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"Nordstjernens" letzte Fahrt: Ab geht die Post

Die „Nordstjernen“, der Oldtimer der Hurtigruten-Flotte, ist schon 56 Jahre alt. Bald wird das Schiff ausgemustert. Doch vorher pendelte es noch ein letztes Mal an der Küste Norwegens.

Der Wassereinbruch kommt im Morgengrauen. Schon beim nächtlichen Ablegen in Tromsö war da so ein unbestimmtes Gefühl gewesen. Warum läuft das Schiff eine volle Stunde zu spät in den Hafen ein? Nagelt der Schiffsdiesel beim Anlassen nicht zu unregelmäßig? Und warum flackert die Kabinenbeleuchtung? „Ach was“, hatte sich der Gast gesagt, der Klabautermann werde die „Nordstjernen“ schon auf die richtige Betriebstemperatur bringen. Und tatsächlich, am folgenden Morgen herrscht ruhige See, das Duschwasser ist schön heiß, der Achtzylinder dieselt gemächlich im Takt wie es sich gehört, und die Stromspannung ist allem Anschein nach stabil.

Doch als der Gast aus der Dusche steigt, wird es offenbar: Die Kabine steht unter Wasser. Alarm schlagen? Der Klingelknopf ist gleich links neben der Tür. Moment. Erleichterung: Das Duschwasser versickert irgendwo so schnell, wie es gekommen ist. Offenbar ist die Nasszelle der Kabine 217 auf dem B-Deck einfach nicht mehr ganz dicht.

Schwamm drüber, schließlich ist die „Nordstjernen“ schon 56 Jahre alt. Noch einmal pendelt sie als Linienschiff Norwegens Küste bis zur russischen Grenze nach Kirkenes hinauf, anschließend wieder bis Bergen hinunter. 1552 Mal dieselte der Dampfer die Strecke schon hin und zurück, beförderte rund 1,5 Millionen Gäste, lief mehr als 100 000 Mal die vorgeschriebenen Häfen an. Wenn ein Schiff eine solche Leistung vollbracht hat, darf es schwächeln.

Wir sind auf einer der letzten Fahrten der „Nordstjernen“. Doch soll es wirklich vorbei sein? Das älteste Hurtigrutenschiff sollte bereits zwei Mal außer Dienst gestellt werden. Um dann doch wieder an der Küste Norwegens zu pendeln. Jetzt ist jedoch allem Anschein nach wirklich Schluss. Fast in jedem Hafen steht ein Blasorchester, kommt ein Bürgermeister an Bord – meist mit einem Strauß Lilien: Time to say Goodbye. Kapitän Asbjörn Dalan, ein halbes Jahr jünger als das Schiff, ist darüber nicht wirklich traurig. Sagt er. Der Klingelton seines Handys offenbart allerdings einen kräftigen Schuss Sentimentalität: „Tuut, Tuut, Tuuuuuut“. „So klang die ,Finnmarken‘“, sagt Dalan entschuldigend. Dieser Oldtimer ist bereits seit 1993 Teil des Hurtigruten-Museums. Sie haben ihn in Stokmarknes aus dem Wasser an Land gehievt.

Das Schiff war eigentlich schon 1956 antiquiert, als es vom Stapel lief. Selbst damals war der Stand der Technik höher als das, was bei Blohm+Voss in Hamburg zum Einsatz kam, eben auch die nach damaligen Maßstäben schon veraltete Elektrik. „Die macht uns heute immer wieder mal Probleme“, sagt Dalan. „Wir hatten schon mehrfach einen totalen Blackout. Es wird schließlich immer mehr technisches Gerät ans System gehängt.“ Und dann passiert wie in jedem Haushalt das, was passieren muss: Die Lichter gehen aus – und nichts geht mehr.

Natürlich könnte man das Schiff weiter betreiben, aber der Linienbetrieb – das ununterbrochene Fahren – ist zu hart für das Mädchen. Liebevoll fügt er hinzu: „Das Schiff braucht im Jahr einfach mal zwei, drei Wochen Ruhe, um sich zu erholen.“

Das Wichtigste ist das Landschaftserlebnis

Kabeljau, das "Gold" der Lofoten. Zunächst auf großen Holzgestellen luftgetrocknet, wird der Stock- oder Klippfisch dann überwiegend nach Italien und Portugal exportiert.
Kabeljau, das "Gold" der Lofoten. Zunächst auf großen Holzgestellen luftgetrocknet, wird der Stock- oder Klippfisch dann überwiegend nach Italien und Portugal exportiert.

© gws

Wir erreichen Bronneysund – die Stadt, die jeder Norweger kennt. Denn hier ist der Sitz des zentralen Autoregisters, der zentralen Firmen- und Personenregister. Bronneysund weiß alles über die Norweger. Der Hafen riecht zu dieser Jahreszeit nach Kabeljau. In Bronneysund bringen ihn die Fischer in großen Plastikwannen. Eingepackt in Eis verschwindet der Fang im Bauch der „Nordstjernen“.

Nach dem Mittagessen – Kabeljau, Rogen – vergießt Christel Anna Teifer beim Ablegen in Bronneysund Abschiedstränen. Mit ihrem Norwegen-Wimpel winkt sie den Bronneysundern an Land zu. Die Leiterin des Nordkap-Museums in Honningsvag kann nicht verstehen, dass Schluss sein soll mit dem Auf und Ab des Oldtimers an Norwegens Küste. „Bald kommt sie nicht mehr, das ist so traurig.“ Die Deutsche, die schon seit vielen Jahren in Norwegen lebt, hat sich in das Schiff verliebt. „Die ,Nordstjernen‘ und die ,Lofoten‘ fahren immer, auch bei starkem Wind“, erzählt sie. Sie sind stabiler als die modernen Schiffe, weniger windanfällig. Was soll überhaupt der ganze Komfort an Bord? Das Wichtigste ist doch das Landschaftserlebnis.“

Was ist auf einem solchen Schiff sonst noch anders als auf den modernen? „Wir müssen mehr mit den Elementen arbeiten, nicht gegen sie. Wenn wir in den Hafen fahren, müssen wir einen Plan haben“, sagt der Kapitän. Die „Nordstjernen“ hat nämlich nur einen Propeller im Heck, Stabilisatoren hat sie nicht nötig. Eine Seitenruderanlage? Fehlanzeige. Deshalb muss in engen Häfen ein Anker geworfen werden, um den sich das Schiff dann um einige Grad dreht, um richtig an der Pier zu landen. Ein Anlegemanöver der besonderen Art, selten geworden. Danan nennt es „Old fashioned seamanship“.

Darum ging es auch vor einigen Tagen weit nördlich des Polarkreises, bevor wir zustiegen. Dort lief die „Nordstjernen“ offenbar in schweres Fahrwasser. Ein Orkan legte nach dem Beginn der Rücktour von Kirkenes so richtig los, südlich von Havöysund: Der Wind wehte mit 34 Meter pro Sekunde. Alles was nicht angebunden war, flog herum. „Einigen ging es sehr, sehr schlecht“, sagt Heike aus Braunschweig. Sie ist zum ersten Mal in ihrem Leben auf einem Schiff unterwegs. Die Reise mit dem Postschiff war schon immer ihr Traum. Sie wurde jedoch zu ihrer eigenen Überraschung überhaupt nicht seekrank. Lediglich über das Hin- und Herrollen im Bett sei sie erstaunt gewesen. „Ich habe festgestellt, dass ich seefest bin – die wettermäßigen Ereignisse hier an Bord habe ich als Abenteuer erlebt.“

Ihr Freund Franz sieht das anders. Seit der Orkanfahrt wisse er nicht mehr recht, was er von dem Oldtimer im Vergleich mit den neuen Hurtigruten-Schiffen halten solle, sagt er. „Die Nostalgie ist teuer erkauft durch Komfortverlust. Es ist, als wenn jemand davon schwärmt, heute mit einem 56er Käfer ohne synchronisiertes Getriebe über die Alpen zu fahren. Die Ausstattung auf der „Nordstjernen“ ist schon sehr spartanisch.“ Und Franz legt noch nach: „Durch die Panoramafenster auf den modernen Schiffen kann man die Landschaft doch ganz anders genießen!“ An die frische Luft gehen durfte während des Orkans verständlicherweise niemand, die Brecher hätten jeden über Bord gespült. „Mit Windstärke 12 auf der ,Nordstjernen‘ am Rand der Barentssee zu fahren, das war schon eine besondere Erfahrung“, sagt Passagier Alfred Jacobsen. Für die Orkanfahrt gibt es ein vom Kapitän unterschriebenes „Sturmzertifikat“.

Alles läuft nach Plan

Kunst an Bord. Die Emaillereliefs im Salon der "Nordstjernen" schuf 1956 der Maler und Grafiker Paul René Gauguin.
Kunst an Bord. Die Emaillereliefs im Salon der "Nordstjernen" schuf 1956 der Maler und Grafiker Paul René Gauguin.

© Reinhart Bünger

An Land ist – neben der noch im Frühjahr winterlichen Kulisse auf Höhe des Polarkreises – gelegentlich durchaus auch Überraschendes zu sehen. So können Passagiere etwa auf Trondenes eine zweifelhafte Sehenswürdigkeit besuchen: die letzte in Norwegen verbliebene und noch voll funktionsfähige sogenannte Adolf-Kanone, benannt nach dem „Führer“. Mit vier Geschützen dieser Bauart sollten die deutsche „Atlantikfestung“ gesichert und die Erzverladestadt Narvik erobert werden. Es wurde bekanntlich nichts draus. Nach dem Ausflug und der Besichtigung dieses furchteinflößenden Geschützes (Reichweite rund 18 Kilometer) gelangen die Passagiere mit dem Bus schließlich nach Harstadt und wieder an Bord.

Hurtigruten-Schiffe sind – von seltenen Pannen abgesehen – notorisch pünktlich. Wichtig ist, dass die Schiffe nach einer Reparatur im richtigen Hafen wieder im Takt einsetzen, damit der Fahrplan nicht durcheinanderkommt. Die Schiffe laufen täglich 34 Häfen an, und sie waren früher allein als Transportmittel für Fracht und Fähre für die Einheimischen gedacht, die von Ort zu Ort kommen wollten – oder mussten. Das ständige An- und Ablegen auf einer Rundreise Bergen–Kirkenes–Bergen, dieser Wechsel von Aufbruch und Ankommen, macht heute für viele Touristen den eigentlichen Reiz der Reise aus. Je kleiner die Häfen, desto mehr Menschen erwarten das Anlegen der Linienschiffe. Dieses Mal stehen viele Familien mit Fähnchen schwenkenden Kindern an Land. Als wir Kristiansund verlassen und an den großen Ankersetzschiffen der Ölplattformen vorbeiziehen, steht ein einsamer Tubaspieler auf der Mole und tutet sein letztes „Farvel“, Lebewohl.

Nach dem Abendessen trifft sich die Bordgesellschaft im Salon. Viele Deutsche,  die bedeutendste Klientel der Hurtigruten. Darunter wahre Fans. Marion Arm zum Beispiel hat sogar eine Drehscheibe entwickelt, der genau zu entnehmen ist, wann und wo sich Hurtigruten-Schiffe begegnen.

110 000 Touristen genießen in jedem Jahr die gesamte Tour an Bord – ein Mal gen Norden und wieder zurück. Die Hälfte von ihnen sind Deutsche. 300 000 Reisende sind hingegen nur für einen oder zwei Tage an Bord – vor allem Norweger. Sie wollen nur von A nach B, um dort jemanden zu besuchen oder etwas Geschäftliches zu erledigen. Die „Nordstjernen“ ist aus Sicherheitsgründen schon seit Jahren von rollenden Lasten befreit. Güter des täglichen Bedarfs und Ersatzteile aller Art sind die am meisten gen Norden transportierten Güter, auf der Route südwärts ist es vor allem Fisch.

Auch in Rovik begrüßt eine Blaskapelle das Schiff. Doch hier liegt anscheinend besonders viel Wehmut in der Luft. Ein Hurtigruten-Dampfer lief hier erstmalig am 2. Juni 1893 ein – das Datum markiert in Rovik seitdem einen Feiertag. Als wir wieder auslaufen, geben Autofahrer mit ihren Lichthupen der „Nordstjernen“ letzte Signale mit auf die Reise, während die Musiker schon die Instrumente einpacken. Die Zeit läuft bei der Ankunft in Bergen noch einmal ganz langsam: Kleine Fahrt voraus. Die „Finnmarken“, Baujahr 2002, läuft parallel mit in den Hafen ein. Sie wird die Fahrten der „Nordstjernen“ übernehmen. Ein letztes Anlegemanöver. Der Rest ist Geschichte.

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