnen mit Speck und Folienkartoffeln servierfertig. Für die ersten Tage geben die Vorräte sogar noch einen knackigen Salat her.

Auch Jenn als Vegetarierin mit Glutenallergie bekommt ihre „Extrawurst“. Und als ob dies alles noch nicht genug des Guten wäre, backen die Guides einen wunderbaren Kuchen in einem altmodischen Backwunder, das sie an Ober- und Unterseite mit glühender Holzkohle befeuern.

Während wir am Lagerfeuer im Kreis sitzen und auf unseren bereits herrlich duftenden Walnusskuchen warten, singt Rob zur Gitarre. Handgemachte Songs aus fast vergessenen Tagen: „Bad Moon Rising“ von Creedence Clearwater Revival, Songs von Johnny Cash und immer wieder Bruce Springsteen. „I’m on Fire“ sollte unser Nahanni-Song werden. Schon beim zweiten Zuhören summen wir mit. Oh, oh, oh, I’m on fire…

Endlich sind wir angekommen im Wilden Westen Kandas. In seinem nördlichsten Winkel, den Northwest Territories, die mit rund 1,3 Millionen Quadratkilometern größer sind als jedes Land in Europa, und wo irgendein menschlicher Einfluss bis heute nicht zu erkennen ist.

Willie und Frank McLoad wurden enthauptet aufgefunden

Einfahrt ins Höllentor. Der Fluss wird schmal, die Felswände ragen steil auf.
Einfahrt ins Höllentor. Der Fluss wird schmal, die Felswände ragen steil auf.

© Marc Vorsatz

Morgens geht es in unserer Truppe richtig stimmungsvoll zu. Nur keinen Stress! Wer mag, nimmt ein erfrischendes Bad, versucht sein Glück beim Angeln, beobachtet ein paar Waldkaribus auf der Anhöhe oder macht einfach nichts, außer vielleicht auf die frisch gebackenen Baguettes zu warten.

Eine moderate Strömung trägt uns nach Frühstück und Lagerabbau gemütlich flussabwärts. Wir paddeln durch die Berge der Headless Range, vorbei an einem Saum aus bunten Blüten und hinein in den gewaltigen dritten Canyon und unserem neuen Lager für die Nacht entgegen.

Nach dem Abendessen (Steaks, Bohnen mit Speck, Folienkartoffeln) erzählt uns Jenn beim Schein des Lagerfeuers dann vom kriegerischen Volk der Naha, das hier irgendwann auf mysteriöse Weise für immer spurlos verschwand. Sie berichtet von einer mächtigen unentdeckten Goldader, die Abenteurern des vergangenen Jahrhunderts unermesslichen Reichtum versprach und letztlich doch nur den Tod brachte. Von Legenden und historisch belegten Ereignissen, die sich im Nahanni für immer auf untrennbare Weise miteinander verwoben haben.

Gruselige Geschichten, wie die der McLoad-Brüder, die eine ganz reale ist: 1905 folgten Willie und Frank McLoad dem Lockruf des Goldes. Als man nie wieder etwas von ihnen hörte, machte sich ihr Bruder Charly 1908 auf die Suche. Monate später fand er schließlich ihr Zeltlager. An einem Baum lehnte noch ihr inzwischen verrostetes Gewehr, dann entdeckte er die sterblichen Überreste seiner Brüder – beide enthauptet. Kein Mensch weiß von wem.

Viele Abenteurer sollten dieses grausige Schicksal teilen. Der schwedische Goldsucher Martin Jorgenson zum Beispiel. Gefunden 1917, ohne Kopf. Bis in die 1960er Jahre währte dieser Spuk. Stoff genug für die fantastischsten Theorien bis in die Gegenwart.

Steil ragt das Höllentor empor

Andere überlebten den Nahanni. In den 1920er Jahren machte sich der britische Oxford-Absolvent, Kurzzeit-Banker und Langzeit-Abenteurer Raymond M. Patterson mit einem Kanu auf die Suche nach der sagenhaften McLoad-Mine, fand jedoch nichts als pure Wildnis. Drei Jahrzehnte später verhalf er dem bis dahin völlig unbekannten Fluss zu einem Platz in der Weltliteratur: 1954 veröffentlichte er seine Erinnerungen in dem Buch „The Dangerous River“, der gefährliche Fluss.

Und das ist der Nahanni auf gewisse Weise auch heute noch. Vor jeder größeren Stromschnelle beraten Jenn und Rob gewissenhaft, wie diese am sichersten zu passieren sei. Mit oder ohne Helm? Auf kürzestem Weg mit Karacho durchs Weißwasser oder doch lieber ganz ruhig in großem Bogen umfahren?

Im zweiten Canyon wartet die vielleicht beeindruckendste Passage auf uns. Hell’s Gate, das Höllentor, politisch korrekt The Gate. Aber das sagt niemand. Der Nahanni muss sich hier durch zwei fast senkrecht emporstehende, 460 Meter hohe Steilwände zwängen und gewinnt dabei ordentlich an Geschwindigkeit. Spätestens an dieser Stelle glauben wir den Slogan der internationalen Kanuszene: „Was für Bergsteiger der Everest, ist für Wasserwanderer der Nahanni.“ Eines der letzten großen Abenteuer unserer Zeit im gleichnamigen Nahanni National Park Reserve, der 1978 von der Unesco zum ersten Weltnaturerbe überhaupt gekürt wurde.

Die Durchfahrt ist wahrhaft atemberaubend. Wir sausen durch die enge Schlucht, deren Wände höher in den Himmel ragen als die meisten Fernsehtürme dieser Welt. Hat der Nahanni River das Höllentor erst passiert, verleiht ihm der offene Canyon sogleich Weite und Ruhe.

Kein Katzenpfötchen. Schwarzbärspuren vorm Zelt, Camper sind gewarnt.
Kein Katzenpfötchen. Schwarzbärspuren vorm Zelt, Camper sind gewarnt.

© Marc Vorsatz

Unsere Küchenkanus hat der Bär intensiv beschnuppert

Unser nächster Morgen im Deadman Valley beginnt mit einem Mordsschreck. Wir hatten Besuch in der Nacht. Direkt vor unserem kleinen Zelt grub ein Schwarzbär seine Tatzen tief in den Sand. Wir nehmen uns fest vor, künftig auch nachts, falls die Natur ihren Tribut fordern sollte, mit Bärenspray bewaffnet hinterm Busch zu verschwinden.

Unsere Küchenkanus hat der ungebetene Gast besonders intensiv beschnuppert. Wenigstens 300 Meter müssen die immer von den Zelten entfernt liegen und sämtliche Lebensmittel hermetisch verriegelt werden. Das ist Vorschrift in Kanada und macht durchaus Sinn.

Der erste Canyon, unser letzer, sollte noch einmal alles an Größe und Erhabenheit in den Schatten stellen, was wir bis dahin erlebten. Bis zu 900 Meter tief hat sich der Nahanni hier in den Kalk- und Sandstein gefräst und sich dafür 200 Millionen Jahre Zeit gelassen. Macht einen knappen halben Millimeter in 100 Jahren. Voller Ehrfurcht paddeln wir durch dieses überwältigende Massiv und freuen uns über das Privileg, zu den wenigen Abenteuerlustigen auf dieser Welt zu gehören, die das mit eigenen Augen sehen dürfen.

Tipps für Kanada

Rast im Flussbett. So entspannt wie hier geht es auf einer Kanu-Wandertour in den Fluten des Nahanni River wahrlich nicht immer zu. Die Wildnis der Northwest Territories in Kanadas Norden hat es in sich.
Rast im Flussbett. So entspannt wie hier geht es auf einer Kanu-Wandertour in den Fluten des Nahanni River wahrlich nicht immer zu. Die Wildnis der Northwest Territories in Kanadas Norden hat es in sich.

© Marc Vorsatz

ANREISE

Wenig überraschend: Die Anreise von Deutschland aus ist schon etwas umständlich. Und kostspielig. Flug nach Calgary (etwa mit KLM für rund 1000 Euro), von dort nach Yellowknife (mit Westjet für 366 Dollar) und weiter nach Fort Simpson (Air Tindi, 410 Dollar). Ob die Bewältigung der Strecke Calgary–Fort Simpson im Auto eine Alternative ist, muss jeder selbst entscheiden. Schließlich sind immerhin 1700 Kilometer zurückzulegen.

In den Nahanni National Park gelangt man allerdings nur per Wasserflugzeug im Charter

DER FLUSS

Der nur 563 Kilometer lange South Nahanni River gilt unter Wasserwanderern als Kanadas Premium-Fluss schlechthin. Er durchströmt das Unesco-Weltnaturerbe Nahanni National Park Reserve (pc.gc.ca/nahanni) und hat bis zu 900 Meter tiefe Schluchten in den Fels geschnitten. Es ist eine der schönsten und ursprünglichsten Gegenden Kanadas.

PAUSCHAL

„Nahanni Gateway“ heißt die hier beschriebene zehntägige Kanutour von/bis Fort Simpson. Inklusive Flug mit Wasserflugzeug zu den Virginia Falls, Kanu und Zubehör, Zwei-Personen-Zelt, Vollverpflegung, zwei Guides, Transfers für 4995 Dollar (rund 3420 Euro), zuzüglich 175 Dollar Nationalparkgebühr. Buchbar bei blackfeather.com

AUSKUNFT

Kostenfreies Infomaterial gibt es unter nwt@infokanada.de. Weitere Informationen im Internet bei spectacularnwt.de und keepexploring.de

Marc Vorsatz

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