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Treue Gemeinschaft. Kleinteilige Landwirtschaft prägt die dünn besiedelte Region im Südosten Polens. Manch ein Bauer besitzt nur ein, zwei Kühe. Foto: Caro/Bastian

© Caro / Bastian

Polnische Waldkarpaten (Bieszczady): Auf der Dorfstraße kullern Murmeln

Holzkirchen, Heiligenbilder und immer wieder Störche: Mit dem Fahrrad im Dreiländereck Polen, Ukraine, Slowakei.

Wer besitzt den Schlüssel zur Kirche von Smolnik? Angeblich die Bewohner von Haus Nummer 18. Das sei direkt hinter der Kirche, sagt die Verkäuferin aus dem Dorfladen, die ein paar Jahre in London gelebt hat. Was für ein Gegensatz muss das zu diesem südpolnischen Langdorf im Dreiländereck von Ukraine, Slowakei und Polen gewesen sein. Friedlich liegt es gebettet zwischen grünen Hügel, ein Flüsschen plätschert vorüber. Eine Kurve nach der anderen sind wir mit dem Fahrrad gefahren – rechts und links Bauernhäuser, kaum Autos auf der schmalen Straße. Sicherheitshalber schreibt die hilfsbereite Frau einen Zettel auf Polnisch: Der Schlüssel solle uns ausgehändigt werden, weil wir die „Ikonostase“, eine Reihe von Heiligenbildern über dem Altar, besichtigen möchten.

Ukrainischstämmige Boiken und Lemken brachten die Kunst der Ikonenmalerei bereits im Spätmittelalter hierher in die Waldkarpaten. Nach der Union von Brest 1596 unterwarfen sie sich dem Papst, indem sie zum griechisch-katholischen Glauben übertraten. Die orthodoxe Liturgie behielten sie allerdings bei und hinterließen in den Waldkarpaten 59 noch erhaltene Holzkirchen mit orientalisch verschachtelten Dächern und geschwungenen Zwiebelkuppeln.

Rund um die ausnahmsweise aus Stein erbaute griechisch-katholische Kirche von Smolnik befindet sich eindeutig kein Haus mit der Nummer 18 – während der Suche folgen uns die interessierten Blicke einiger Bauern. Die Oma mit dem fröhlichen Gesicht aus Nummer 26 ist unsere letzte Hoffnung. Sie hat den Schlüssel zwar auch nicht, steigt aber sofort in ihre Gummistiefel und winkt draußen gebieterisch einen Mann heran. An einem lila Wollfaden zieht er den kleinen Schlüssel aus der Tasche.

Polat, so stellt er sich vor, begleitet uns zu der über zweihundert Jahre alten Kirche, von deren Türmen die orthodoxen Kreuze der Erbauer grüßen, während auf den Gräbern katholische Kreuze zu sehen sind – ein weiterer Hinweis auf die wechselvolle und keinesfalls immer glückliche Geschichte dieser Vorgebirgslandschaft, die bis 1918 zum Königreich Galizien gehörte: Nach den Kämpfen mit Aufständischen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den Waldkarpaten einen ukrainischen Nationalstaat errichten wollten, zwang die polnische Regierung 1947 nahezu alle Boiken und Lemken, die Region zu verlassen. 35 000 Menschen mussten im Rahmen dieser „Aktion Weichsel“ genannten Deportation von heute auf morgen Heim und Hof aufgeben. Ihre 155 Gotteshäuser verfielen, den Rest verleibte sich bis auf acht die katholische Kirche ein. Unter fremden Kreuzen wird dort bis heute die Messe gelesen.

Kühe, Pferde und Ziegen stehen auf den hügeligen Weiden ringsum, Störche untersuchen den noch nicht kaputtgedüngten Boden auf Würmer und Frösche. Ein Kleinstbauer spaziert einträchtig mit seiner einzigen Kuh nach Hause. Berührungsängste mit den Reisenden, die sich über diese Bilderbuchidylle freuen, kennt er nicht – schließlich hat er früher sogar jahrelang in Leipzig gearbeitet: „Das war eine schlimme Zeit nach dem Krieg. Ich bin nach Kaschubien im Norden Polens deportiert worden. Aber später bin ich zurückgekommen“, sagt er lachend.

Stadtmüde Aussteiger zieht es in die Waldkarpaten

Gottgeweiht. Die orthodoxe Kirche des Hl. Erzengels Michael im Dorf Turzańsk wurde 1801–1803 erbaut.
Gottgeweiht. Die orthodoxe Kirche des Hl. Erzengels Michael im Dorf Turzańsk wurde 1801–1803 erbaut.

© Caro

Mit dem Dorf endet auch der Asphalt, und wir radeln auf einer Schotterpiste weiter hinein in das idyllische Flusstal der Oslawa. Parallel, oben auf der Autostraße, verläuft die „Ikonenroute“: Auf rund fünfzig Kilometern sind auf dieser Strecke von Radoszyce nahe der slowakisch-polnischen Grenze bis ins Städtchen Sanok die fremdartigen Kirchlein mit ihren Heiligenbildern wie Perlen an einer Schnur aufgereiht.

Unser Abstecher durch das Oslawa-Tal avanciert zu einem kleinen Abenteuer, als wir das erste Mal den Fluss überqueren müssen: Es gibt keine Brücke! Stattdessen wurden dicke Betonquader ausgelegt, die die Oslawa sanft überflutet. Behutsam, in rutschfesten Trekkingsandalen, schieben wir die Räder über die ein wenig glitschigen Steine.

Die mit dichtem Mischwald wie gepolsterten Berge, das harmlos vor sich hinmurmelnde Flüsschen und die Einsamkeit über allem entschädigen sowieso für jegliche Unbilden. Überdies lässt uns ein Schild mit der Aufschrift „Pirogi“ nach knapp zehn Kilometern bremsen. Das nach der Architektur der Lemken aus abwechselnd weiß und braun bemalten Holzbalken erbaute Haus ist die ehemalige Försterei von Preluki. Orla, die Eigentümerin, bringt uns die Piroggen – leckere, mit Buttersoße übergossene Teigtaschen – an den selbst gebauten Gartentisch. Hühner scharren zu unseren Füßen, Rotschwänze jagen einander durch hohes Gras. „Manchmal kommen Hirsche bis in den Garten“, erzählt unsere Gastgeberin auf Englisch. „Einer unserer Nachbarn ist Imker. Letztes Jahr bekam er Besuch von einem Bären, der zerstörte ihm zwei seiner Bienenstöcke.“

Die junge Warschauerin mit den kurzen, dunkelrot gefärbten Haaren bewohnt das Forsthaus mit ihrem Mann und drei Kindern. Stadtmüde Aussteiger wie sie zieht es häufig in die Waldkarpaten, denn eine so ursprüngliche Natur lässt sich sonst wohl selten in Europa finden. Wie auch Orla und ihr Mann finden viele von ihnen im Tourismus eine neue Existenz, vermieten Unterkünfte oder eröffnen ein Café.

Dabei ist, abgesehen vom Urlaubermekka am 1980 künstlich angelegten Solina-Stausee, ein sanfter Tourismus für Wanderer, Radler, Reiter oder Ruhesuchende entstanden. Dass die Bieszczady, wie die Waldkarpaten auf Polnisch heißen, diese Entschleunigung bieten können, liegt natürlich wiederum in ihrer Geschichte begründet: Nach der „Aktion Weichsel“ war die Region nahezu völlig entvölkert, erst in den sechziger Jahren begannen sich dort wieder Menschen anzusiedeln.

Nur wenige Lemken sind nach 1947 geblieben

Hinter Preluki zweigt der Weg bergauf nach Komancza ab, einem zerstreut liegenden Dorf, in dem Lemken 1918 nach dem Zusammenbruch des habsburgischen Reiches die „Republik Komancza“ ausriefen – sie erhofften sich schon damals den Anschluss an die Ukraine, wurden aber von polnischen Truppen überwältigt. Obwohl nach der Zwangsaussiedlung 1947 nur einige lemkische Waldarbeiterfamilien hierbleiben durften, soll der Ort bis heute unter sozialer Spannung zwischen Ukrainern und Polen stehen.

Kinder lassen auf der Dorfstraße ihre Murmeln kullern, in Gärten gedeihen Blumen und Gemüse. Nun wieder der Ikonenroute zu weiteren Sakralbauten mit Ikonostasen folgend radeln wir auf der stillen Autostraße durch das Flusstal Richtung Sanok. Im dortigen Freilichtmuseum können Besucher mehr über die Lebensweise der früher in den Waldkarpaten ansässigen Volksstämme erfahren: Wie an ihren Häusern zu erkennen ist, waren die Lemken wohlhabender als die Boiken, deren mit Stroh gedeckte Katen oft Stube und Stall unter einem Dach beherbergten. Auch in Sprache und Kleidung unterschieden sich beide Gruppen, ebenso wie in der Architektur der Kirchen.

Der siebzig Kilometer lange Rundkurs einer zweiten Ikonenroute, auf der wir durch das bisweilen sehr breite Tal des Flusses San radeln, startet in Sanok. Sie führt uns durch verträumte Dörfer. Am nördlichsten Punkt der Route erreichen wir das im Krieg stark beschädigte Dorf Ulucz. Nur noch wenige Häuser sind übrig geblieben. Zu Fuß geht es steil den Berg hinauf, der Weg nur eine Spur, das Geländer eine Farce. Hier soll die älteste orthodoxe Holzkirche Polens stehen?

Oben lichtet sich der Wald zu einer Wiese, ein uriges Kirchlein mit verwitterten Holzschindeln und einem dreigliedrigen Zeltdach erwartet uns. Es erinnert an die bescheidene, aber gleichzeitig fantasievolle Bauweise der Boiken. Der Eingang rundet sich wie ein riesiges Fass, das Holz duftet eigentümlich süß nach dreihundertfünfzig Jahren Geschichte. Kyrillisch beschriftete Grabkreuze stehen einträchtig neben anderen mit lateinischen Buchstaben: Zwei Ukrainerinnen sind beide 1946, also noch vor der „Aktion Weichsel“, gestorben. Aber die Kreuze auf ihren Gräbern sind neu, als hätte jemand ein Zeichen dafür setzen wollen, dass endgültig Frieden eingekehrt ist zwischen Polen und Ukrainern.

Angelika Wilke

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